Stichwort: Identifikationsfigur Warum jede Gesellschaft Vorbilder braucht

Identifikationsfiguren kennen wir alle – aus Filmen, Theaterstücken, Romanen, aus Hör- oder Computerspielen. Es sind die Personen, aus deren Perspektive uns ein Geschehen präsentiert wird. Durch diesen Kunstgriff werden wir angeregt, uns mit ihnen zu identifizieren: Was sie erleben, erleben wir mit, fast als wären wir an ihrer Stelle.

Identifikationsfiguren gibt es aber natürlich nicht nur in fiktiven Werken. Vorbilder sind z.B. ebenfalls Identifikationsfiguren. Anders als bei fiktiven Figuren identifizieren wir uns mit ihnen nicht, indem wir etwas geistig miterleben, sondern indem wir entweder eigene Wünsche und Träume auf sie projizieren („so wäre ich auch gerne“) oder Eigenes in ihnen wiederfinden („er/sie verkörpert, was mir wichtig ist“). Die Identifikation hat also jeweils einen konkreten Bezugspunkt in dem, was die Identifikationsfigur tut oder vertritt.

Das gilt nicht nur für öffentliche Identifikationsfiguren wie die Stars und Idole aus Sport, Musik, Kino, Social Media etc., die bei Werbetreibenden so beliebt sind, weil sich ihre Identifikationskraft potentiell auch auf von ihnen beworbenen Marken überträgt. Öffentliche Identifikationsfiguren sind auch Persönlichkeiten, die durch prominente Positionierungen, z.B. zu politischen Themen, zur Auseinandersetzung  einladen  (potentiell natürlich auch mit Abgrenzung statt Identifikation als Ergebnis). Von den Stars und Idolen unterscheiden sie sich vor allem dadurch, dass es bei ihnen nicht so sehr ums Nacheifern und damit um die persönliche Identifikation geht, als vielmehr um die Identifikation mit bestimmten Haltungen und Werten, die sie vertreten.

Jede Gesellschaft braucht Identifikationsfiguren dieser Art. Es sind Leitfiguren des öffentlichen Lebens, die gemeinsame Ideale vertreten und an denen sich andere Menschen orientieren. Wenn sie ihr Identifikationspotential zur Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts einsetzen wirken sie zugleich als Integrationsfiguren. Das gilt vom Bundespräsidenten bis zur Bürgermeisterin, für den Publizisten wie die Professorin, von der Bischöfin bis zum Gemeindepfarrer. Sie alle können durch Positionen, die sie vertreten, und Werte, die sie verkörpern, anderen nicht nur Orientierung bieten, sondern zugleich integrierend in die Gesellschaft hinein wirken.

Ich möchte wie Ghandi sein und wie Martin Luther King und John Lennon. Aber ich möchte am Leben bleiben. (Madonna, US-amerikanische Musikerin, geb. 1958)

Das bedeutet freilich nicht, dass sie damit auch zwangsläufig persönliche Vorbilder sein müssten. Dafür müssen Werte nicht nur öffentlich vertreten, sondern zugleich prominent vorgelebt werden. Auf diese Weise prägen Vorbilder dann oft ganze Generationen. Als klassische Vorbilder fallen einem Mutter Teresa, Albert Schweitzer, Mahatma Gandhi oder Martin Luther King ein. In einer Umfrage von 2003 belegten zudem Nelson Mandela, Michael Gorbatschow, der Dalai Lama und Albert Einstein vordere Plätze. Ob die in jüngerer Zeit häufig genannten Greta Thunberg, Helmut Schmidt, Angela Merkel oder Günter Jauch in deren Fußstapfen treten können, sei noch dahingestellt. 2012 bezeichneten in einer Stern-Umfrage 44 Prozent die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann als vorbildlich.

Und wie sieht es in diesem Zusammenhang mit Jesus aus? Taugt er als „Identifikationsfigur“? Sicherlich hat er seine Lehre und die damit verbundenen Werte so vertreten, dass er für seine Anhängerschaft zur Identifikationsfigur wurde. Die Evangelien des neuen Testaments sind jedoch nicht zufällig so geschrieben, dass wir uns beim Lesen nicht mit Jesus, sondern mit seinen Jüngerinnen und Jüngern identifizieren. Diese taugen zwar nur bedingt als Vorbilder (man denke an den Verrat des Judas oder die Verleugnung durch Petrus). Aber gerade dadurch finden wir uns in ihnen eher wieder als in Jesus selbst.

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