„Warum hast du mich verlassen?“ Passionsgeschichten der Einsamkeit

Die Bibel erzählt von der schmerzhaften Erfahrung der Einsamkeit in variantenreichen Geschichten: als Verlassensein von anderen Menschen oder, schlimmer noch, als Verlassensein von Gott. Und an manchen Stellen stellt sich gar die Frage: Kann auch Gott selbst einsam sein?

Am Anfang war die Einsamkeit perfekt. Denn am Anfang war alles eins. Und nicht das Alleinsein schafft ja das belastende Gefühl der Einsamkeit; Alleinsein kann vielmehr durchaus befreiend sein, wie jeder und jede weiß. Zu schmerzhafter Einsamkeit wird das Alleinsein erst durch die Erfahrung des Verlassen-seins. Anfangs aber, war alles eins: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott“ (Johannes 1,1-2). In solch inniger Gemeinschaft ist kein Platz für Einsamkeit.

Irgendwann aber unternahm es Gott, eine Welt zu schaffen, als etwas von ihm selbst Getrenntes, und sie mit Menschen zu bevölkern. Und weil es ihm nicht gut erschien, dass der Mensch allein sei (1. Mose 2,18), schuf er die Menschheit als Gemeinschaft sowie als Miteinander und Gegenüber von Mann und Frau (1. Mose 1,27). Ironischerweise ist genau das auch die Ursprungsgeschichte der Einsamkeit.

Verlassen von allen anderen

Dass Gott gut daran tat, die Menschen nicht als Einzelwesen zu schaffen, weiß der Schreiber des weisheitlichen Buches „Kohelet“ aus eigener Erfahrung zu bekräftigen:

So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Gesell auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft. Auch, wenn zwei beieinanderliegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden?  (Prediger 4,9-11)

Das biblische Gegenbild zu diesen Beispielen wohltuender Gemeinschaft ist der Mensch, der in die Grube gefallen oder – schlimmer noch – in die Grube geworfen worden ist. Dort hockt er in aller Verlassenheit elendig und hilflos im Dunkeln. So wird Josef von seinen Brüdern in der Wüste aus Neid in einen ausgetrockneten Brunnen geworfen: Sie „nahmen ihn und warfen ihn in die Grube; aber die Grube war leer und kein Wasser darin“ (1. Mose 37,24). Man kann in solcher „Grube“ das biblische Bild für höchste Verlassenheit sehen: „Innen ist es dunkel, aber oben – und das ist besonders grausam – ist ein Loch. Man kann sehen, dass ein anderes Leben möglich ist, für andere […] aber du bleibst einsam. Und die Wände des Brunnens sind so steil, dass es kaum möglich ist, sie zu erklettern – bis du es dann irgendwann nicht mehr versuchst und dich einrichtest und Freundschaft schließt mit der Einsamkeit“ (Steve Kennedy Henkel: Spiritualitäten der Einsamkeit, siehe Literaturhinweis am Ende des Artikels, S. 316). So wie für den Beter in Psalm 88 bleibt dann nur noch die Klage: „Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. […] Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und mein Vertrauter ist die Finsternis (Psalm 88,7.19).

Alter und Tod von Angehörigen

Die Gründe für derart abgrundtiefe Einsamkeit waren zu biblischer Zeit teils ähnlich wie heute: Menschen vereinsamten durch Alter, Krankheit oder den Tod von Angehörigen. Letzteres traf vor allem Witwen, die durch den Tod ihres Mannes ihren gesellschaftlichen Status und ihren Rechtsschutz verloren. Das Bild einsamer, verlassener Witwen war so gängig, dass mit ihm die Verlassenheit des ganzen Volkes Israel im Exil versinnbildlicht werden kann: „Niemand mache sich lustig über mich, weil ich eine Witwe und von vielen verlassen bin. Ich bin einsam geworden“ (Baruch 4,12; vgl. Klagelieder 1).

Die Geschichte einer solchen Witwe findet sich im alttestamentlichen Buch Rut. Dort ist es Noomi, die während einer Hungersnot ihre Heimat Bethlehem verlassen und im ostjordanischen Nachbarland Zuflucht gefunden hat. Nachdem ihr Mann und ihre beiden erwachsenen Söhne gestorben sind, wird sie dort schutzlos und beschließt, allein nach Bethlehem zurückzukehren. In einer „Gegengeschichte“ zur üblichen Erfahrung wird erzählt, wie Noomi der Vereinsamung dank ihrer Schwiegertochter Rut entgeht, die sie auf ihrem Weg begleitet und dafür ihre eigene Heimat und ihren angestammten Glauben aufgibt: „Rede mir nicht ein, dass ich dich verlassen und von dir umkehren sollte. Wo du hingehst, da will auch ich hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott“ (Rut 1,16).

Krankheit

Soziale Isolation war häufig auch eine Folge von Krankheit. Das lag zum Teil natürlich an der Angst vor Ansteckung. Auch wenn bei Krankheiten wie Lepra, biblisch „Aussatz“, das Infektionsrisiko nicht annähernd so hoch ist wie bei Corona, mussten sich die Erkrankten doch von allen gesunden Menschen fern halten (vgl. 3. Mose 13,45). Wie die zehn Aussätzigen, von denen in Lukas 17 erzählt wird, konnten sie allenfalls untereinander Gemeinschaft haben. Die Evangelien berichten von der Heilung mehrerer von Aussatz befallener Menschen durch Jesus, der den Körperkontakt mit ihnen nicht scheute: „Es jammerte ihn, und er streckte seine Hand aus, rührte ihn an“ (Markus 1,41). Die Heilung beginnt also in diesen Fällen mit der Zuwendung Jesu zu den Erkrankten und der Aufhebung ihrer Ausgrenzung. Da Krankheit auch als Folge von Sünde verstanden und diese Menschen deshalb als von der Gottesgemeinschaft ausgeschlossen betrachtet wurden, durchbricht Jesus damit nicht nur ihre soziale, sondern auch ihre religiöse Isolation.

Keine Freunde

„Ich habe keinen Menschen“, beklagt auch der Gelähmte am Teich Betesda, von dessen Heilung durch Jesus das Johannes-Evangelium erzählt. Seine Einsamkeit besteht jedoch gerade nicht darin, dass er keine Gesellschaft gehabt hätte; um ihn herum lagen „viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte“ (Johannes 5,4). Verlassen sein kann man aber auch als „Einsamer in der Masse“ (Ingolf Hübner: Herr, ich habe keinen Menschen, siehe Literaturhinweis, S. 49), wenn man wie der Gelähmte niemanden hat, der  einem – im wahrsten Sinne des Wortes – im entscheidenden Moment „unter die Arme greift“. Die Gegengeschichte hierzu findet sich in Markus 2, wo ein gelähmter Mann von vier Freunden zu Jesus gebracht wird: „Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag“ (Markus 2,4). Das belagerte Haus mit dem geöffneten Dach, das zum Ort der Heilung wird, bildet das Gegenbild zur oben erwähnten verlassenen „Grube“ als Ort quälender Einsamkeit.

Verlassensein durch Gott

Auf die Spitze getrieben wird die Erfahrung von Einsamkeit in der Passionsgeschichte Jesu: „Da verließen ihn alle und flohen“ (Markus 14,50) heißt es in der Geschichte der Gefangennahme im Garten Gethsemane, und am Kreuz fühlt Jesus sich nicht nur von allen Menschen im Stich gelassen, sondern auch von Gott selbst: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Markus 15,34). Diese Klage nimmt Worte aus Psalm 22 auf, wo der Beter fortfährt: „Ich schreie, aber meine Hilfe ist ferne. Mein Gott, des Tages rufe ich, doch antwortest du nicht“ (Psalm 22,3). Ähnlich heftig wird der Schmerz absoluter Einsamkeit nur noch in dem bereits zitierten Psalm 88 formuliert: „Ich bin denen gleich geachtet, die in die Grube fahren, ich bin wie ein Mann, der keine Kraft mehr hat. Ich liege unter den Toten verlassen, wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, derer du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand geschieden sind“ (Psalm 88,5-6).

Nicht nur von allen Menschen, sondern auch von Gott verlassen zu sein, ist die schrecklichste Form von Einsamkeit, die vorstellbar ist – vor allem im Angesicht des Todes, aber auch in jedem Augenblick des Lebens. Das gilt zumindest für die Beter der Psalmen, die gerade auch als von Menschen Verlassene auf Gottes Beistand hoffen: „Mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf“ (Psalm 27,10). Wo auch die Hand Gottes nicht mehr hinreicht, da bleibt nur noch Verlorenheit am grausigen Abgrund.

Gottes Einsamkeit

Die befreiende Verheißung der Bibel besteht nun gerade darin, dass diese in der Trennung des Menschen von Gott erfahrene Einsamkeit nicht das letzte Wort hat, sondern von Gott ein für alle Mal überwunden wurde und immer neu überwunden wird. Und zwar – auch hier könnte man wieder von einer ironischen Wendung sprechen – weil Gott selbst gerade nicht einsam sein will. Immer wieder durchstößt er die Mauern der Trennung – ob diese nun in stolzer Abwendung von Menschen selbst errichtet werden oder durch Leiden und Tod. Er tut dies, weil er zwar der eine Gott ist, aber eben nicht als einsames, selbstgenügsames und abgeschiedenes Wesen, sondern als ein Gott in lebendiger Beziehung zu seinen Geschöpfen – auch und gerade, wenn diese Gemeinschaft immer wieder gefährdet ist und beschädigt wird.

So ist die Bibel durchzogen von der Klage Gottes, dass er durch sein Volk verlassen wurde, doch der Kern ihrer Botschaft besteht darin, dass die Verlorenen und Verlassenen von Gott wiedergefunden und neu in seine Gemeinschaft aufgenommen werden (vgl. z.B. die drei Gleichnisse vom Verlorenen in Lukas 15). Immer wieder geht es darum, dass Verlorenheit überwunden und zerstörte Gemeinschaft mit Gott wieder hergestellt wird. Als Grund dafür muss man nicht eine „traurige Einsamkeit in Gott selbst“ annehmen (so Tobias Kirchhof: Die Einsamkeit Gottes und die Sologamie des Menschen, siehe Literaturhinweis, S. 58.). Es genügt das Vertrauen in die biblische Botschaft, dass der Mensch nicht einsam sein soll und Gott nicht einsam sein will.

Literaturempfehlung

Einsam. Gesellschaftliche, kirchliche und diakonische Perspektiven. Im Auftrag der Diakonie Deutschland hrsg. von Astrid Giebel, Daniel Hörsch, Georg Hofmeister und Ulrich Lilie. Leipzig, 2022, 332 Seiten. In über 30 Beiträgen entfaltet der Band vielfältige Perspektiven von Einsamkeit in unterschiedlichen Lebensbereichen und Lebenslagen. Zur weiteren Beschäftigung mit dem Thema sehr empfohlen.

 

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