Die andere Seite der Wirklichkeit Jenseitsvorstellungen und Transzendenzerfahrungen

Das Jenseits ist als transzendente Kehrseite des „Diesseits“ immer schon gegenwärtig – ein eigener Teil der Wirklichkeit, der uns nicht durch wissenschaftliche Empirie, sondern allenfalls durch metaphysische Sensibilität zugänglich ist. Die Vorstellungen darüber sind so vielfältig wie unsicher.

Vom Jenseits wissen wir genau: Nichts! Trotzdem haben Menschen von jeher eine Ahnung entwickelt, dass es eine Sphäre der Wirklichkeit geben könnte, die unsere täglich erfahrene Welt übersteigt, die zugleich mit ihr existiert, aber so von ihr getrennt ist, dass sie uns nicht direkt zugänglich ist. Dieses „Jenseits“ ist seit Jahrtausenden in allen Kulturen Gegenstand von Fantasien und Spekulationen. In allen Weltreligionen wie auch in vielen neureligiösen und esoterischen Bewegungen spielt es eine zentrale Rolle. Die Geistesgeschichte ist voll von Versuchen, es philosophisch oder theologisch zu fassen, die Religionsgeschichte von Praktiken, einen Zugang dazu zu finden – ob durch Gebet, Meditation und mystische Versenkung oder mittels göttlicher Erleuchtung bzw. Offenbarung. Dabei sind Jenseitsvorstellungen vor allem im Zusammenhang mit drei verschiedenen (Be-)Reichen wichtig, die im Folgenden beleuchtet werden.

1. Das Reich des Himmels

Wer in einer sternklaren Nacht den Blick nach oben wendet, kann sich dem faszinierenden Eindruck kaum entziehen: Milliarden von Sternen in der unendlichen Weite des Weltraums! Eine unfassbare Dimension des Raumes, die unser Vorstellungsvermögen auf die Probe stellt. Viele Menschen empfinden in dieser Situation so etwas wie eine Begegnung mit dem Unendlichen. So winzig wir uns unter dem bestirnten Himmel fühlen, so sehr kann das Universum als Werk einer größeren Macht erscheinen, die sich darin für uns zu erkennen gibt. Zugleich liegt angesichts der Weiten des Universums die Möglichkeit eines „Jenseits“ sozusagen direkt vor Augen: Was alles verbirgt sich da oben? Gibt es dort noch eine andere, ganz eigene Welt?

Erfahrungen wie diese bilden bis heute einen Keim von Transzendenzvorstellungen. Sie wecken den Gedanken, dass die uns empirisch zugängliche Wirklichkeit möglicherweise nicht alles ist, was existiert, sondern dass es darüber hinaus noch andere Sphären gibt, von denen wir nur in solchen besonderen Momenten eine Ahnung erhaschen. Zugleich nähren sie bestimmte Vorstellungen von solchen Sphären, die sich nicht zufällig mit den Räumen dieser Erfahrungen verbinden. So gilt in der religiösen Vorstellungswelt vieler Kulturen der „Himmel“ als die von der irdischen Welt getrennte göttliche Sphäre. Denn der Himmel ist als Ort anschaubarer Unendlichkeit eben eine Chiffre für den Raum des Unendlichen, Unbedingten und Ewigen überhaupt. Zudem rührt diese Verbindung daher, dass man in agrarischen Gesellschaften dem „Himmel“ mit Sonne und Regen die Fruchtbarkeit des Landes und damit letztlich das Leben verdankte und dies ebenfalls Gott zuschrieb.

Auch die Bibel spricht an vielen Stellen bildhaft vom „Himmel“ als dem „Wohnort“ Gottes (z.B. Psalm 2,4), und Jesus selbst lehrt im Vaterunser die Anrede Gottes als „Vater im Himmel“ (Matthäus 6,9). Bis heute ist diese Vorstellung wirkungsmächtig, denn wer vom Himmel redet, erreicht die Herzen. Allerdings lässt das naturwissenschaftliche Weltbild unserer Tage für den „Himmel“ im religiösen Sinne kaum noch Platz (vgl. das „Stichwort“ zum Thema Kosmologie von Winfried Dressler auf S. 11). Gleichzeitig droht eine Theologie, die den „Himmel“ als Chiffre für die Transzendenz Gottes aufgibt und Gott nur noch auf Erden, z.B. in menschlicher Nächstenliebe verortet, innerlich auszubluten. Sie steht in der Gefahr, sich in Ethik aufzulösen, und kann jederzeit durch eine – wie auch immer begründete – weltliche Lehre von den guten Werken ersetzt werden.

Wer vom Himmel redet, erreicht die Herzen.

Es geht aber im Kern des Christentums nicht um moralisch korrektes oder ethisch unangreifbares Verhalten, sondern um die von Gott gewährte Gnade. Diese wiederum verdankt sich gerade keiner menschlichen Kraft oder irdischen Macht, sondern kommt dem Menschen unerwartet und unverdient „wie aus dem Nichts“ von Gott selbst zu. Der „Himmel“ als ein dem Zugriff der Menschen entzogener „Wohnort“ Gottes symbolisiert diese Unverfügbarkeit. Vom „Himmel“ als Ort Gottes zu sprechen, bedeutet deshalb nicht, Gott als weltfern oder weltabgewandt zu beschreiben, sondern achtet die Jenseitigkeit und Unbedingtheit Gottes, aus der heraus er sich uns zuwendet.

2. Das Reich der Toten

„Mama, wo ist Opa jetzt?“ – Wer schon einmal auf die Frage eines Kindes nach einem Todesfall antworten musste, weiß, wie schwierig das sein kann: Im Himmel? In der Ewigkeit? Bei Gott? – Was nach dem Tod kommt, ist für die Menschen seit jeher ein Geheimnis. Ist damit alles aus? Oder gibt es einen Ort, an dem die Verstorbenen nach ihrem Tode weiter existieren? Offensichtlich ist dies nicht nur eine metaphysische, sondern auch eine existenzielle Frage. Denn die Antwort prägt nicht nur unsere Vorstellungen über das Dasein der Toten, sondern bestimmt auch das Bild von unserem eigenen Tod.

Von Transzendenzerfahrungen im Zusammenhang mit dem Tod wird vielfach im Rahmen von Nahtod-Erlebnissen berichtet. Die Betroffenen erzählen, sie hätten dabei sozusagen bereits einen „Blick ins Jenseits“ werfen können. So strittig die Erklärungen dafür sind (vgl. den folgenden Beitrag von Ina Schmied-Knittel), so verständlich ist es, dass Menschen Grenzerlebnisse dieser Art als Transzendenzerfahrungen, als Begegnungen mit dem Unendlichen deuten. Verlässlichen Aufschluss über ein Weiterleben nach dem Tode geben sie allerdings nicht.

In der Antike war die Vorstellung von einem Reich in der Unterwelt (griech: Hades) bestimmend, in dem die Toten versammelt wurden. Auch die Bibel kennt diesen Gedanken, im hebräischen Alten Testament wird dieses Reich „Scheol“ genannt. Dort existierten die Toten in ewiger Dunkelheit wie in einem Verließ (vgl. Hiob 7,9; 10,21f.). Diese Unterwelt ist sozusagen die andere Seite des Jenseits – nicht die göttliche, denn auch Gott ist in dieser Sphäre fern (vgl. Psalm 88,11-2; Jesaja 38,18), sondern die eines anderen Herrschers, nämlich des Todes, der als Gegenmacht zu Gott gedacht wird.

Transzendenzerfahrungen in der Begegnung mit dieser Sphäre werden in der Bibel als magisch-mantische Praktiken wie z.B. Totenbefragung/-beschwörung (5. Mose 18,11; 1. Samuel 28) beschrieben und verworfen. In spiritistischen Kreisen wird bis heute versucht, mit Verstorbenen in dieser Sphäre Kontakt aufzunehmen. Dem Christentum ist dies fremd. Zwar kennt auch das Neue Testament die Formulierung, dass die Toten „entschlafen“ sind (1. Korinther 15); damit ist aber nicht ein Zwischenzustand gemeint, in dem sie bis zur Auferweckung durch Gott am „Jüngsten Tage“ weiterleben würden (auch wenn in der späteren Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte solche Vorstellungen bis hin zur Lehre vom Fegefeuer breit ausgemalt wurden). Prägend ist für die biblische Sicht vielmehr, dass die Toten wirklich tot und damit auch jedem menschlichen Kontakt entzogen sind.

Das Reich des Todes ist deshalb auch kein Raum für menschliche Transzendenzerfahrungen. Ebenso ist das Weiterleben einer unsterblichen Seele der Bibel fremd, so wirkungsmächtig dieser Gedanke aus der griechischen Philosophie auch in die christliche Vorstellungswelt späterer Jahrhunderte eingedrungen ist. Dass die Toten wirklich tot sind, gilt im Übrigen auch für Jesus, der eben nicht vom Kreuz „entrückt“ wurde, sondern wie alle anderen Toten „hinabgestiegen in das Reich des Todes“, d.h. tatsächlich dem Tod anheimgefallen ist.

3. Das kommende Reich Gottes

Neben dem eigenen Ende beschäftigt die Menschen seit jeher die Frage nach dem Ende der Welt. Geht das alles immer so weiter oder läuft die Welt auf ein Ziel zu? Wenn am Anfang der „Urknall“ stand, wird dann am Ende irgendwann alles wieder in sich zusammenfallen? Oder geht die Welt vielleicht schon vorher durch menschliches Versagen unter? – Apokalyptische Vorstellungen haben in unserer Zeit nicht weniger Konjunktur als in neutestamentlichen Tagen. Und ebenso wie damals laufen sie auch heute auf die Frage zu, was ggf. nach dem absehbaren Ende kommen wird. Gibt es ein „Jenseits“ nach dem Untergang der Welt?

Gibt es ein „Jenseits“ nach dem Untergang der Welt?

Nach christlichem Glauben liegt das Ende der Welt in Gottes Hand und fällt zusammen mit der Vollendung seines Reiches. Zu dieser Vollendung gehört, dass Gott die Verstorbenen auferweckt (vgl. 1. Thessalonicher 4,13-17), so wie Jesus als „Erstling unter denen, die entschlafen sind“ (1. Korinther 15,20) von ihm bereits auferweckt wurde. Genau wie Jesus erhalten die Auferstandenen einen neuen, unvergänglichen Leib (vgl. 1. Korinther 15,35ff.) und das Geschenk des „ewigen Lebens“ (Römer 6,23). „Ewig“ meint dabei nicht einfach unendliche zeitliche Dauer, sondern ein Dasein in Gottes Gegenwart, das außerhalb der vernichtenden Macht des Todes und jenseits der Dimension menschlicher/irdischer Zeit liegt.

Gottes kommendes Reich ist also kein jenseitiger Raum, in den die Menschen am Ende der Zeit versetzt werden, sondern es meint den auf sie zukommenden Gott selbst – und zwar so, wie er sich in seinem Wirken an und durch Jesus bereits gezeigt hat: als Überwinder des Todes, gnädiger Richter und Spender neuen Lebens. Dies gilt nicht nur für die Verstorbenen oder erst am Ende der Zeit, sondern auch hier und heute. Der Philosoph und Religionskritiker Ludwig Feuerbach forderte 1848 in seinen Vorlesungen über das Wesen der Religion, dass die Menschen „aus Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits“ werden sollten. Daran ist zweifellos richtig, dass sich Christen im Bewusstsein ihrer Verantwortung auch für das Diesseits, also für die Zukunft der irdischen Welt und menschliches Wohlergehen einsetzen sollen. Zugleich aber kann die von Feuerbach aufgestellte These für sie keine Alternative sein. Denn gute „Studenten“ – oder vielleicht besser noch: segensreiche Gestalter des Diesseits können Christen nach eigenem Verständnis eben nur sein, wenn sie zugleich treue „Kandidaten des Jenseits“ bleiben. Dieses „Jenseits“, das die Bibel „Ewigkeit“ nennt, ist dabei nichts, worauf wir noch (lange) warten müssten. Es steht vielmehr schon heute jedem offen und bricht auch im Wirken von Christen in unsere Zeit herein: Wer Gott begegnet und von ihm gnädig berührt wird, findet sich mittendrin wieder.

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