Mit der Live-Show „Die Passion“ hat der Privatsender RTL die Leidensgeschichte Jesu in diesem Jahr zum zweiten Mal in einer deutschen Großstadt „nachinszeniert“ und im Fernsehen übertragen. Bedeuten solche Events eine missionarische Chance oder den Ausverkauf des Evangeliums?
„Die Passion“ hat sich zum Ziel gesetzt, die Leidensgeschichte Jesu in die Gegenwart zu übertragen: Jesus kommt mit seinen Jüngerinnen und Jüngern im Zug am Hauptbahnhof in Kassel an, das letzte Abendmahl wird in einer Kneipe eingenommen, Petrus verleugnet Jesus im Dönerladen etc. Der Erzähler Hannes Jaenicke führt durch die Live-Show, die Hauptrollen werden von im RTL-Kosmos bekannten TV-Stars gespielt. Unterbrochen werden die Handlungen immer wieder durch verschiedene Popsongs, die die erzählten Szenen nochmal in emotionaler Weise verdichten sollen. Außerdem läuft parallel ein zweiter Handlungsstrang: Durch Kassel wird ein großes weiß-leuchtendes Kreuz von Menschen getragen, die interviewt werden. Unter dem Leitgedanken „Wir alle haben unser Kreuz zu tragen“ kommen hier Menschen mit existentiellen Erfahrungen zu Wort.
Wir haben einen Kritiker und einen Befürworter des Events um ihr Votum gebeten.
Das Kreuz als Show-Event
Von Raphael Zager
Auch wenn ich als Theologe wahrscheinlich nicht zur Zielgruppe gehöre und ich grundsätzlich Versuche gutheiße, biblische Inhalte einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln, möchte ich dennoch auf einige Aspekte kritisch hinweisen, die mir aufgefallen sind.
Vorgetäuschte Historizität
Einerseits nimmt man sich in der Inszenierung alle Freiheit, die Geschichte von Jesus in die Gegenwart zu übertragen. Andererseits wird oftmals suggeriert, bestimmte Begebenheiten hätten tatsächlich so stattgefunden, wie sie biblisch bezeugt sind. Eingangs betont der Erzähler, es handele sich hier um „kein Märchen“, denn „so oder so ähnlich“ sei es „wirklich geschehen“. Auch gegen Ende betont Pilatus noch einmal, während er eine altertümlich anmutende rot-goldene Bibel hochhält: „Damit ist die Geschichte zu Ende erzählt – es steht ja alles hier drin!“
Dass in der Bibel die Passionsgeschichte tatsächlich innerhalb von vier teilweise deutlich voneinander abweichenden Evangelien dargestellt wird, verschweigt man den Zuschauenden hier ebenso wie die Tatsache, dass diese Texte viele Jahrzehnte nach den geschilderten Ereignissen entstanden sind und daher von späteren, nachösterlichen Glaubensaussagen sowie legendarischen Elementen durchzogen sind. Zugleich werden aber auch entscheidende gesichert historische Aspekte der Passion Jesu verändert oder ausgeklammert: So umschifft die RTL-Passion (vielleicht aus Gründen der politischen Korrektheit?) beispielsweise die Mitverantwortung der jüdischen Autoritäten am Tod Jesu und zeichnet Jesus als einen politischen Revolutionär, der von Judas an die Polizei (!) verraten wird.
Eine Simplifizierung oder Elementarisierung des biblischen „Stoffs“ ist wohl in einem solchen Setting unvermeidlich und didaktisch sinnvoll. Die Form, in der das hier geschieht, halte ich aber für mehr als bedenklich.
Große Gefühle – wenig Theologie
Warum die Passion zur „größten Geschichte der Menschheit“ geworden ist? Weil sie von „Freude, Liebe, Verrat, Leiden, Vergebung, Tod und Hoffnung“ handelt. So führt der Erzähler in die Passionsgeschichte ein. Und auch im Laufe der Inszenierung verstärkt sich der Eindruck: Es geht in allererster Linie um menschliche Emotionen und Konflikte, die nochmal durch die Popsongs unterstrichen werden. Jesu Ankündigung des Endgerichts, seine Botschaft vom nahen Reich Gottes, oder aber die späteren theologischen Deutungen von Jesu Kreuzestod und Auferstehung, die wir etwa bei Paulus oder Johannes finden, wir suchen sie hier vergebens. Gott spielt in diesem Show-Event allerhöchstens eine Nebenrolle.
Zu fremd? Zu anstößig für ein RTL-Publikum? Da bleibt man doch lieber bei der (Nächsten-)Liebe, da können sicher alle mitgehen. Jesu Botschaft, die „beste message ever“ wird den Zuschauenden am Ende so zusammengefasst: „Es geht nämlich letzten Endes nur um bedingungslose Nächsten- und wahre Liebe“. Wie Jesus tragen wir alle unser Kreuz. Ostern sei dann der „rosa Schimmer“, den man nach einer „dunklen Nacht“ am Himmel sehen kann. Die Passion zeige uns: „Liebe ist alles, dann wird alles gut – bedingungslos.“ Gelungene Übertragung in die Gegenwart? Oder doch eine stark trivialisierende, ja anbiedernde Reduktion christlicher Glaubensinhalte, die eine empfindliche theologische Leerstelle lässt?
Lasst uns PRO-testantisch sein!
Von Fabian Vogt
Kurz vor Heiligabend wird in der ARD dieses Jahr ein wunderschöner Film gezeigt: „Bach – ein Weihnachtswunder“. Er erzählt eindrücklich, wie der Rat der Stadt Leipzig seinem Thomaskantor 1734 verbieten will, das Weihnachtsoratorium aufzuführen. Begründung: Dieses seltsame Machwerk sei viel zu „opernhaft“. Mit anderen Worten: zu viel Zeitgeist, zu viel Populärkultur, zu viel Show! Muss man sich dem Volk so anbiedern?
Nun will ich das Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach künstlerisch nicht mit der „Passion“ bei RTL auf eine Stufe stellen, aber die Argumente, die jeweils gegen diese Events vorgebracht wurden und werden, gleichen sich doch auf überraschende Weise. Vereint in der Sorge: Eine solch populäre Inszenierung einer biblischen Geschichte wird deren Potential nicht gerecht!
Reichweite über das kirchliche Milieu hinaus
Nun, der Schauspieler Devid Striesow, der den Komponisten im Film spielt, lässt Bach sehr bestimmt über das Ziel des Weihnachtsoratoriums sagen: „Ich bringe das Jesuskind in ihr Leben.“ Und meint damit: mit (damals) aktueller Musik, ganz anders als Predigten, theologische Abhandlungen oder reine Kantaten das könnten. Mit zeitgemäßen musikalischen Formen geistliche Botschaften vermitteln: Darum geht es! 1734 und heute. Und die Tatsache, dass 2022 mehr als 3 Millionen und 2024 mehr als 2 Millionen Menschen die Übertragung der „Passion“ sehen wollten, ist ja zumindest bemerkenswert.
Vor allem, weil das großenteils Menschen waren, die von den tradierten kirchlichen Angeboten selten erreicht werden. Das heißt: Ein derartiges Konzept sprengt die nachgewiesene Milieuverengung in der Kirche endlich mal auf. Tatsächlich war es so: Während die Feuilletons der Zeitungen meist süffisant über die Adaption der Passionsgeschichte hergezogen sind, haben unzählige Zuschauerinnen und Zuschauer in den sozialen Medien gepostet, wie sehr sie davon ergriffen waren.
Niederschwelliger Zugang zur biblischen Botschaft
Muss mir „Die Passion“ gefallen? Nein! Und ich darf auch kritische Anfragen daran haben. Genauso wie an jede klassische Predigt. Aber ich sollte zugleich wahrnehmen, dass ein RTL-affines Publikum vermutlich selten in die Matthäuspassion oder einen Ostergottesdienst geht … und durch solch ein mediales Angebot überhaupt einen Zugang zu den biblischen Inhalten bekommt. Was übrigens gute Tradition ist: Schon Jesus hat die Botschaft von der Liebe Gottes in seinen Gleichnissen bewusst in die Sprache, die Bilderwelt und die Kommunikationsformen seiner Hörerschaft gepackt.
Von Paulus ist der starke Satz überliefert: „Ich habe mich für alle zum Sklaven gemacht (ihren Bedürfnissen untergeordnet), um möglichst viele zu gewinnen. Den Juden bin ich ein Jude geworden, den Griechen ein Grieche, den Gesetzlosen ein Gesetzloser, den Schwachen ein Schwacher“ (1. Kor 9,20-22). Wer weiß, vielleicht würde er heute sagen: „Den RTL-Affinen bin ich ein RTL-Affiner geworden.“ Nichts anderes versucht „Die Passion“. Gut so!