Stippvisiten im Jenseits? Über Nahtoderfahrungen und Versuche, sie zu erklären

Die Frage, was passiert, wenn wir sterben, oder wie es ist zu sterben, beschäftigt viele Menschen. Untersuchungen von Nahtoderfahrungen versuchen, Antworten darauf zu finden. Doch wodurch zeichnen sich Nahtoderfahrungen überhaupt aus und zu welchem Ergebnis kommt die Forschung?

Nicht wenige Menschen, die schon einmal ihrem eigenen Tod nahe kamen (etwa bei einem Herzinfarkt, Schlaganfall oder schweren Unfall), erinnern sich an außergewöhnliche Wahrnehmungen und das untrügliche Gefühl, einen kurzen Blick auf das „Danach“ erlangt zu haben. Zumeist bewusstlos, nahmen sie wahr, was um sie herum geschah, spürten, wie sie sich vom eigenen Körper lösten, oder begegneten einem verheißungsvollen Licht. Solche Nahtodberichte finden sich millionenfach, und längst ist das Phänomen in Kunst, Popkultur und den Sozialen Medien angekommen.

Wissenschaftliche Erforschung des Nahtods

Seit geraumer Zeit sind Nahtoderfahrungen (NTE) auch Gegenstand der Wissenschaften. War es zunächst und vor allem die Medizin, die auf das Thema aufmerksam wurde, lässt sich heute ein größeres akademisches Feld und eine regelrechte Nahtod-Forschung ausmachen. Neben Fragen nach der Phänomenologie, Kulturgeschichte und Verbreitung des Phänomens – repräsentative Bevölkerungsstudien ermittelten einen Anteil von ca. fünf Prozent – bildet die größte Herausforderung die Suche nach einer Erklärung, wie (und warum) NTE überhaupt zustande kommen.

Allerdings hat es die Nahtodforschung nicht leicht, schon allein, weil das Phänomen unvorhersehbar auftritt. Eine NTE ist weder planbar noch an Persönlichkeitsmerkmale oder spezifische Diagnosen gebunden, sondern passiert einfach. Bis heute ist wissenschaftlich nicht geklärt, welche Faktoren dazu beitragen, dass manche Menschen NTE hatten (und sich auch daran erinnern!), andere aber nicht. Hinzu kommt, dass NTE auch in nicht lebensbedrohlichen Situationen vorkommen: während epileptischer Anfälle, unter Drogeneinfluss oder innerhalb tiefer Meditationen. Manchmal reicht bereits der rein subjektiv empfundene Eindruck von Lebensgefahr für eine NTE, etwa bei einem Nur-beinahe-Zusammenstoß im Straßenverkehr.

Interessanterweise gibt es jedoch kaum Unterschiede, was die Inhalte und Tiefe von verschiedenen NTE betrifft. Folglich kann der Nahtodbegriff in die Irre führen, denn nicht alle Betroffenen waren in echter Todesnähe oder tatsächlich klinisch tot. Nicht zuletzt und ganz grundsätzlich ist die Untersuchung von NTE auch insofern schwierig, als sie sich von außen nicht beobachten lassen. Die Forschung ist auf indirekte Körpersignale, subjektive Erinnerungen und retrospektive Berichte angewiesen. Auch experimentell ist die Situation schwierig, denn die zumeist lebensbedrohlichen Umstände machen über die Reanimation oder akute Behandlung hinausgehende Experimente oder Messungen an Patienten forschungsethisch unvertretbar. Kurzum: Die Nahtodforschung steht vor vielen Schwierigkeiten.

Gleichwohl mangelt es nicht an Erklärungsversuchen und wissenschaftlichen Studien, wobei zwei Grundpositionen unterscheidbar sind: Ein (nennen wir es hier) „Gehirnlager“, das die NTE zu einer rein neurobiologischen Angelegenheit erklärt, sowie ein Lager „körperunabhängiges Bewusstsein“, das Spekulationen über außersinnliche Wahrnehmungen zulässt.

Können Prozesse im Gehirn Nahtoderfahrungen erklären?

Sortieren wir diese beiden Grundpositionen und befragen sie nach ihrer Anschlussfähigkeit an wissenschaftliche Diskurse, ergibt sich folgendes Bild: Was das Gehirnlager betrifft, vertreten etwa durch Neuro-, Kognitions- und Bewusstseinswissenschaften, wird die NTE als weitgehend durch Gehirnaktivitäten erklärbar erachtet. Erkenntnistheoretischer Hintergrund ist die naturalistische Leitidee der kognitiven Neurowissenschaften, wonach mentale Phänomene (Sprache, Körper-, Zeit- und Raumempfinden, Emotionen, Erinnerungsvermögen etc.) ausschließlich in Zusammenhang mit Hirnprozessen auftreten bzw. von intakten Hirnfunktionen abhängen. Wenn Menschen sich nach ihrer Todesnähe an bewusste Wahrnehmungen erinnern, ist dies also auf offensichtlich (noch intakte oder stressbedingt gesteigerte) Hirnaktivität zurückführbar.

Von vielen Wissenschaftlern wird die NTE als durch Gehirnaktivitäten erklärbar erachtet.

Innerhalb dieser Großthese lassen sich etliche (unterschiedliche als auch ergänzende) Erklärungsansätze ausmachen. Dazu zählen beispielsweise Sauerstoffmangel und die daraus folgende Unterversorgung des Organismus, die Rolle von Dopamin und anderen Botenstoffen, die die Nervenzellen des Gehirns (wahlweise zu viel oder ungenügend) aktivieren, und nicht zuletzt der kritische Zustand des Gehirns selbst unter dem physiologischen und mentalen Stress eines lebensbedrohlichen Zustands. Klar ist: Wird das Gehirn nicht ausreichend mit Blut und Sauerstoff versorgt, stehen seine Zellen unter Stress. Die Folge: Der Stoffwechsel verändert sich, die Elektrik der Zellen gerät durcheinander, Neuronen feuern, Neurotransmitter verursachen überbordende Hirnaktivität, Signale werden nicht mehr richtig übertragen. Jene „Fehlschaltungen“ können dann – so die Grundthese – die bekannten Nahtodwahrnehmungen auslösen: helle und/oder dunkle Licht- und Formillusionen aufgrund fehlgedeuteter Signale des Sehzentrums, euphorische Gefühle aufgrund erhöhter Botenstoffe, außerkörperliche Erfahrungen als hirnorganisches Dissoziationsphänomen. Zuletzt war vermehrt von sogenannten Gammawellen die Rede, weil EEG-Messungen von Herzstillstandpatienten gezeigt haben, dass deren Hirnaktivität nicht einfach abflachte, sondern eine kurze Phase verstärkter Gammawellen-Aktivität feststellbar war, die gemeinhin höchst lebendige Erfahrungen verursacht. Da keine dieser Personen überlebte, ist allerdings nicht verifizierbar, ob jene Hyperaktivität tatsächlich mit bewussten Wahrnehmungen verbunden war und die Idee für die NTE übertragbar ist.

Überhaupt müssen wir feststellen, dass trotz dieser durchaus interessanten und ernstgemeinten Versuche bislang kein einziges Experiment das Zeitfenster einer NTE, ihre vollständige Phänomenologie und schon gar nicht das untrüglich mystische Gefühl dieser Sterbeerfahrungen aufklären konnte – ganz abgesehen von den beobachtbaren interindividuellen Varianzen, denn bekanntermaßen führen mehr oder weniger identische Situationen zu recht unterschiedlichen Wahrnehmungen. Auch wenn sich bestimmte wiederkehrende Motive und strukturelle Gemeinsamkeiten ausmachen lassen, scheint es die eine NTE nicht zu geben. Dort wo etliche Betroffene ein helles Licht sehen, sichten andere dunkle Landschaften, und auch das selig machende Glücksgefühl ist kein Alleinstellungsmerkmal von NTE. Ein nicht zu vernachlässigender Teil der Berichte entspricht nämlich einem durchaus negativen Grundtenor, begleitet von Todesangst und Panikattacken der Betroffenen.

Allen Lücken, Widersprüchen und pathologisierenden Tendenzen zum Trotz ist die Dominanz des „Gehirnlagers“ im wissenschaftlichen Diskurs dennoch unübersehbar. Vor dem Hintergrund der epistemischen Dominanz der „Gehirnhypothese“ und dem enormen Ausbau der Hirnforschung repräsentieren solche naturalistischen Erklärungen zweifellos den wissenschaftlichen Mainstream.

Nahtoderfahrungen und die Frage nach der Existenz einer Seele

Andere Wissenschaftler formulieren Zweifel an solchen rein naturalistischen Deutungen, was uns zum Lager „gehirnunabhängiges Bewusstsein“ führt. Das, was sich für die einen als reine Funktionsstörung oder Halluzination darstellt, empfinden diese Vertreter als überzeugenden Erfahrungsbeweis für die Idee einer körperlosen und gehirnunabhängigen „Seele“. Die Alternativhypothese lautet, dass der Beweis, dass unser Bewusstsein und insofern auch unsere Wahrnehmungen an das Gehirnorgan gebunden seien, die Frage nach dem Sitz des Bewusstseins überhaupt, noch aussteht. Und zeigen nicht gerade die geistig klaren Wahrnehmungen und paranormalen Begegnungen im (bewusstlosen) Zeitfenster zwischen klinischem Tod und Reanimation, dass es offensichtlich mentale Phänomene und geistig-seelische Zustände gibt, die sich nicht ohne weiteres auf Hirnaktivität und neuronale Korrelate zurückführen lassen? Was spricht also gegen die Idee, dass unser Bewusstsein unabhängig vom Körper existiert und im Zweifel auch den Tod des Körpers überleben und (endlos) fortbestehen kann?

Ein Bewusstsein, das unabhängig vom Körper existiert und auch den Tod überleben kann.

In diesem Zusammenhang wird vor allem den außerkörperlichen Erfahrungen während NTE ein wissenschaftlicher Wert zugeschrieben. Daten bzw. nachprüfbare Details, die zeigen, dass Menschen nach außerkörperlichen Erfahrungen über Wissen verfügen, das sie nur durch Verlassen ihres Körpers erworben haben können, könnten bestätigen, dass sie ihren Körper auch tatsächlich verlassen haben und dass außersinnliche Wahrnehmungen stattfinden. Medizinische Versuchsanlagen, wie sie etwa die AWARE-Studie erprobte, befeuern zwar die Wissenschaftlichkeit dieses Spezialdiskurses – allein: die Befunde sind enttäuschend.

Eine dritte Perspektive

Also unentschieden? Ich persönlich finde diese Kontingenz gar nicht schlimm. Für mich als Soziologin greift die Frage nach der „Natur“ der NTE ohnehin zu kurz, und ich plädiere dafür, Perspektiven und Positionen zu erweitern. Denn liegt nicht das eigentliche Potential der NTE darin, dass sie die Unsicherheiten und Hoffnungen widerspiegeln, die Menschen (auch Wissenschaftler!) jenseits biologischer Mechanismen mit ihrem vergänglichen Ende verbinden?

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar