Christus als Vorbild? Chancen und Grenzen des religiösen Lernens an Biographien

Junge Menschen benötigen Vorbilder – als Orientierungs- und Identifikationsmöglichkeit bei ihrer Suche nach ihrem Platz im Leben und um ihre individuelle Persönlichkeit zu entwickeln. Welchen Beitrag kann biographisches Lernen im Religionsunterricht dazu leisten?

Christ werden braucht Vorbilder

Christ werden braucht Vorbilder – so hieß die 1983 von Günter Biemer und Albert Biesinger herausgegebene Publikation, die über Jahrzehnte die Idee und die Konzeption des katholischen Religionsunterrichts maßgeblich geprägt hat. Dieser Titel hat bis heute nichts an seiner Aktualität verloren. Doch aufgrund des Autonomieanspruchs zur Zeit der Aufklärung und insbesondere im 20. Jahrhundert, als die Nachkriegsgeneration jegliche Autoritäten kritisch hinterfragte, geriet das Lernen an Vorbildern in eine Krise: Vorbilder seien hinderlich bezüglich der Ausbildung einer autonomen Ich-Identität und hinsichtlich der freien Entfaltung der persönlichen Individualität, Kreativität und Eigenverantwortung.

Im religionspädagogischen Diskurs hat ein Lernen an fremden Biographien immer schon Relevanz besessen. Die Heiligenverehrung und damit verbunden das religiöse Lernen mit den Lebensbeschreibungen der Heiligen besitzt in der katholischen Kirche eine lange, bis ins Hochmittelalter zurückreichende Tradition. Bei einem heutigen Lernen an Biographien wird ein sogenannter gereinigter Vorbild-Begriff implizit als Voraussetzung gesehen: Ein Vorbild, sei es aus dem Nah- oder Fernbereich, muss Reflexionsprozesse anstoßen, es muss die Möglichkeit eröffnen, sich mit diesem, seinem Denken und Handeln, kritisch auseinanderzusetzen. Im Fokus eines zeitgemäßen Lernens an anderen Personen steht das lernende Individuum mit seiner autonomen und individuellen Biographie.

Biographisches Lernen mit der Bibel

Biographisches Lernen möchte junge Menschen die Befähigung verleihen, bedeutsame Stationen ihres Lebenswegs zu reflektieren und aus der Perspektive des Glaubens bedenken zu lernen. Hierbei kann insbesondere die Auseinandersetzung mit der Bibel – als einer Sammlung von menschlichen Erfahrungen und Lebensgeschichten – einen wesentlichen Zugang zum biographiebezogenen Lernen im Religionsunterricht darstellen. Mithilfe des Einbezugs fremder Biographien aus der biblischen Überlieferung und der Geschichte des Menschen sollen Schülerinnen und Schüler zur bewussten Gestaltung ihrer eigenen Biographie und zur Reflexion der Bedeutung von Religion und Glauben ermutigt werden sowie inspiriert, ihre persönliche Lebensgeschichte unter den Zuspruch Gottes zu stellen.

Charakteristisch für den christlichen Glauben ist, dass dieser sich nicht abstrakt begreifen lässt, sondern vielmehr im lebenspraktischen Verhalten zur Darstellung kommt und greifbar wird. In Vorbildern christlicher Lebensgestaltung kann daher gelebte Religion zum Ausdruck gebracht und den Heranwachsenden verständlich gemacht werden. Solche Modelle gelebten Glaubens können als Anregung und Inspiration dienen und zum Erkennen eigener Potenziale und Handlungsmöglichkeiten befähigen. So können sie Heranwachsende bei ihrer Suche nach Lebenssinn und individueller Identität unterstützen und ihnen Orientierung geben, was insbesondere angesichts der veränderten religiösen Situation, der Komplexität und Pluralität möglicher Lebensentwürfe in der heutigen (post)modernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnt.

Jesus als Vorbild?

Aus theologischer Perspektive wird die Menschwerdung des ewigen Gottessohnes in Jesus Christus als absolutes Vorbild christlichen Lebens betrachtet. Das Buch von der Nachfolge Christi (lat. Originaltitel De imitatione Christi), das im Rahmen der Devotio moderna, einer religiösen Erneuerungsbewegung des 14. und 15. Jahrhunderts, entstand und in der Form des textus receptus von 1441 Thomas von Kempen zugeschrieben wird, galt über Jahrhunderte als das zentrale christliche Erbauungsbuch. Jesus Christus wird in der Schrift als „Vorbild in Demut und Gehorsam“ vorgestellt und die Nachfolge Christi als höchste Aufgabe derjenigen, die ein frommes, geistliches Leben führen möchten.

Maria könnte als „Influencerin Gottes“ bezeichnet werden.

Kann Jesus Christus in unserer heutigen Zeit denn noch als Vorbild dienen? – Papst Franziskus hat auf diese Frage 2019 eine klare Antwort gegeben: In seinem im Besonderen an die jungen Menschen gerichteten Nachsynodalen Apostolischen Schreiben Christus vivit (Christus lebt) betont er, dass sich in Jesus alle jungen Menschen wiederfinden könnten. Er appelliert an Heranwachsende, ihren Blick auf den jungen Jesus zu lenken, wie ihn die Evangelien schildern, da er wahrhaft einer von ihnen gewesen sei. In vielen Aspekten seines „jugendlichen Herzens“ könnten Jugendliche sich auch heutzutage entdecken: das Pflegen der Freundschaft mit seinen Jüngern und seine Treue ihnen gegenüber, sein aufrichtiges Mitgefühl mit den Schwächsten, sein Mut, sich den religiösen und politischen Autoritäten seiner Zeit entgegenzustellen, seine Erfahrungen der Unverstandenheit, des Ausgestoßenseins, von Angst und Schwäche bei der Passion, seine Zuversicht, sein tiefer Glaube und sein bedingungsloses Vertrauen in den Vater. Maria könne aufgrund ihrer Kraft und Entschlossenheit, aufgrund ihres Mutes, ihre Zweifel zu überwinden und die ihr angetragene Aufgabe trotz aller damit verbundenen Risiken und Widrigkeiten anzunehmen, „mit keiner anderen Garantie als der Gewissheit, Trägerin einer Verheißung zu sein“, als „Influencerin Gottes“ bezeichnet werden.

Kreative Aneignung statt Nachahmung

Im Religionsunterricht ist nicht die direkte Nachahmung einzelner Verhaltensweisen intendiert, sondern vielmehr das Erkennen von Haltungen, Einstellungen und Werten, die anschließend in kreativen Aneignungsprozessen auf die eigene Lebenssituation übertragen werden. Ferner können Dilemma-Geschichten, Hoffnungen, Ziele, Krisen- oder Entscheidungssituationen der fremden Person diskutiert und Überlegungen bezüglich eigener Entscheidungsweisen angestellt werden. Beim handlungsethischen Lernen wird sich nicht nur theoretisch mit Entscheidungen auseinandergesetzt, sondern ethisches Handeln praktisch eingeübt. Ein solches Erlernen ethischen Handelns kann bei der Planung, Durchführung und Reflexion von (Sozial-)Projekten erfolgen oder auch im Erleben von „Heiligen der Unscheinbarkeit“ (Romano Guardini), also von Menschen, die im Kleinen und Großen Jesus nachfolgen und Gottes Liebe in ihrem alltäglichen Leben sichtbar machen.

Parallelen im Leben der Heranwachsenden

Unabhängig von der individuellen Einstellung zu Gott, Religion und der Kirche können junge Menschen für die Person Jesu und seine Botschaft interessiert werden. Im Religionsunterricht kann nach Parallelen im Leben der Heranwachsenden gesucht und diese in den Mittelpunkt unterrichtlicher Thematisierung gerückt werden. Neben den interindividuellen Erfahrungen in Familie und Peergroup gewinnt in unserer von Medialität und Fake News geprägten Zeit auch das kritische Hinterfragen von Äußerungen und Handlungen anderer Menschen – vermeintlicher Autoritäten – in kleinen und großen Kontexten und die eigene klare Positionierung immer mehr an Bedeutung.

Aktiv gelebter Glaube führt oft in eine Rechtfertigungsposition.

In aktuellen Gesprächen mit jungen Christinnen und Christen wird oftmals deutlich, dass Christsein sie in ihrem alltäglichen Leben vor Herausforderungen stellt, viele sich für ihren aktiv gelebten Glauben in eine Rechtfertigungsposition gedrängt sehen. Dass dieses Gefühl des „Andersseins“, dem Folgen der eigenen Berufung trotz Widerständen, anderer vorherrschender Meinungen, zum Kern des Christentums gehört, kann jungen Menschen Hoffnung geben, an ihrem Weg festzuhalten.

Die „Verheißung“ im eigenen Leben entdecken

Biographisches Lernen ist ein unabschließbarer Prozess, da dieser bedingt wird von der sich stetig wandelnden Biographie der individuellen Person, die sich in einem bestimmten Lebenskontext befindet. Obwohl biographische Lernprozesse sich oftmals unbewusst ereignen, sollte im Religionsunterricht zum ausdrücklichen biographischen Lernen ermutigt werden, wodurch Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsmuster ins Bewusstsein gelangen und so bewusste Wahlentscheidungen möglich werden. Neben den Heiligen und Seligen, die durch ihr Leben und Wirken Zeugnis der Nachfolge Christi abgelegt haben, sollten auch die HeldInnen des Alltags präsentiert werden, die den Vorteil einer persönlichen Begegnung bieten.

Ob und in welcher Weise die angebotenen fremden Biographien jungen Menschen bei ihrer Persönlichkeitsentwicklung helfen, wird vermutlich erst etliche Jahre später vollständig ins Bewusstsein rücken. Gewissermaßen ist Aufgabe eines zeitgemäßen Religionsunterrichts, Heranwachsenden den Mut zu vermitteln, ihre „Verheißung“ im Leben zu entdecken und dieser zu folgen. Vielleicht kann der Religionsunterricht so einen Beitrag leisten, dass Lernende selbst zu InfluencerInnen werden – zu InfluencerInnen Gottes.

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