Krise, Widerstand, (Un-)Gehorsam Eine Einordnung der Proteste der Klima-Bewegung

In den letzten Monaten wurde viel über den Aktivismus der Klima-Bewegung und ganz speziell über den Protest der Aktivist*innen der „Letzten Generation“ debattiert. Lena Herbers forscht zu Theorie und Praxis von zivilem Ungehorsam und ordnet die aktuellen Formen der Klimaproteste ein.

Anfang 2022 gab es Proteste gegen Lebensmittelverschwendung mit Blockaden auf wichtigen Straßen in ganz Deutschland. Mittlerweile nutzen die Aktivist*innen neben dem Mittel der Straßenblockaden auch Farbanschläge, Essenswürfe auf Kunstwerke, Flughafenblockaden sowie weitere, immer wieder neue Protestformen, um Aufmerksamkeit für die Klimakrise und ihre Forderungen nach Klimaschutz und Klimagerechtigkeit zu schaffen.

Damit geht ihr Protest über andere Formen wie Demonstrationen, Kundgebungen oder Petitionen hinaus, die ganz eindeutig durch die Versammlungsfreiheit im Grundgesetz (Artikel 8) geschützt sind. Die Kerneigenschaft, in der sich ihr Protest unterscheidet, ist, dass dabei in einem überschaubaren Rahmen Gesetze gebrochen werden, um auf ein Problem aufmerksam zu machen.

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass diese Form des Protests immer dann auftritt, wenn die Themen, um die es geht, besonders umstritten oder krisenhaft sind. Historische Beispiele sind die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die indische Unabhängigkeitsbewegung und in Deutschland die Blockaden der Friedensbewegung oder der Anti-Atomkraft-Bewegung. All diese Bewegungen nutzten zivilen Ungehorsam, um ihren Protest auszudrücken. Die Kernfrage für die Auseinandersetzung mit zivilem Ungehorsam bringt der amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002) in seinem Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit auf den Punkt, das ein zentrales Werk der politischen Philosophie darstellt:

„An welchem Punkt ist die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungs-Mehrheit beschlossenen Gesetzen […] zu fügen, angesichts des Rechtes zur Verteidigung seiner Freiheiten und der Pflicht zum Widerstand gegen Ungerechtigkeit nicht mehr bindend?“

Ziviler Ungehorsam stärkt die Demokratie

Es geht also um die Frage, wann es gerechtfertigt ist, Gesetze zu brechen, um für ein höheres Ideal einzustehen. Rawls geht es dabei um Schwächen innerhalb eines weitgehend gut funktionierenden demokratischen Systems. In diesem Fall können sich Menschen aufgrund autonomer und verantwortlicher Entscheidungen mit zivilem Ungehorsam als einem öffentlichen Appell an den Gerechtigkeitssinn der Mehrheit ihrer Mitbürger*innen richten. Ziviler Ungehorsam trägt damit seiner Auffassung nach zur Erhaltung und Stärkung der gerechten Institutionen bei und ist elementarer Bestandteil des demokratischen Systems: Die Aktivist*innen erkennen grundsätzlich die demokratischen Institutionen an und fordern die Politiker*innen zum Handeln auf. Gegenstand des Protests sind grundlegende Prinzipien, im Fall der Klimabewegung der Erhalt unseres Ökosystems und unserer Lebensgrundlagen.

Wann dieser Punkt erreicht ist, an dem Menschen ihren Rechtsgehorsam partiell aufgeben, dazu müssen sie nach reiflicher Überlegung kommen. Ein Blick in die Vergangenheit hilft an dieser Stelle, um nachzuvollziehen, warum die Aktivist*innen der Klimabewegung zivilen Ungehorsam ausüben: Die Klimabewegung versucht seit über zehn Jahren mit großen Protesten auf unterschiedlichen Wegen, Veränderungen in der Politik herbeizuführen, mit Petitionen, Klagen, Demonstrationen und eben auch Aktionen zivilen Ungehorsams. Enorme Proteste gab es beispielsweise vor und während des Klimagipfels in Paris 2015, einige Jahre später die Schulstreiks von Fridays for Future und internationale Aktionstage. Dennoch kam es bisher nicht zu den aus Sicht der Aktivist*innen notwendigen Veränderungen, um die Klimakrise einzudämmen.

Diese Einschätzung deckt sich mit den Analysen international führender Klimawissenschaftler*innen. Diese Diagnose in Verbindung mit den großen Protesten in der Vergangenheit haben zu einer Weiterentwicklung der Bewegung geführt, denn die vorherigen, anderen Protestformen haben aus der Sicht der Aktivist*innen nicht zum Erfolg geführt. Vor diesem Hintergrund lässt sich innerhalb der Klimabewegung eine zunehmende Verlagerung weg von großen Mobilisierungen hin zu häufigeren, kleineren und im Vergleich radikaleren Protestaktionen feststellen.

Die sich verschärfende Klimakrise schafft Zeitdruck

Hinzu kommt gerade für die Klimabewegung ein großer zeitlicher Druck. Die UNO und das IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change – „Weltklimarat“) verweisen in ihrem neuesten Bericht vom April 2022 darauf, dass Millionen Klimatote, Artensterben und die weiträumige Vernichtung von Lebensgrundlagen unausweichliche Folgen der aktuellen Klimaveränderungen sind. Die Klimakrise wird die globale Ungleichheit weiter verschärfen und macht deshalb dringliches Handeln erforderlich. Aus dieser düsteren Zukunftsprognose folgt ein großer und kurzfristiger gesellschaftlicher Handlungsdruck. Je mehr Zeit verstreicht, umso dringender werden die notwendigen Maßnahmen.

„Die Staaten setzen sich das globale Ziel, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf “deutlich unter” zwei Grad Celsius zu begrenzen mit Anstrengungen für eine Beschränkung auf 1,5 Grad Celsius.“ (Eines der drei Ziele des Pariser Abkommens, www.bmwk.de)

Daher versuchen die Aktivist*innen immer eindringlicher auf die wissenschaftlich anerkannte dramatische Lage hinzuweisen. Viele Aktivist*innen fordern letztlich „nur“ die Einhaltung dessen, was die Politiker*innen während des Klimagipfels in Paris 2015 ausgehandelt haben und was deshalb auch Teil multilateraler Abkommen ist. In das Pariser Klimaschutzabkommen wurde von Seiten der Klimabewegung große Hoffnung gesetzt. Dass nun sowohl international als auch national die damals beschlossenen Zusagen nicht eingehalten werden, führt dazu, dass die Aktivist*innen seither mit immer größerem Nachdruck versuchen, die Politiker*innen an die gemachten Zusagen zu erinnern und sie immer deutlicher zu den dafür notwendigen Handlungen aufzufordern.

Störung gehört zum Konzept

Ziviler Ungehorsam ist ein Mittel der Kommunikation: Er hat eine Botschaft, die durch den Protest besonders sichtbar wird. Um Aufmerksamkeit zu erhalten, müssen Proteste stören und das Alltagsgeschehen unterbrechen, denn auf diese Weise halten die Aktivist*innen das Thema im medialen und öffentlichen Bewusstsein. Dass der Protest als Störung empfunden wird, weil er die normalen Abläufe unterbricht, ist also Kernbestandteil der Protest-Strategie.

Dabei greifen die Aktivist*innen vielfach auf Mittel zurück, die in der Umweltbewegung und Friedensbewegung über eine längere Geschichte verfügen wie Sitzblockaden und Besetzungen. Die Blockaden in Mutlangen gegen den NATO-Doppelbeschluss in den 80ern sind ein zentraler historischer Ankerpunkt. Um gegen die Stationierung von atomaren Mittelstreckenraketen des Typs „Pershing II“ zu demonstrieren, wurden von Aktivist*innen der Friedensbewegung Zufahrten zu Kasernen etc. mit Sitzblockaden versperrt. Spätestens seit Anfang der 1980er Jahre gehören Aktionen zivilen Ungehorsams also zum Handlungsrepertoire der Neuen Sozialen Bewegungen.

Auch wenn Straftaten stattfinden, kann ziviler Ungehorsam dennoch legitim sein.

Gegenwärtig nutzen die Aktivist*innen aber auch immer wieder neue Formen von Protest – auch wenn es natürlich Parallelen und Kontinuitäten gibt. Aus ihrer Erfahrung und der anderer Bewegungen wählen sie Protestformen, die ihnen und vor allem ihrem Anliegen, der Klimakrise, dem Klimaschutz und der Klimagerechtigkeit Aufmerksamkeit verschaffen. Ein Risiko für die Aktivist*innen besteht dabei darin, dass sie nicht wissen können, ob ihr Protest ein positives Echo finden wird und breite Teile der Bevölkerung den Protest als wichtig oder notwendig ansehen und diesen möglicherweise sogar unterstützen, oder ob ihr Protest als negativ, moralisch verwerflich oder sogar kriminell angesehen wird. Aber auch wenn teilweise Straftaten stattfinden und der zivile Ungehorsam sich nicht mehr innerhalb eines legalen Rahmens befindet, kann er dennoch legitim, also moralisch gerechtfertigt sein.

Die Bewertung von Protesten kann sich im Lauf der Zeit ändern

Soziale Bewegungen waren immer wieder heftiger Kritik und Diskreditierungsversuchen ausgesetzt. Auch solche, die mittlerweile als wichtiger Teil der demokratischen Entwicklung betrachtet werden, wie zum Beispiel die amerikanische Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Heute besteht Einigkeit darüber, dass diese entscheidend dazu beigetragen hat, massives Unrecht und institutionalisierten Rassismus zumindest zu verringern. Ähnlich erging es auch der Friedens- oder Anti-Atombewegung in Deutschland, die immer wieder in die Nähe von Kriminellen und Terrorist*innen gerückt wurden. Mittlerweile hat sich diese Bewertung verändert und ein großer Teil der Forderungen der Anti-Atomkraft-Bewegung wurden durch den beschlossenen Atomausstieg umgesetzt.

Der gesellschaftliche Blick auf Proteste und soziale Bewegungen kann sich also im Laufe der Zeit verändern. Ob „die Pflicht, sich den von einer Gesetzgebungs-Mehrheit beschlossenen Gesetzen […] zu fügen, […] nicht mehr bindend“ (Rawls) ist, bedeutet vor dem Hintergrund der Klimakrise: Ist es moralisch gerechtfertigt, wenn die Klima-Aktivist*innen auch gesetzliche Normen verletzen, um auf die Klimakrise aufmerksam zu machen und Klimagerechtigkeit einzufordern?

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