Berechtigter Zorn und zerstörerische Versöhnungsappelle Ein Plädoyer für die christliche Würdigung aggressiver Emotionen

Es gibt Konfliktkonstellationen, in denen Geschädigte angesichts des erlebten Leides nicht vergeben können oder wollen. Wie lassen sich die in solchen Prozessen aufkommenden „aggressiven“ Emotionen wie Zorn oder Hass theologisch deuten und praktisch „auffangen“?

Versöhnungsethos auf dem Prüfstand

Die Frage nach dem, was Konflikte löst und Frieden stiftet, wird seit einigen Jahrzehnten aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen in den Blick genommen. Disziplinen wie die „Konflikt- und Friedensforschung“, die „Transitional-Justice Forschung“ oder auch die „Versöhnungsforschung“ setzen ganz eigene Akzente, wenn es um die Frage geht, wie ein nachhaltiger Frieden verwirklicht und angesichts von Konflikten, Kriegen oder Genoziden Beziehungen wiederhergestellt werden können. Dabei gilt sowohl das Wort als auch das von Forschenden ins Feld geführte Paradigma der „Versöhnung“, das etwa im Kontext von Post-Konflikt- oder Transformations-Gesellschaften wie Südafrika, Ruanda oder Kolumbien seinen besonderen Sitz im Leben findet, mithin als das umstrittenste. Es besteht die Befürchtung, Versöhnung könne politisch als leere Chiffre benutzt und von Machthabenden oder Siegergruppen instrumentalisiert werden. Mithilfe der Maskerade einer »versöhnten Gesellschaft« könnten ausbleibende Gerechtigkeit und Strafe, eine einseitige Erinnerungskultur und fehlende Wiedergutmachung politisch legitimiert werden. Politiken der Versöhnung könnten darüber hinaus die Opfer von Gewaltverbrechen doppelt viktimisieren, da diesen nun etwas aufgezwungen werden könnte, was sie angesichts ihrer tiefen Verwundungen gar nicht möchten.

Konfliktbeilegung funktioniert nie emotionsfrei

Es stellt sich hier die Frage: Wenn die Rede von Versöhnung so viele Gefahren und Destruktivitäten riskiert, warum sollte sie überhaupt aufrechterhalten und gepflegt werden? Die von der Versöhnungsforschung ins Feld geführte Antwort ist so simpel wie komplex zugleich: Die Rede von der Versöhnung rückt das in den Fokus, was auf multiplen gesellschaftlichen Ebenen und nachhaltig Gemeinschaft und Beziehung schafft. Legen traditionelle Konfliktlösungsansätze den Fokus stärker auf strukturelle Mechanismen, also die Beendigung des Konflikts, den Aufbau eines Rechtsstaats mitsamt der ihm zugehörigen Institutionen, einer Zivilgesellschaft, eines funktionierenden Wirtschaftsapparats etc., kann der Versöhnungsansatz als Erweiterung und »Reframing« jener Konzepte gelten. Das Versöhnungskonzept soll kognitive und emotionale Faktoren der Beteiligten auf individueller und kollektiver Ebene miteinbeziehen. Dabei wird betont, dass es sich bei Versöhnung um einen fragilen, komplexen, nicht endenden und mit Rückschritten und Stagnationen versehenen Prozess handelt, der sowohl die Suche nach Wahrheit wie auch den Kampf um Gerechtigkeit unbedingt mit einbezieht und spezifische Räume wie auch Zeiten und Rituale benötigt.

Der schwierige Weg zur Versöhnung in Ruanda

Die Beschäftigung mit diesem Forschungsdiskurs führte mich im Laufe der letzten acht Jahre immer wieder in das vom Genozid 1994 geprägte zentralafrikanische Land Ruanda. Ruanda versucht auf vielfältigen Ebenen durch die – mit eiserner Hand umgesetzte – Staatsraison von „Unity and Reconciliation“ und verschiedenen zivilgesellschaftlichen Versöhnungsmaßnahmen die Beziehungen der am Genozid Beteiligten wiederherzustellen. Neben fortwährenden Ambivalenzen des Versöhnungsprozesses und zu kritisierenden rechtlichen und politischen Maßnahmen der Regierung, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, können mitten in der Komplexität des Geschehens beeindruckende, vorbildhafte zivilgesellschaftliche und kirchliche Versöhnungsprogramme und -initiativen ausgemacht werden. Der Vorbildcharakter dieser Projekte ist dabei keineswegs darin zu sehen, dass der Weg der Versöhnung überhaupt eingeschlagen wird – angesichts der Vielzahl an dörflichen Strukturen bleibt den Tür an Tür lebenden TäterInnen und Geschädigten oftmals keine andere Möglichkeit als der Versuch der Wiederherstellung von Beziehung –, sondern vielmehr in dem Wie der Prozessgestaltung v.a. auch der christlichen Gemeinden und Projekte.

Auf die Geschädigten wirkt die Forderung nach Versöhnung schnell zynisch.

Vorbildcharakter haben diese Projekte aus meiner Sicht vor allem in ihrem Umgang mit aggressiven Emotionen der im Versöhnungsprozess Beteiligten – seien es Zorn, Hass, Empörung oder Neid oder auch den Entscheidungen der bleibenden Distanznahme und Nicht-Vergebung. Dieser würdigende Umgang mit aggressiven Emotionen kann trotz der kontextuellen Besonderheiten impulsgebend auch für den deutschen Kontext sein, etwa mit Blick auf die Schaffung angemessener Räume und Strukturen (auch theologischer!) für Personen, die Ziele sexualisierter Gewalt wurden. Ein christliches Versöhnungsethos, das nur „Vergebung“ und die mit ihr gesetzten positiven Emotionen zu würdigen vermag, kann sich schnell als weltfremder Zynismus entlarven, der die Verletzungen und Traumata der Leidenden nicht ernst nimmt. Viele Geschädigte können und wollen angesichts des Erlebten schlichtweg nicht vergeben, egal, welche institutionellen Entschuldigungsriten und Wiedergutmachungspraktiken auch erfolgt sind. Doch wie lassen sich die in solchen Prozessen aufkommenden „aggressiven“ Emotionen wie Zorn oder Hass theologisch deuten und praktisch „auffangen“?

Statt Vergebung einzufordern, trägt die Gemeinde Zorn und Trauer mit

Es gab und gibt in Ruanda unzählige Geschädigte, die die Entscheidung trafen, den TäterInnen nicht zu begegnen, zornig sind und sich nicht vorstellen können, irgendwie zu vergeben. Man könnte innerhalb der Gemeinden auf diese Entscheidung nun moralisierend antworten, an das soziale Gewissen der Beteiligten appellieren und die Geschädigten auffordern, doch bitte zu vergeben – nicht zuletzt hat Gott bereits auch allen vergeben. Nicht wenige Versöhnungstheologien haben einen solchen starken Drift hin zur Vergebung, hin zur „Imitatio Christi“, die von den Geschädigten quasi „Unmenschliches“ abverlangt – so etwa die Theologie der Umarmung von Miroslav Volf oder auch das Versöhnungskonzept von Desmond Tutu, paradigmatisch zusammengefasst im bekannten Titel No Future Without Forgiveness!

Versöhnungsprozesse haben eine Dimension der Unverfügbarkeit.

In Ruanda erlebte ich aber an vielen Stellen, dass die Zeitspanne von Zorn, Trauer und Distanz nicht abgelehnt, sondern vielmehr geduldig durch die Gemeinde, durch Gebet und Gottesdienst begleitet wurde. Nicht-Vergebung und Distanznahme wurden als unabdingbare Ressource für die Wiederherstellung des Gefühls von Würde und Autonomie seitens der Geschädigten gedeutet. Der Zorn der Geschädigten wurde theologisch in all seiner Ambivalenz gewürdigt: Im Bewusstsein, dass Zorn dauerhaft und ohne Domestizierung Gemeinschaft zerstören und zu (Gegen-)Gewalt führen kann, wurde er zugleich als legitime Emotion gewürdigt, die auf Ungerechtigkeiten sowie vergangene Gräueltaten hinweist und als Zeichen des Selbstrespekts der Geschädigten gedeutet werden kann.

Warten auf den Einbruch von Gottes Wirken

Die Gemeinde hatte dabei ein tiefes Vertrauen darauf, dass Gott selbst zu den nächsten Schritten im Prozess befähigen wird. Durch die Hoffnung auf den Einbruch von Gottes bedingungsloser Liebe und Gnade, der neue Freiräume des Fühlens, Denkens und Handelns schafft, wurde so die prinzipielle Möglichkeit von Transformationen offen gehalten – ohne die Geschädigten zu nächsten Schritten hin zur Vergebung drängen zu müssen. Ein Einbruch dieses „Letzten“ könnte da wiedererkannt werden, wo sich der Zorn der Geschädigten und der scheinbar statische Wille der Nicht-Begegnung transformiert in ein Gefühl gewonnener Kraft und Autonomie, die eine erste Begegnung mit dem Täter bzw. der Täterin ermöglicht. Im Anschluss an die Theologin Lisanne Teuchert spreche ich hier von einer wegbereitenden christlichen Emotionskultur. Diese Emotionskultur bereitet Gott den Weg, indem sie einerseits aggressive Emotionen zulässt und sie andererseits durch die Hoffnung auf Versöhnung und die gewaltlose Konfliktbearbeitung einhegt.

Ein Vorbild christlicher Emotionskultur

Ruanda ist ein Kontext verdichteter Konflikt- und Versöhnungsfelder. Inmitten all der bestehenden Spannungen und Ambivalenzen 28 Jahre nach dem Genozid können jene kirchlichen Versöhnungsmaßnahmen, die eine besonders sensible christliche Emotionskultur im Angesicht aggressiver Emotionen pflegen, trotz der kontextuellen Besonderheiten vorbildhaften Charakter auch für Versöhnungskontexte in Deutschland einnehmen. Im Raum der Kirche könnte eine christliche Emotionskultur nicht nur relevant sein vor dem Hintergrund von sexualisierter Gewalt und ihrer kirchlichen Ermöglichungsstrukturen, sondern auch angesichts intersektionaler Diskriminierungserfahrungen im Raum der Kirche oder verschiedener seelsorgerlicher Situationen, in denen es um die Frage von (ausbleibender) Versöhnung geht. Die christliche Emotionskultur fußt dabei auf einer spezifischen theologischen Perspektive auf Versöhnungsphänomene, die sich auch in Ruanda immer wieder zeigte: Versöhnungsprozessen wohnt eine Dimension der Unverfügbarkeit inne, die sich auch ausdrückt in der paulinischen Bitte „Lasst Euch versöhnen mit Gott.“ (2 Kor 5,20). Allzu methodische und mechanische Versöhnungsprozesse, die keinen Raum und keine Zeit lassen für das, was Menschen eben nicht in der Hand haben, decken sich daher nicht mit einer würdigenden christlichen Emotionskultur.

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