Vorbild und Potenzial Der Mensch nach seinem eigenen Bilde?

Neben ganz realen Vorbildern kann ein Mensch auch ein sehr abstraktes Vorbild haben – nämlich eine bessere Version seiner selbst. Selbstoptimierungspraktiken sollen zu einem fitteren Körper und wacheren Geist verhelfen. Aber hinter manchen Angeboten stecken auch andere Interessen.

Wir werden mit Vorbildern groß – und das in einem doppelten Sinne: Nicht nur begleiten sie uns auf dem Weg zum Erwachsensein und auch noch darüber hinaus, sondern wir können durch sie auch selber größer werden, indem wir ihnen nacheifern, sei es körperlich oder im Geiste. Diese Vorbilder sind in der Regel Menschen mit besonderen Begabungen oder Fähigkeiten, sie sind Sportlerinnen oder Künstler, Politikerinnen oder Wissenschaftler – oder sie sind fiktive Personen aus Film und Literatur, mit Eigenschaften, die alles Menschliche übersteigen. Dies kommt den allermeisten vermutlich zuerst in den Sinn, wenn sie über Vorbilder nachdenken und sich nach ihren eigenen fragen. Der Mensch kann aber auch ein sehr abstraktes Vorbild haben, nämlich eines, das nur in seiner Vorstellung und nur für ihn existiert. Dieses Vorbild ist eines, das im besten Sinne technisch vermittelt ist: Eine bessere Version seiner selbst.

„Für mein besseres Ich“

Diese zugegebenermaßen nicht gerade intuitive Vorstellung von einem Vorbild ist vermutlich aber diejenige, die am ehesten von Menschen realisiert werden kann. Die Firma Apple hat ihre Smartwatch 2019 mit der Aussage „Für mein besseres Ich“ beworben und damit deutlich gemacht, woraufhin die Beziehung eines Menschen zu sich selbst durch eine Mensch-Technik-Beziehung in der Gegenwart orientiert sein kann: Technik ist nicht mehr bloß ein externes Hilfsmittel, sondern fungiert als eine Art Spiegel, jedoch mit einem entscheidenden Unterschied: Während uns ein ›echter‹ Spiegel so zeigt, wie wir uns selbst sehen können, stellt unsere technisch erwirkte Abbildung uns in einer ganz anderen Weise dar. Erfasst werden wir in Zahlen, die als Graphen oder Diagramme visualisieren, wie unsere Performance bisher war und prognostisch aussehen wird. Wir lassen uns in der Regel nicht deswegen vermessen, weil wir an den bloßen Zahlen interessiert sind, sondern weil diese Zahlen für uns in irgendeiner Weise gehaltvoll sind bzw. gemacht werden. Nur im Vergleich mit Referenzwerten sagen sie uns etwas, seien diese medizinisch festgelegt oder solche, die wir aus anderen Gründen anstreben.

Wenn man Selbstoptimierungspraktiken vollzieht, dann ist das angestrebte „bessere Ich“, bestehend aus einem fitteren Körper und wacheren Geist, das Vorbild, dem man nacheifert. Man schaut auf zu dem, was man sein könnte – dargestellt als ein Bild, das das Versprechen vom gesünderen und vielleicht gelingenderen Leben malt. Dieser technische Spiegel liefert zunächst Ist-Werte. Setzt man diese in Relation zu den Soll-Werten, so entsteht das Bild, das zum Vorbild werden kann.

Die Technik der Selbstvermessung

Praktiken der Selbstoptimierung basieren zumeist auf als Selbstbeobachtungen wahrgenommenen Verfahren, die aber vielmehr Beobachtungen von außen sind. Mein Fitnesstracker, meine Meditations-App (oder die Exerzitien-App, mit der die Landeskirche Hannover ein kirchliches Konkurrenzprodukt zu den zahlreichen kommerziellen Angeboten startete), meine Blutwerte: Sie alle tragen zum technisch vermittelten Bild von mir bei. Allein, was beobachtet und quantifiziert wird, lege nicht ich fest, sondern es wird mir von Dritten vorgesetzt. Die Selbstbeobachtung ist folglich nur mittelbar eine solche – sie ist eigentlich eine fremde Perspektive auf den Menschen, die sich das Individuum zu eigen macht – einschließlich der damit verknüpften impliziten oder expliziten Ideale.

Doch wie kommt mein Vorbild eigentlich zustande? Wie wird die ›Zergliederung‹ des Menschen und seines Lebensvollzugs festgelegt und vor allem: zu welchem Zweck geschieht dies? Die Bedingungen dafür sind, dass wir den Menschen und was er tut, in Daten übersetzen. D.h. in die fremdbestimmte Selbstbeobachtung fließen nur diejenigen Aspekte unseres Lebens ein, die von den Entwicklern solcher Systeme als relevant erachtet werden und messbar sind. Die Aspekte unseres Lebens, die wir rein qualitativ erleben, denken und fühlen, die sich also einer einfachen Operationalisierung entziehen, bleiben außen vor.

Dass der Mensch sich als von Gott geschaffen versteht, schützt ihn offensichtlich nicht davor, dass er sich seiner eigenen Unzulänglichkeiten bewusst wird. Dies kann durch Maschinen geschehen, deren unerreichbare Perfektion auf den Menschen einschüchternd wirkt, oder durch die Diskrepanz zu den angestrebten Werten, die bei der Selbstvermessung entsteht: Uns wird vorgerechnet, dass und wie wir den Ansprüchen, die wir an uns stellen können – die unser potentielles Ich an uns stellt – in der Regel nicht gerecht werden.

Mit der Technik der Selbstvermessung begeben wir uns unbewusst in Abhängigkeitsverhältnisse: Wer legt den Maßstab fest, wer die Ziele? Die Frage, warum jemand anders sein will, als er oder sie ist, stellt sich aber auch vor dem Hintergrund, welche weiteren Versprechen damit einhergehen.

Selbsterlösungspraxis oder neoliberale Übergriffigkeit?

Sollte man es aber nicht grundsätzlich als positiv bewerten, wenn Menschen mehr auf sich achten? Es dürfte unbestritten sein, dass ein gesünderes Leben – körperlich wie psychisch – im Durchschnitt nicht nur dem eigenen Wohlbefinden dienlich ist, sondern auch einer sich als Solidargemeinschaft verstehenden Gesellschaft, in der dann weniger Ressourcen für den Gesundheitssektor aufgebracht werden müssen.

Sollte man es nicht grundsätzlich als positiv bewerten, wenn Menschen mehr auf sich achten?

An dieser Stelle liegt eine eigenartige Spannung vor, die unser Vorbild – die bessere Version von uns selbst – mit einem kleinen Haken versieht, an dem man, wenn es schlecht läuft, mit seinem Leben hängen bleibt und stolpert: Religiös betrachtet könnte man hier eine Selbsterlösungspraxis am Werk sehen, durch die der Mensch – anders als durch Gnade – kraft eigener Anstrengung Erlösung erfährt und sein Heil in sich selbst findet. Ein Scheitern würde dann zerstörerisch wirken. So könnte eine theologisch motivierte Technikkritik ansetzen, die in Praktiken der Selbstoptimierung eine verkappte Selbstvergottung des Menschen zu erkennen meint. Eine derartige Technikkritik lebt aber von Vorannahmen, die kaum zu belegen sein dürften. Daran, Technik als Konkurrenz zum christlichen Glauben konstruieren zu wollen, sind schon viele gescheitert.

Sehr viel weltlicher betrachtet, könnte man es leicht als neoliberale Übergriffigkeit denunzieren, dass diese Praktiken selbst von Krankenkassen unterstützt werden, indem monetäre Anreize zur Teilnahme gegeben werden. Aber auch damit machte man es sich zu einfach. Das Spannungsverhältnis der Mensch-Technik-Beziehung ist das Resultat einer nicht per se fehlgeleiteten Skepsis gegenüber Fremdansprüchen, denen sich Menschen unterwerfen. Oft mag es einfach im spielerischen Interesse von Menschen begründet liegen, dass sie sich auf Angebote, die ihnen gemacht werden, einlassen. Was soll schon groß schiefgehen?

Selbstoptimierung im Lichte der Rechtfertigung

Wenn in der Sache an sich keine richtige Gefahr liegt, so wird man dennoch fragen können: Durch Ausrichtung an Vorgaben, die von außen an einen herangetragen werden, besser zu werden – das hat ein Mensch, der sich als gerechtfertigt versteht, doch gar nicht nötig – oder? Und nein, das hat er nicht nötig, und als Protestanten wissen wir, dass gute Werke keinen Weg zum Heil bereiten.

Eine subversive christliche Art der Optimierung, die alle anderen relativiert.

Mein „besseres Ich“ als mein Vorbild habe ich zwar nicht permanent vor Augen, doch werde ich regelmäßig daran erinnert: Die Apps auf unseren Smartphones sind wenig subtil, wenn es darum geht, Nutzerinnen und Nutzer anzustupsen, damit sie in Übung bleiben. Für kommerzielle Anbieter geht es vermutlich darum, dass die zahlenden Kunden und Kundinnen sich aufgrund von kleineren und größeren Erfolgserlebnissen besser fühlen, weil sie ihrem Vorbild nähergekommen sind, wodurch sie weiter zahlungsbereit zum Geschäftserfolg beitragen. Für die Krankenkassen geht es darum, Menschen zu einem gesünderen Lebensstil anzuspornen, wodurch Ressourcen geschont und die Solidargemeinschaft entlastet wird. Und die kirchlichen Anbieter mit Produkten wie Evermore? Die nehmen eine Sonderrolle ein, weil sie eine Optimierung der eigenen Glaubenspraxis ermöglichen. Mit einer App, die den Anspruch hat, zum Innehalten anzuleiten, Zuversicht zu geben, Kraft und Trost zu spenden, indem sie Gottes Gegenwart aufzuspüren hilft, können Menschen Halt im Leben finden, der befreiend wirkt. Es ist diese technisch vermittelte Praxis, die das Mensch-Gott-Verhältnis in Erinnerung ruft und somit Menschen resilienter macht im Umgang mit den Möglichkeiten (auch des Scheiterns), die mit jenen Angeboten verbunden sind, die Menschen mehr Effizienz für ihren Lauf im Hamsterrad versprechen. Das christlich motivierte Pendant dazu bietet eine subversive Art der Optimierung, die alle anderen relativiert.

Denn dass es allen rationalen Optimierungserwägungen zum Trotz am Ende doch oft ein nie erreichbares Vorbild seiner selbst bleibt, das der Mensch anstrebt, weil Geist, Fleisch oder beide unwillig sind, davon hängt kein Heil ab und das Abendland (bzw. die Solidargemeinschaft) wird davon auch nicht untergehen. Wer sein Leben von Gnade getragen weiß, kann seinen Unzulänglichkeiten wie auch seinem Scheitern beim Größerwerden immer wieder aufs Neue mit protestantischer Gelassenheit begegnen.

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