Deutungen des Kreuzes Eine muslimische Perspektive

Das Kreuz wird oft als Trennlinie zwischen Islam und Christentum verstanden. Es gibt es aber durchaus auch im Islam positive Deutungen des Kreuzes.

Obwohl das Kreuz eines der ältesten und zugleich wichtigsten Symbole der Menschheit ist, wird es heute aus islamischer Perspektive fast ausschließlich als christliches Symbol wahrgenommen, das die Kreuzigung Jesu darstellt. Und weil Muslime diesen Gedanken des Todes Jesu am Kreuz ablehnen, wird jegliche Darstellung des Kreuzes vermieden. Manche muslimische Gelehrte gehen sogar so weit, einem Muslim, der ein Kreuz trägt, zum Beispiel als Halskette oder als Symbol auf dem T-Shirt, die Zugehörigkeit zum Islam abzusprechen. Das Kreuz wird somit als Trennlinie zwischen Islam und Christentum gelesen.

Wenn allerdings Gelehrte den Islam erklären, dann nutzen sie in ihrer Körpersprache unbewusst das Kreuzsymbol, um auf die Verbindung zwischen einer vertikalen und einer horizontalen Seite des Islams zu verweisen, erstere bezieht sich auf die Gott-Mensch-Beziehung und letztere auf die Mensch-Mensch-Beziehung. Sie zeichnen oft zwei entsprechende Linien in der Luft. Eine weitere Dimension im Zusammenhang mit dem Kreuz bezieht sich auf den christlichen Gedanken, dass Gott seinen Sohn für die Menschheit geopfert hat. Wir haben es also mit einem hochempathischen Gott zu tun, der bereit ist, alles für uns Menschen zu opfern. Aber inwieweit wird dieses Bild von Gott vermittelt? Überwiegt nicht oft ein Bild eines angstmachenden Gottes, zumindest im islamischen Kontext? Im Folgenden gehe ich auf diese Deutungen des Kreuzes etwas ausführlicher ein.

Das Kreuz als Symbol der Abgrenzung?

Das Thema der Kreuzigung Jesu wird im Koran an einer einzigen Stelle (Koran 4:157) erwähnt. Dort wird eine jüdische Behauptung zurückgewiesen, wonach die Juden behaupteten: „›Wir haben Christus Jesus, den Sohn Marias, den Gesandten Gottes getötet!‹ Aber sie haben ihn nicht getötet und haben ihn auch nicht gekreuzigt.“ Hier wird nur deutlich gemacht, dass es nicht die Juden waren, die Jesus getötet haben. Diese Behauptung, wonach es Juden waren, die Jesus getötet haben, ist keine Erfindung des Korans, sondern spielte in der jüdischen antichristlichen Polemik durchaus eine Rolle, wie eine entsprechende Aussage im Talmud beweist. Bestritten wird im Koran lediglich, dass sie, also die Juden, Jesus getötet und gekreuzigt haben, nicht aber, dass er überhaupt getötet und gekreuzigt wurde. Man kann diese Stelle also auch so verstehen, dass hier deutlich wird, dass Gott in allem der handelnde Akteur bleibt und sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen lässt. Die Juden hätten dann Unrecht, weil sie für sich reklamieren, was in Gottes Vorsehung beschlossen wurde.

Diese koranische Stelle wurde wahrscheinlich in einer Zeit offenbart, in der Mohammed sich in Konflikten mit den jüdischen Clans Medinas befand. Es könnte also sein, dass diese Clans ihm deutlich gemacht haben, dass sie ihn genauso erledigen werden, wie sie auch schon Jesus erledigt haben. Mohammed könnte erwidert haben, dass sie niemals die Macht haben würden, einen Propheten zu töten und auch im Sterben Jesu Gott der eigentliche Akteur war. Das heißt, Jesus wäre nie am Kreuz gestorben, wenn das nicht in Gottes Heilsplan vorgesehen gewesen wäre. Da Gott offensichtlich keine derartigen Pläne mit Mohammed habe, würden die Juden ihn auch nicht töten können – so könnte Muhammeds Argument gelautet haben.

Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Koran an dieser Stelle deutlich machen will, dass nicht die Juden, sondern die Römer die Hinrichtung Jesu vollzogen haben. In der Tat wissen wir heute, dass die Evangelien aus missionstaktischen Gründen die Schuld der Römer an der Hinrichtung Jesu eher kleinreden und es durchaus sein kann, dass doch die Römer die eigentlichen Drahtzieher der Ermordung Jesu waren. Immerhin war die Kreuzigung sicher eine Form von Strafe, die nur den Römern zustand, und die Versuche der Evangelien, hier trotzdem den Juden die Hauptschuld zu geben, wirken etwas gekünstelt. Gottes projüdische Intervention würde dann gewissermaßen in Hinblick auf den um sich greifenden Antijudaismus die Juden in Schutz nehmen und zugleich deutlich machen, dass nicht Folter und Tod das letzte Wort über Jesus von Nazaret hatten, sondern Gott ihn zu sich erhoben hat, er also auferstanden ist. Der Koran leugnet keineswegs den Tod Jesu, sondern unterstreicht einfach nur, dass er dem Hass seiner Gegner nicht definitiv unterlegen ist. Diese Erkenntnis lädt ein, in der Frage der Kreuzigung Jesu keine scharfe Trennlinie mehr zwischen Islam und Christentum zu ziehen.

Das Kreuz als Symbol einer kooperativen Gott-Mensch-Beziehung

Die vertikale Gott-Mensch-Beziehung will in der horizontalen Beziehung zu seinen Mitmenschen, aber auch zur Schöpfung bezeugt werden. Wenn der Koran das Ziel göttlichen Schöpfungshandelns als Suche nach Mitliebenden bestimmt, „er liebt sie und sie lieben ihn“ (Koran 5:54), dann ist damit Freiheit bereits mitgedacht. Und so ist die Geschichte Gottes mit uns Menschen notwendigerweise eine Freiheitsgeschichte und ein Freiheitsgeschehen, denn Liebe setzt wirkliche Freiheit voraus, Freiheit ist das Gesetz der Liebe.

Siegel der Freiheit ist nach koranischem Zeugnis die Bestimmung des Menschen zum Kalifen (Statthalter), einem Medium der Verwirklichung von Gottes Liebe und Barmherzigkeit. Um die Freiheit des Menschen zu schützen, greift Gott nur auf eine Weise in die Welt ein, die diese Freiheit des Menschen nicht beeinträchtigt. Er greift also nicht unmittelbar auf der vertikalen Achse ein. Es ist nicht Gott, der unmittelbar in die Welt eingreift, um Hungersnöte zu beseitigen bzw. Kriege oder das Böse zu verhindern, sondern wir Menschen sind die „Hände“ Gottes, um dies zu verwirklichen, wenn wir uns in Freiheit zur Verfügung stellen. Der Mensch hat somit eine verantwortliche Teilhabe an Gottes schöpferischem Wirken (die horizontale Achse). Indem sich der Mensch Gott öffnet und sich als Medium der Verwirklichung von Gottes Liebe und Barmherzigkeit zur Verfügung stellt, verwirklicht er seine eigene Freiheit und somit sein eigenes Wesen.

Die vertikale und die horizontale Achse des Kreuzes.

Barmherzigkeit wird dann zu einem gelebten Prinzip, das den Alltag bestimmen will. Sie will hier und jetzt durch den Menschen selbst verwirklicht werden. Es ist der Mensch, der Gottes Barmherzigkeit lebendig macht. Dort, wo man die Hand der Barmherzigkeit und der Güte ausstreckt, manifestiert sich Gott. Jede sinnvolle Handlung, die einen Beitrag zu einem schöneren, friedlicheren, verantwortungsvolleren und erfüllteren Leben voller Liebe und Barmherzigkeit leistet, ist Gottesdienst. Jede Verringerung von Not und Leid ist Gottesdienst. Man dient Gott, indem man der Schöpfung dient. Je mehr man den Geschöpfen dient, desto mehr dient man Gott.

Der Mensch ist zum barmherzigen Handeln hier und jetzt aufgefordert; sein Handeln ist eine notwendige Antwort auf die Barmherzigkeit Gottes. Eine Verweigerung der Barmherzigkeit gegenüber anderen ist ein Nein zu Gottes Barmherzigkeit. Die Liebe des Menschen zu Gott muss sich in der tätigen Barmherzigkeit in der Gesellschaft ausdrücken. Diese Berufung zur zwischenmenschlichen Barmherzigkeit stellt den Kern des islamischen Ethos dar.

Vorstellungen, wonach Gottesdienst lediglich darin bestünde, bestimmte Rituale wie Beten und Fasten zu verrichten, höhlt die Religion aus und kappen jeglichen Bezug zur Lebenswirklichkeit.

Das Kreuz als Symbol der Empathie Gottes

Die Kreuzigung Jesu symbolisiert im Christentum die Erlösung der Menschheit von Leid und Tod durch Jesus Christus. Es symbolisiert dessen Opfertod. Im Zeichen des Kreuzes kommt vor allem die Sühne zum Ausdruck, welche Jesus Christus durch sein Sterben am Kreuz für das Heil der Menschen erwirkt hat. Gott hat seinen Sohn für die Erlösung der Menschheit geopfert. Wir haben es hier also mit einem durch und durch empathischen Gott zu tun.

Auch die Reaktionen des Korans auf die Zurückweisung des Angebots Gottes zeigen, dass wir im Koran keinem gleichgültigen Gott begegnen, den es unberührt lässt, wie sich die Menschen zu seinem Wort verhalten. Die göttlichen Zeichen, mit denen die Menschen zu Gott gerufen werden, sind Ausdruck göttlicher Emotionalität, die der Koran mit der Milde und Barmherzigkeit Gottes beschreibt, um die Menschen auf den Weg Gottes zu bringen: „Er ist es, der auf seinen Knecht klare Verse herniedersandte, um euch herauszuführen aus der Finsternis zum Licht. Siehe, Gott ist zu euch wahrhaft gütig, barmherzig“ (Koran 57:9). Eben diese Barmherzigkeit ist also eine Macht in Gott, die sein Innerstes in Mitleidenschaft zieht und so Gottes Präsenz in der Not der Gottferne deutlich macht. Und wenn es um die Armen und Bedürftigen geht, dann identifiziert sich Gott mit ihrem Leid, er bittet sogar für sich selbst um eine Spende bzw. ein Darlehen:

„Wer ist es, der Gott eine Spende gibt, damit er es ihm bestimmt. Reicher Lohn ist ihm bestimmt. Siehe, die Frauen und Männer, die Almosen geben und Gott Spende gewährten, denen wird doppelt gegeben, und ihnen ist reicher Lohn bestimmt“ (Koran 57:11.18). Dies erklärt die sich im Koran wiederholende ermahnende Botschaft, gütig zu den Waisen und Bedürftigen zu sein (vgl. Koran 93:9-10; 89:17-18). Wer die Waisen zurückstößt und nicht zur Speisung des Armen anhält, der glaube nicht an die Begegnung mit Gott (Koran 107:1-3). Auch im Koran gibt es also Indizien dafür, dass wir Gott vor allem im Leidenden und im Bedürftigen begegnen.

Im Christentum wie im Islam haben wir es mit einem durch und durch empathischen Gott zu tun.

Die Zurückweisung des Wortes Gottes lässt Gott nicht unberührt, der Koran beschreibt dies als Akt der Kränkung Gottes und seines Propheten: „Siehe, die Gott und seinen Gesandten schmähen, die wird Gott im Diesseits und im Jenseits verfluchen. Erniedrigende Strafe hält er für sie bereit“ (Koran 33:57). Diese drohende Strafe ist als Ausdruck der Verletztheit Gottes zu verstehen. Gott lässt sich treffen von der Ablehnung des Menschen. Sie tut ihm weh.

Oft achten wir in unserer Koranlektüre nur auf die Drohungen, die der Koran in diesen Zusammenhängen ausspricht. Aber diese immer wiederkehrenden Drohungen sind als Ausdruck dafür zu verstehen, dass es Gott nicht gleichgültig ist, ob die Menschen seine Zusage annehmen oder nicht. Die drastischen Strafen, mit denen Gott immer wieder droht, dürfen also nicht als Ausdruck von Gottes Brutalität und Gewaltbereitschaft gelesen werden, sondern zeigen die Radikalität und die Ernsthaftigkeit seiner Bemühungen um den Menschen. Sie sollen den von Gott abgewandten Menschen nicht verdammen, sondern ihn eindringlich zu einem neuen Lebenswandel rufen – einem Lebenswandel, der Gott ins Zentrum seines Lebens rückt und auf dieser Basis solidarisch mit den Menschen ist, die unsere Hilfe brauchen.

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