Gefängnismauern teilen unsere Gesellschaft scheinbar in gute Menschen und böse, die dahinter Strafen verbüßen. Jesus rief dazu auf, solches Denken zu durchbrechen und auch Gefangenen als Mitmenschen zu begegnen. Eine Perspektive für den modernen Strafvollzug?
Ungehörte Schreie aus den Gefängniszellen
An einem Herbsttag fällt die Abendsonne auf eines der insgesamt sieben Hafthäuser der Justizvollzugsanstalt (JVA) für Frauen in Schwäbisch Gmünd. Es ist ein klassischer roter Backsteinbau, wie man Gefängnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut hat. Wir kennen die Innenperspektive dieser Bauten aus Filmen. Für einen Moment leuchtet das Gebäude vor meinen Augen in flammend kräftigem Rot. Vor meinem inneren Auge sehe ich die Menschen hinter den vergitterten Zellenfenstern. Sie sind normalerweise nicht zu sehen, denn um aus der Zelle ins Freie zu schauen, müssten sie auf einen Stuhl steigen. Eine Passage aus dem Büchlein Der Mensch in seiner Zelle fällt mir ein. Es gibt eine Sendung des Schweizerischen Rundfunks aus der Passionswoche 1951 wieder: „Der Schrei, der nicht enden wollende Angstschrei, der aus diesen Hunderten von Häusern der Gefängnisse emporsteigt, aus diesen Tausenden von Zellen, in die Menschen lebendigen Leibes als in ihr Grab geworfen wurden, ist ein so dringender Ruf, dass es unmöglich ist, ihn nicht hören zu lassen, um jedem Glied der Kirche und jedem Glied der menschlichen Gesellschaft zu helfen, sich im Gehorsam, in einem Erbarmen ohne Grenzen für das Unglück der Gefangenen, im Durst nach der Gerechtigkeit und in der Liebesglut für die Freiheit zu erheben.“
Was für ein flammender Apell. Er könnte so heute nicht mehr ausgesprochen werden, nicht nur wegen eines uns fremd gewordenen Pathos. Er scheint aus der Zeit gefallen. Besser: aus einer Zeit zu kommen, die den „humanen Strafvollzug“ unserer Tage nicht kennt. Und doch kam mir dieses Bild der ungehörten Schreie aus Tausenden von Zellen ganz aktuell in den Sinn. Wie ist es um den Strafvollzug unserer Tage in Deutschland bestellt? Ich war gerade aus einer meiner wöchentlich stattfindenden Bibelgruppen aus der Untersuchungshaft gekommen, als die Abendsonne auf das Gefängnis schien. Mit zwölf Frauen, die acht verschiedene Sprachen sprechen, versuchten wir uns im „Bibel Teilen“ zum Predigttext des vor uns liegenden Sonntages. Beim Stichwort Nächstenliebe brach es aus einigen Frauen heraus: Die Sorge um den schwer an Krebs erkrankten Ehemann; keine Nachricht von der kranken Mutter, der kranken zweijährigen Tochter zu haben; beim Geburtstag des 15-jährigen Sohnes nicht dabei zu sein. Wenn Menschen ins Gefängnis kommen, sind ihre Angehörigen sehr oft mit bestraft. Besonders hart trifft es die Kinder. Sehr schlimm sind der Schmerz und die Ohnmacht, wenn man keine Nachricht hat, wenn es denen „draußen“ schlecht geht, die kranke Mutter oder gar das Kind stirbt. Dann sind die Schuldgefühle und der Schmerz unermesslich.
Wo Kreuzesnachfolge konkret wird
Gefängnisseelsorge begleitet Menschen im Gefängnis. In ihrer Not. In ihrer Schuld. In ihren Fragen. Unsere Aufgabe ist es, „im Auftrag Jesu ins Gefängnis zu gehen.“ So steht es im Leitbild für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Baden-Württemberg. Und wir zitieren darin den berühmten Vers aus Matthäus 25,36: „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen.“ Nachfolge im Zeichen des Kreuzes bedeutet in der Seelsorge im Gefängnis in vielen Situationen, sehr viel Ohnmacht mit auszuhalten. Manchmal ist es schon viel, dass man einfach dableibt. Unter Umständen geht die Begleitung über Jahre.
Stille ist ein Weg der Annahme – der Dinge und von sich selbst.
Eine Frau, die zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe wegen Mordes an ihrem Mann verurteilt worden war, sagte kurz vor dem Ende der 15 Jahre Haft zu mir: „Dass Sie jedes Jahr eine Schweigewoche mit uns gemacht haben, das hat mir geholfen, langsam trotz dieser Tat zu meinem Leben zu stehen. Es bleibt doch mein Leben. Es ist sehr schwer, weiterzuleben, wenn man einen Mord begangen hat, den man bereut. Aber ich kann es nicht mehr rückgängig machen.“
Seit dem Jahr 2009 gibt es jedes Jahr für inhaftierte Frauen der JVA Schwäbisch Gmünd das Angebot von „Kloster im Gefängnis“, zusätzlich zur wöchentlichen Meditation. Die Tage im Schweigen sind eine Möglichkeit, aus dem als belastend empfundenen Haftalltag wieder zu sich zu finden. Nicht zuletzt, um das eigene Leben und die Taten anzuschauen und nicht zu verdrängen. Stille ist ein Weg der Annahme – der Dinge und von sich selbst. Viele Frauen sagen nach den Tagen, sie seien darin auch Gott nahegekommen. Sie könnten wieder mit neuer Zuversicht weiterleben.
Bleibende Problematik des Systems Gefängnis
Diese Aussagen verweisen zugleich auf einen dramatischen Befund. Er knüpft an das Zitat aus dem Jahr 1951 an. Menschen werden auch im „modernen Strafvollzug“ des 21. Jahrhunderts zunehmend wieder einfach weggesperrt und ihren nicht gelösten Problemen überlassen. Verwahrvollzug statt Behandlungsvollzug. Resozialisierung, das starke Paradigma der Jahre der Reform ab 1970, ist längst abgelöst durch eine immer rigidere Praxis von Sicherheit und Ordnung. Der einzelne Mensch mit seinem Bedürfnis, Gehör zu finden, oder sich gar weiterzuentwickeln, gerät immer mehr aus dem Blick.
Dies hat auch, wenn auch nicht allein, mit einer wachsenden Überforderung des Strafvollzuges zu tun. Beinahe 15% der Inhaftierten verbüßt eine Ersatzfreiheitsstrafe für eine Geldstrafe, die er oder sie nicht bezahlen konnte. Das sind also arme Menschen, oft auch psychisch Erkrankte. Sie kamen in Freiheit bereits nicht mit ihren Problemen klar. Oft binden sie sehr viel Energien des Personals, weil sie mit der Situation der Inhaftierung noch weniger zurechtkommen als andere.
Die Evangelische Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland konstatierte im Jahr 2017 in ihrer Schrift „Zur Zukunft des Gefängnissystems“: „Inhaftierte arbeiten sich in ihrer Zeit im Gefängnis eher am ›System‹ und seinen Begleiterscheinungen ab, als dass sie sich mit ihrer Biografie beschäftigen. Die durch das Gefängnissystem erzeugten Phänomene tragen nicht zu einer produktiven Verarbeitung von Schuld und zur Übernahme von Verantwortung bei.“ Auch wir als im System für diese Menschen Tätige setzen einen Großteil unserer Energie dafür ein, die schädigenden Folgen der Haft wie Drogen- und Subkultur, psychische Notlagen, Perspektivlosigkeit, Aggression und Gewalt, abzumildern. Diese kritische „Diagnose“ der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge aus dem Jahr 2017 findet sich unter www.gefaengnisseelsorge.de.
Schuld – Gerechtigkeit – Versöhnung?
Und dennoch und gerade deshalb feiern wir jeden Sonntag Gottesdienst. Wir bezeugen die Botschaft von der Gnade Gottes in einem Zwangskontext. Wir beten mit Gefangenen. Der intensivste Moment eines Gottesdienstes ist oft der, wenn Inhaftierte Kerzen entzünden in einer Sandschale bei der Osterkerze. Ihr Licht, ihr Leben, ihre Lieben in das Licht Jesu Christi hineinstellen. Dann verharren sie für einen Moment und sind bei sich. Wichtigster Inhalt von Gefängnisseelsorge ist es, Freiräume für Gefangene zu eröffnen. Dass unsere Arbeit gleichzeitig immer wichtiger für Bedienstete in den Gefängnissen ist, hat damit zu tun, dass auch sie in einem Kontext arbeiten, der nicht viele Spielräume lässt. „Freiheit mitten im Zwang […] ist die täglich neue Möglichkeit“, hat der einstige Berliner Theologe Helmut Gollwitzer treffend für mich den Horizont dieser Aufgabe formuliert. Denn der Durst nach Freiheit und nach Gerechtigkeit ist für uns sehr präsent.
Der Durst nach Freiheit und nach Gerechtigkeit ist für uns sehr präsent.
Wir teilen ihn oft mit Inhaftierten. Wir fragen uns in der Seelsorge manchmal, ob es gerecht ist, ganz legal mit Waffenproduktion und -export, also mit dem Töten von Menschen, hohe Rendite zu erzielen. Für einen Mord sitzen Menschen mindestens 15 Jahre ihres Lebens in einem Gefängnis. Ist es gerecht, dass mit der Spekulation mit Lebensmitteln an der Börse legal Profite erzielt werden dürfen, während Menschen für Ladendiebstähle in Gefängnissen sitzen? In der Innenperspektive lernt man: Je größer der Betrug, desto höher die Wahrscheinlichkeit, nicht dafür in ein Gefängnis zu kommen. Diese Ungleichheiten vor dem Gesetz sind oft sehr schwer auszuhalten.
Nachfolge im Zeichen des Kreuzes bedeutet aber sehr oft auch, sich dem Abgründigen von Taten, zu denen einzelne Menschen fähig sind, stellen zu müssen. Die Opfer von Straftaten kommen in unserem System des Strafvollzuges jedoch zu wenig in den Blick. Nur zaghaft gibt es Ansätze von „Restorative Justice“, wiederherstellender Gerechtigkeit. Sie ist eine Aufgabe der Zukunft. Eine Gesellschaft, die straffällig gewordene Menschen nicht einfach nur wegschließt, zum Preis eines zweifelhaften Gewinns, ist meine Vision. Denn die Perspektive: Im Gefängnis sind die „Bösen“ – draußen sind wir „Guten“ ist sehr schlicht und sehr falsch. Ich wünsche mir eine Neubelebung des Bewusstseins, dass schuldig Gewordene wie auch Opfer von Straftaten Teil unserer Gesellschaft sind und bleiben. Ich bin mir bewusst, dass auch ich, zumal in der globalisierten Welt, vielfach in Schuld verstrickt bin. Gerade angesichts einer um sich greifenden gesellschaftlichen Härte ist der Horizont von einem „Erbarmen ohne Grenzen“ für mich als Gefängnisgeistliche der bleibend gültige Horizont.