„An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona“ Einsamkeit in der Single-Gesellschaft

Seit Corona ist Einsamkeit kein Tabu mehr. Die Pandemie legte offen, woran das Gemeinwesen schon länger erkrankt war. Das neoliberale Ideal, allein und selbstbestimmt zu leben, hat eine dunkle Kehrseite.

Der klar und verlässlich gezeichnete Rahmen, in dem Menschen über Jahrhunderte zusammen gelebt haben, hat sich aufgelöst – das gilt für Geschlechterrollen wie Familienbilder, für Biografien wie Berufswege. Viele wechseln Wohnort und Arbeitsplatz, aber auch Familienkonstellation und Lebensform mehrfach im Leben. Mit Mobilität und Digitalisierung haben wir zusätzliche Freiheit gewonnen – aber mit der Freiheit auch neue Unsicherheit. Wir haben die Möglichkeit, unsere Persönlichkeit zu entwickeln – aber wir leben jede und jeder in unserer eigenen Welt, in der „Gesellschaft der Singularitäten“ (so ein Buchtitel von Andreas Reckwitz, Suhrkamp, 2021).

Allein und selbstbestimmt

Nach einer Studie aus dem Jahr 2018 gibt es in Deutschland 16,8 Millionen Alleinstehende zwischen 18 und 65 Jahren – das sind immerhin 30 Prozent der Frauen und Männer im mittleren Alter. Allein und selbstbestimmt zu leben, entspricht den Idealen der neoliberalen Gesellschaft: Singles, die jederzeit ihre Zelte abbrechen und mit der Arbeit an neue Orte ziehen können, spiegeln die Veränderungen der Arbeitsmärkte. In den 1990er- und frühen 2000er-Jahren wurde das Leitbild der jungen Singlefrau auch von TV-Serien wie „Sex and the City“ propagiert. In der Wirtschaft entstand ein spezieller Markt für Reisen, Wellness, Sport und Lifestyle.

Menschen, die häufig umziehen oder auch pendeln, verlieren allerdings die alltägliche soziale Einbettung in Familie und Nachbarschaft. Während sich die Anzahl unserer Kontakte – nicht nur virtuell – vervielfacht hat, schrumpft die Zahl der lebenslangen, engen Freunde. Problematisch wird das besonders für Familien mit kleinen Kindern, für alte oder kranke Menschen, deren Anteil an der Gesamtbevölkerung mit dem demografischen Wandel wächst. Sie geraten bei der Bewältigung des Alltags enorm unter Druck, wenn sie nicht auf die selbstverständliche Hilfe von Angehörigen zurückgreifen können. Immerhin fast 40 Prozent der über 75-Jährigen leben allein – und nur ein Viertel von ihnen haben erwachsene Kinder am gleichen Ort. In einer Studie der Universität Frankfurt gaben fast 20 Prozent der befragten 70- bis 89-Jährigen an, in der Woche zuvor ihre Wohnung kaum verlassen zu haben.

Verletzlich und angewiesen

Dass zum Menschsein nicht nur der Wunsch nach Unabhängigkeit und Eigenständigkeit gehört, sondern eben auch Verletzlichkeit und Angewiesenheit, wurde in der Pandemie für alle deutlich (vgl. das Positionspapier von Barbara Thiessen u.a.: „Großputz! Care nach Corona neu gestalten“. care-macht-mehr.com/manifest-2020). Plötzlich fehlten die Großeltern, die sonst einspringen, wenn das labile Gleichgewicht des Alltags aus dem Tritt gerät. Oder die pflege- und hilfebedürftigen Eltern waren zu weit weg, um unter Corona-Bedingungen kurz nach ihnen zu schauen. Gemeinsame Weihnachtsfeiern fielen aus, Familienfeste wurden verschoben. Die studierenden Kinder im Ausland konnten nicht mehr kommen, Kolleg*innen sahen sich nur noch über die bekannten „Kacheln“ und selbst nahe Freund*innen durften sich nicht mehr umarmen. Schon vor Corona hatte die Journalistin Elisabeth von Thadden beobachtet, dass Berührung für viele längst nicht mehr selbstverständlich ist (Die berührungslose Gesellschaft, C.H. Beck, 2018). Wer ohne Partner*in lebt und keine kleinen Kinder hat, wer im Alter allein ist, bekommt die nötigen Streicheleinheiten vielleicht nur noch in der Wellnessmassage oder bei einem Haustier. Und die wurden in der Pandemie in Scharen aus den Tierheimen geholt – und anschließend oft zurückgegeben.

Anwachsen der Einsamkeit durch Corona

Seit Corona ist Einsamkeit kein Tabu mehr. Ergebnisse des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP), das regelmäßig vom  Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung herausgegeben wird, zeigten für die Jahre 2013 und 2017, dass ungefähr 14 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen zumindest manchmal einsam waren. Das betrifft nicht nur Alleinlebende: Ca. 60 Prozent aller US-Bürger, die sich einsam fühlen, lebten in einer festen Beziehung. Junge Mütter in Elternzeit kennen diese Erfahrung. Während der Corona-Pandemie aber zeigten Studien einen deutlichen Anstieg von Einsamkeitsgefühlen in der Bevölkerung. So gaben im SOEP 2021 rund 42 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen an, sich einsam zu fühlen. Und auch wenn Einsamkeit kein spezifisches Problem von Singles ist – die Alleinlebenden waren besonders betroffen (vgl. die repräsentative Studie aus dem Jahr 2019 von Splendid Research „Wie einsam fühlen sich die Deutschen?“,  www.splendid-research.com/de/studie-einsamkeit.html). „Ich habe in den ersten Wochen der Corona-Zeit das Alleinsein als besondere Last empfunden, viel schwerer und niederdrückender als vorher. Ich habe vermisst, dass jemand mich umarmt oder mir die Hand gibt“, schreibt eine Witwe. „An Einsamkeit stirbt man bloß länger als an Corona“, sagt Elke Schilling, die den Telefondienst „Silbernetz“ – gemeinsam gegen Einsamkeit im Alter – gegründet hat (www.silbernetz.org).

2021 gaben rund 42 Prozent der in Deutschland lebenden Menschen an, sich einsam zu fühlen.

Entdeckung der Sorgekräfte

Corona lege offen, woran das Gemeinwesen schon länger erkrankt sei, meint Diana Kinnert. Sie hat eines der vielen aktuellen Bücher über die „neue Einsamkeit“ geschrieben (Die neue Einsamkeit. Hoffmann und Campe, 2021). Die alten Strukturen der Begegnungen seien verbraucht, menschliche Beziehungen flüchtig geworden, meint sie. Die Unverbindlichkeit, die unsere Gegenwart prägt, macht es auch jungen Menschen schwer, an einem Ort „anzukommen“. Dabei sind es vor allem die Übergangssituationen – Ortswechsel, Trennungen, Neuanfänge – die uns besonders anfällig für Einsamkeit machen. Der Weg hinaus, schreibt die britische Ökonomin Noreena Hertz, führe über wechselseitige Unterstützung. „Maßgeblich ist, dass Menschen sich nicht nur umsorgt fühlen und umsorgt sind, sondern dass sie auch Gelegenheit haben, für andere zu sorgen“ (Das Zeitalter der Einsamkeit. HarperCollins, 2021). Der Weg aus der Einsamkeit beginnt mit der Entdeckung der Sorgekräfte, die aus der Passivität ins aktive Handeln führen. Dazu müsste die Politik sozialstaatliche Strukturen so ändern, dass es Menschen möglich werde, einander besser zu helfen. Und auch ein kultureller Wandel sei nötig: Fürsorglichkeit, Freundlichkeit und Mitgefühl müssten aktiv gefördert und deutlicher belohnt werden.

Isolation und Hilflosigkeit überwinden

In Großbritannien wurde bereits 2018 ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet. 75 Prozent der Landbevölkerung sind dort älter als 65 – sie leben in Gegenden, wo Post und Pub geschlossen sind und immer weniger Busse fahren. Herz-Kreislauf-Probleme und Depressionen nehmen zu, wenn Menschen ihre Wohnung kaum noch verlassen. 20 Prozent Gesundheitskosten könnten eingespart werden, haben Wissenschaftler berechnet, wenn man soziale Angebote auf Rezept verschriebe: Wandergruppen, Gesprächskreise, Chorgesang. Es geht darum, dass Menschen die Gefühle von Isolation und Hilflosigkeit überwinden, Erfahrungen teilen und an gemeinschaftlichen Projekten teilhaben. „Wenn wir nicht allein bleiben und nicht nur privatisieren wollen“, schreibt Lisa Frohn, in ihrem Twitter-Buch Ran ans Alter, dann brauchen wir Räume, wo wir hingehen können, um uns als gesellschaftliche Wesen zu erleben“ (Ran ans Alter. Tredition, 2017). Räume also, in denen wir uns einbringen und uns selbst als Teil einer größeren Gemeinschaft erfahren können.

Sehnsucht nach lebendiger Gemeinschaft

„Keiner von uns lebt für sich selbst, keiner stirbt für sich selbst“, heißt es bei Paulus. Damit ist ein radikaler Unterschied zur neoliberalen Moderne beschrieben. Für Paulus ist Unabhängigkeit nicht das Höchste – Zugehörigkeit und Hingabe geben dem Leben Sinn. Die christliche Gemeinschaft wird als ein Körper beschrieben, bei dem jedes Glied gebraucht wird. Und die Sehnsucht nach einer lebendigen Gemeinschaft, die Hoffnung, das Getrenntsein zu überwinden, ist gerade besonders groß.

Was kann Kirche dazu beitragen, dass Menschen diese Erfahrung machen? In vielen Gemeinden treffen sich Ältere einmal die Woche am Mittagstisch. Da wird gemeinsam eingekauft, reihum gekocht, Rezepte werden ausgetauscht und Geschichten erzählt. Und wenn jemand fehlt, fragt eine andere nach. Es ist eine besondere Chance, wenn die Kirchengemeinde Räume in der Nähe zur Verfügung stellen kann. Denn bei den über 70-Jährigen ist der Anteil der Frauen, die den Führerschein besitzen, noch immer nicht so hoch wie in jüngeren Altersgruppen. Sie sind schnell in ihrem Bewegungsradius eingeschränkt, wenn der Auto-fahrende Partner pflegebedürftig wird oder stirbt. Auch weil die körperlichen Kräfte nachlassen, gewinnt der Nahbereich zunehmende Bedeutung. Inzwischen haben viele Kirchengemeinden erkannt, welchen Schatz ihre Räume darstellen: auch auf Friedhöfen entstehen Begegnungscafés.

Caring Communities als lokale Verantwortungsnetze

Während der Pandemie entstanden Hilfenetze für Einkäufe, Friedhofsbesuche, Arztbesuche. Sie gelangen dort besonders gut, wo sich verschiedene Akteure wie Kirchengemeinden, Wohlfahrtsverbände, Jugendverbände mit ihren Ehrenamtlichen zusammentaten. Inzwischen setzt sich das Bundesfamilienministerium mit zahlreichen Projekten für die Belange einsamer Menschen ein: In der Tradition der Corona-Hilfenetze stehen Modellprojekte wie “Miteinander Füreinander” oder “Verein(t) gegen Einsamkeit”. Solche lokalen Verantwortungsnetze, die Caring Communities, stellen den Zusammenhang zwischen Selbstsorge und Fürsorge, professioneller und informeller Hilfe her. Entscheidend ist, ein Netz für die verschiedenen Menschen im Quartier zu knüpfen. Denn Einsamkeit kann jeden treffen.

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