Einsamkeit in der Seelsorge Ambivalenzen eines menschlichen Exitentials­

Das Gefühl der Einsamkeit wird in vielen Situationen negativ wahrgenommen und fordert somit die seelsorgerliche Praxis heraus. Zugleich fungiert Einsamkeit als spirituelle Ressource, etwa indem sie Glaubenden Räume zur Gottesbegegnung eröffnet.

Ein menschliches Existenzial

Die Erfahrung von Einsamkeit ist ein Existenzial, gehört zum Menschsein. Dabei gibt es sowohl positive als auch negative Formen von Einsamkeit. Die Ambivalenz der Einsamkeit wird bereits in der Bibel zum Ausdruck gebracht. In den Psalmen sprechen sich Menschen ungefiltert vor Gott aus. Sie halten dabei auch ihre Emotionen nicht unter Verschluss. Darum fungieren die Psalmen in der Seelsorge bis heute als Sprachschule des Glaubens. In Psalm 102 heißt es in bildhaft-einprägsamer Sprache vom einsamen Menschen: „Ich bin wie eine Eule in der Wüste, wie das Käuzchen in zerstörten Städten“ (Vers 7). „Ich wache und klage wie ein einsamer Vogel auf dem Dache“ (Vers 8). In Psalm 25 wendet sich der einsame Beter an Gott: „Wende dich zu mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend“ (Vers 16). Aus der Einsamkeit fließt die Angst, die das Leben einengt: „Die Angst meines Herzens ist groß; führe mich aus meinen Nöten! Sieh an meinen Jammer und mein Elend und vergib mir alle meine Sünden!“ (Vers 17). An anderen Bibelstellen wird die Einsamkeit dagegen positiv als Vorbereitung auf eine bestimmte Lebensaufgabe verstanden. Mose etwa hütete jahrzehntelang in der Wüste die Viehherden seines Schwiegervaters. Jesus wurde am Beginn seiner Wirksamkeit vom Geist in die Einsamkeit der Wüste geführt. Johannes der Apokalyptiker empfing seine Offenbarungen in der Einsamkeit auf einer Insel.

Die Humanwissenschaften haben die christliche Seelsorge sehen gelehrt, dass es verschiedene Einbruchstellen im Verlauf des Lebens gibt, bei denen die Einsamkeit besonders deutlich empfunden wird. Eine Einbruchstelle ist die Pubertät. Plötzlich entdecken Jugendliche, dass sie anders sind als die anderen. Das Gefühl der selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Familie zerbricht. Als Rettung aus der pubertären Einsamkeit wird die neue Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Gleichaltrigen, der sog. Peergroup, erlebt. Eine andere Einbruchstelle stellt die Midlife‑Crisis dar. Jeder Mensch steht jetzt vor der Herausforderung, Geborgenheit nicht mehr durch Zugehörigkeit zu anderen, sondern in sich selbst zu finden. Wenn es gutgeht, erleben Christen eine neue Geborgenheit in der Gemeinschaft mit Gott.

Negative Formen der Einsamkeit

Die Freiheit, die uns die moderne Zivilisation gebracht hat, geht einher mit einem forcierten Individualismus. Vielen Menschen, die nach individueller Selbstverwirklichung streben, bereitet es gegenwärtig Probleme, sich selbst zurückzunehmen. Dies kann sie daran hindern, erfüllende zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Ein ungefähr 25-jähriger junger Mann besuchte mich. Nach einem längeren Gespräch bei Pfeifenrauch und Wein am Abend brach es plötzlich aus ihm heraus: „Ich bin doch nicht blöd; wie es wirklich in mir aussieht, zeige ich keinem Menschen.“ Entsprechend sah sein Leben aus. Immer wenn seine Beziehung zu einer Frau enger zu werden drohte, packte er – wie er sich ausdrückte – die Koffer.

Ungewollte Einsamkeit erleben viele Menschen, die unter chronischen Krankheiten leiden. Anfangs können sie sich kaum retten vor Besucherinnen und Besuchern. Je länger die Krankheit jedoch dauert, desto weniger werden die Besuche, bis sie schließlich ganz ausbleiben. Manchen Senioren schaut die Einsamkeit regelrecht aus den Augen heraus. Aufgrund des Phänomens der Langlebigkeit sind die meisten ihrer Freunde längst gestorben. Auch die übrige Verwandtschaft ist alt geworden und nicht mehr mobil. Die Kinder, falls vorhanden, sind im Ausland tätig. Äußerlich gut versorgt, warten die Alten auf den Tod.

Es gibt schließlich auch eine eingeredete Einsamkeit. Manche Menschen behaupten, dass sie keinen Menschen hätten. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus: Es gibt eine Nachbarin, die regelmäßig zu Besuch kommt, oder der vermeintlich ganz einsame Mensch trifft sich regelmäßig mit einem Kreis von Menschen zum Kartenspiel. Ein biblisches Beispiel für eingeredete Einsamkeit findet sich in Johannes 5. Dort wird von einem Gelähmten berichtet, der zu Jesus sagt, er habe keinen Menschen. Derselbe Gelähmte liegt schon fast 40 Jahre lang am Teich Bethesda, ohne sich bewegen zu können. Es muss also jemanden gegeben haben, der ihm Essen gebracht hat. Vielleicht fragt Jesus den Gelähmten deswegen als erstes: „Willst du gesund werden?“ Er will den Funken eigenen Willens entfachen, der in ihm noch vorhanden ist.

Positive Formen der Einsamkeit

Trotz der häufig negativen Konnotation von Einsamkeit gibt es auch positive Formen. Einsamkeit kann das Leben zum Positiven verändern – wenn Menschen es aushalten, sie nicht vorschnell zu beseitigen, etwa durch Zerstreuung oder Betäubung. Dann kann sie zur Quelle von Lebensqualität werden! Wie Dietrich Bonhoeffer im Gemeinsamen Leben schrieb, stellt die Einsamkeit das notwendige Gegengewicht zur Gemeinschaft dar. Ohne Zeiten der Einsamkeit lösen wir uns auf und zerfasern. Alleinsein zu können, gehört zur menschlichen Würde. Dadurch wächst die Unabhängigkeit vom Urteil anderer Menschen. Ich bin dann nicht mehr darauf angewiesen, nachzuplappern, was mir vorgesagt wird. Stattdessen lerne ich, mich von anderen zu unterscheiden, wenn nötig auch Widerstand zu leisten. Vielleicht muss ich einen als richtig erkannten Weg eine Zeitlang alleine gehen.

Jeder Mensch steht vor der Herausforderung, die Einsamkeit ertragen und gestalten zu lernen.

Jeder Mensch steht vor der Herausforderung, die Einsamkeit ertragen und gestalten zu lernen. Je früher er das lernt, desto besser. Kindern kann geholfen werden, spätere Einsamkeitsphasen zu ertragen, indem Eltern sie zum schöpferischen Spiel anleiten und ihnen dafür Zeit und Freiraum gewähren, ohne sich dauernd in das Spiel einzumischen. Als Erwachsene haben Kinder es dann leichter, für sich allein Dinge mit Lust und Liebe zu erforschen und zu gestalten.

Ein Mensch wird paradoxerweise beziehungsfähiger, wenn er in der Einsamkeit Selbstvertrauen und innere Unabhängigkeit gewonnen hat. Nur wer allein leben kann, ist auch in der Lage, dauerhafte Beziehungen einzugehen. Umgekehrt sind tragfähige Beziehungen die Voraussetzung dafür, Einsamkeit auszuhalten. Was mache ich aber, wenn ich einsam bin und keine Beziehungen habe? Ich kann mich nach Menschen umschauen, zu denen ich eine Beziehung aufbauen möchte. Ein Weg zu Freundschaften ist z.B., jemanden zum Abendessen einzuladen. Das macht ein wenig Mühe: Ich muss vorher einkaufen gehen, vielleicht etwas kochen und danach das Geschirr in die Spülmaschine einräumen. Freundschaften gibt es nicht zum Nulltarif!

Einsamkeit kann eine Form von Fasten sein: ein freiwilliger Verzicht auf Gemeinschaft, um Kraft und Zeit für etwas Wichtiges frei zu haben. Die Einsamkeit lässt wesentlicher leben. Sie hilft, alles loszulassen, was vorher unentbehrlich erschien. Aus dem Blickwinkel der Einsamkeit betrachtet, erscheint vieles für ein befriedigendes Leben als überflüssig, ja sogar als hinderlich. Einsame Zeiten sind darüber hinaus nötig, um Schicksalsschläge verarbeiten zu können.

Einsamkeit und Begegnung mit Gott

Einsamkeit bietet die Chance, sich selbst, Gott und den Nächsten besser kennenzulernen. Die Einsamkeit konfrontiert mich mit mir selbst, verhindert, dass ich weiter vor mir selbst davonlaufe. Auf diese Weise kann ich meine Masken erkennen und ablegen. Einsamkeit führt zur Selbsterkenntnis. Gleichzeitig ist Selbsterkenntnis die Voraussetzung für echte Gotteserkenntnis. Ohne Selbsterkenntnis bleibt ein religiöser Mensch in seinen Projektionen über Gott hängen. Charles de Foucauld (1858–1916), der viele Jahre in der Sahara gelebt hat, beschreibt seine Erfahrungen in der Einsamkeit so: „Man muss einmal die Wüste durchquert haben und darin wohnen, um die Gnade Gottes zu empfangen. Diese Stille, diese Sammlung, dieses von sich Fortscheuchen all dessen, was nicht Gott ist, ist nötig für unser Herz, damit Gott sein Reich darin aufrichten und die innige Verbindung mit sich schaffen kann. Später werden wir genau in dem Maß Frucht bringen, wie der innerliche Mensch in uns gebildet ist. Man kann nur mitteilen, was man besitzt. Im Alleinsein und im Leben mit Gott allein schenkt Gott sich dem ganz, der sich in dieser Weise ganz ihm schenkt.“

Die Einsamkeit verhindert, dass ich weiter vor mir selbst davonlaufe.

Die mit der Einsamkeit verbundene Stille ist Voraussetzung dafür, zu hören, was Gott uns sagen will. Um persönlich beten zu können, ist es nötig, sich Zeit zu nehmen, mit Gott allein zu sein. Aus diesem Grund hat Jesus seine Jüngerinnen und Jünger aufgefordert, „im Kämmerlein“ zu beten (Mt 6,6).

Die Segnungen der Einsamkeit kommen nicht automatisch über uns. Entscheidend ist, ob es gelingt, in der Einsamkeit offen zu werden für die Begegnung mit Gott; zu erkennen, dass er da ist, uns von allen Seiten umgibt, ja sogar in uns wohnt.

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