Braucht es eine gesetzliche Regelung des assistierten Suizids? Ein Plädoyer für Freiheit und Verantwortung

2024 haben etwa 1.000 Personen einen assistierten Suizid in Anspruch genommen. Gleichzeitig ist es ruhig geworden in der politischen Debatte um den assistierten Suizid. Wie ist das Thema aus evangelischer Sicht einzuschätzen?

Das Verfassungsgerichtsurteil und seine Folgen

Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht den 2015 verabschiedeten § 217 StGB zum Verbot der „geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“ für verfassungswidrig erklärt. Der Gesetzgeber dürfe das Recht auf selbstbestimmtes Sterben, das auch die Freiheit beinhalte, sich selbst das Leben zu nehmen und dazu Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen, nicht faktisch suspendieren. Denn der Paragraph, der vor allem auf das Wirken von Sterbehilfevereinen gemünzt war, brachte auch Ärztinnen und Ärzte in eine rechtliche Grauzone. Menschen, die eine Suizidassistenz suchten, wurden daher in Deutschland nicht fündig.

Das hat sich in Folge des Urteils geändert. Die Sterbehilfevereine haben ihre Arbeit in Deutschland wieder aufgenommen. 2024 haben etwa 1.000 Personen einen assistierten Suizid in Anspruch genommen, eine leichte Zunahme zu den Vorjahren. Eine empirische Studie identifizierte in den Jahren 2020 bis 2022 unter etwa 45.000 Sterbefällen in München 37 assistierte Suizide (Sabine Gleich, link.springer.com/article/10.1007/s00194-023-00668-3). Diese Menschen waren im Schnitt fast 80 Jahre alt und hatten mehrere Grunderkrankungen. Zwei Dinge werden deutlich: Es ist ein ganz spezifisches „Klientel“, das einen assistierten Suizid wünscht. Und: der befürchtete „Dammbruch“ oder eine „Normalisierung“ sind derzeit nicht ablesbar.

Die aktuelle Rechtslage

Das Verfassungsgericht hat dem Gesetzgeber grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, die Suizidassistenz genauer zu regeln. 2023 scheiterten im Deutschen Bundestag zwei Gesetzentwürfe. Im Februar 2025 legte das vormalige Bundeskabinett noch ein Suizidpräventionsgesetz vor, das jedoch nicht mehr verabschiedet wurde. Der Koalitionsvertrag der zukünftigen schwarz-roten Regierung will „das Suizidpräventionsgesetz um[setzen]“, schweigt sich über den assistierten Suizid aber aus.

Suizidassistenz findet dennoch nicht im rechtsfreien Raum statt. Das Verfassungsgericht hat das Recht, Hilfe beim Suizid in Anspruch zu nehmen, in ein aus Grundrechten abgeleitetes allgemeines Persönlichkeitsrecht eingezeichnet. Eine Tötung auf Verlangen bleibt davon unbenommen strafbar. Auch eine manipulative Beeinflussung des Willens zum Suizid lässt sich als „Totschlag in mittelbarer Täterschaft“ verfolgen. Jüngst wurden zwei Urteile gegen Suizidhelfer gesprochen, die bei Menschen mit psychiatrischen Diagnosen die Freiverantwortlichkeit selbst und nicht ausreichend geprüft hatten.

Freiheit und Verantwortung beim assistierten Suizid

Freiverantwortlichkeit ist das zentrale Kriterium eines legitimen Wunsches nach assistiertem Suizid. Freiheit und Verantwortung stehen in einem Wechselverhältnis. Das gilt zunächst bereits für die sterbewillige Person. Dem Bundesverfassungsgericht ist vorgeworfen worden, es folge einem individualistisch verkürztem Autonomieverständnis. Für eine evangelische Ethik ist Autonomie dagegen immer relational: Die Freiheit des Menschen ist verdankt und resultiert aus der Beziehung zu Gott. Entsprechend muss Freiheit auch in Gemeinschaft ermöglicht und gelebt werden. Sie lässt sich von Verantwortung für andere nicht trennen. Konkret: Auch eine sterbewillige Person ist darauf angewiesen, dass ihr selbstbestimmte Entscheidungen ermöglicht werden – nicht zuletzt durch gute, verantwortliche Aufklärung über Alternativen zum Suizid. Sie muss ihre Freiheit zum Suizid aber zugleich auch verantwortlich und mit Blick für das soziale Umfeld wahrnehmen.

Die Freiheit zum Suizid muss mit Verantwortung für das soziale Umfeld einhergehen.

Eine Ethik aus Freiheit und Verantwortung kann sodann auch im Umgang Dritter mit Wünschen nach assistiertem Suizid orientieren. Sie stellt in einem tugendethischen Sinne Akteure ins Zentrum, die zur Verantwortung befähigt und bereit sind. Gebotsethisch integriert sie klare Normen und Regelungen, vor denen sich die Akteure verantworten müssen und die dennoch Freiräume zu eigenen Entscheidungen bieten. Sie ist güterethisch an den jeweils individuellen Vorstellungen von Lebensqualität und einem guten Leben ausgerichtet. Ein verantwortungsethischer Zugang zum assistierten Suizid muss die Freiheit dazu ermöglichen, gemäß eigener Vorstellungen sterben zu können. Sie muss zugleich die Freiheit Suizidwilliger von staatlicher, institutioneller – auch kirchlicher – Bevormundung zusammenbringen mit der Freiheit Dritter, zur Suizidhilfe nicht verpflichtet zu sein.

Berufs- und organisationsethische Rahmenbedingungen

Die Ärztekammern haben die Suizidassistenz aus den ärztlichen Aufgaben und Pflichten ausgenommen, aber in Einzelfällen freigestellt. Ähnlich argumentiert der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe. Die Konferenz für Altenheimseelsorge der EKD schließt eine Beteiligung an einem assistierten Suizid aus, mahnt aber die Begleitung der Suizidwilligen an, deren Umfang jedoch freigestellt wird. In der Orientierungshilfe der Diakonie Deutschland heißt es: Menschen mit einem Wunsch nach assistiertem Suizid sollen in den Einrichtungen begleitet werden, aber Mitarbeitende sich nicht daran beteiligen. Damit werden berufs- und organisationsethische Rahmenbedingungen gesetzt, innerhalb derer Einzelne Verantwortung übernehmen und positive und negative Gewissensfreiheit realisieren können. Dazu müssen Mitarbeitende in Gesundheitseinrichtungen befähigt und zur Selbstreflexion eigener Überzeugungen angeleitet werden.

Freiverantwortlich agierende Akteure

Ist eine darüber hinausgehende gesetzliche Regelung überhaupt noch nötig? Ein gewichtiger Einwand lautet: Wo ein gesetzliches Verfahren etabliert ist, entsteht jenseits von Grenz- und Einzelfällen auch ein mindestens impliziter Anspruch auf einen assistierten Suizid. Würde der assistierte Suizid gar einklagbar? So könnte eine Gesetzeslösung gerade eine „Normalisierung durch Bürokratisierung“ (Reiner Anselm et al.) bezwecken, die niemand möchte. Möglicherweise ist die bessere Lösung, auf freiverantwortlich agierende Akteure zu vertrauen. Im Rahmen berufs- und organisationsethischer Normen könnten diese Menschen mit ihren Sterbewünschen „in kritischer Solidarität“ (Isolde Karle) begleiten, deren Freiverantwortlichkeit einschätzen und in individuellen Situationen gemeinsam mit allen Beteiligten nach dem guten Leben und Sterben fragen.

Zum Weiterlesen

Schreiben Sie einen Kommentar