Kein anderes christliches Symbol weckt so viel Widerspruch wie das Kreuz. Im Dialog der Religionen erscheint es als Störfaktor, aus der Öffentlichkeit soll es tunlichst verschwinden, selbst im Gottesdienst ist es oft nur am Karfreitag Thema. Wären wir ohne die Rede vom Kreuz nicht besser dran?
Im Apostolischen Glaubensbekenntnis betonen Christinnen und Christen ausdrücklich, dass Jesus Christus unter Pontius Pilatus gelitten habe, dass er gekreuzigt wurde, dass er gestorben und begraben worden sei und »am dritten Tage auferstanden von den Toten«. Dieses Bekenntnis gründet auf dem historischen Faktum der Kreuzigung Jesu sowie den vielfältigen Interpretationen dieses Faktums durch die neutestamentlichen Autoren.
Interpretationen interpretieren
Christlicher Glaube gründet – wie alle Weltanschauungen – auf Interpretationen perspektivisch und selektiv wahrgenommener Wirklichkeit. Schriftliche Grundlage dieser Interpretationen ist die Bibel, also eine Bibliothek von 77 Schriften, in denen unterschiedliche Autoren in einem Zeitraum von etwa tausend Jahren ihre jeweilige Wirklichkeit als eine von Gott herkommende bzw. auf Gott zugehende, eine sich Gott verdankende bzw. von Gott zugemutete, in jedem Fall eine vor Gott zu lebende und zu verantwortende Wirklichkeit interpretierten. Dabei ist auch der Begriff »Gott« ein Interpretament, dem jeweils eine Gottesvorstellung zugrunde liegt. Christinnen und Christen (wie Jüdinnen und Juden) interpretieren Interpretationen, wenn sie sich ernsthaft mit biblischen Schriften beschäftigen. Und weil nun jede Interpretation »eine Entscheidung für eine bestimmte und gegen andere mögliche Interpretationen« ist, geschieht Theologie stets als »Streit der Interpretationen« (Ingolf U. Dalferth).
Der Kreuzweg Jesu
Vor genau zwanzig Jahren fokussierte sich der Regisseur Mel Gibson in seinem erfolgreichen wie umstrittenen Spielfilm »Die Passion Christi« auf die Darstellung des Leidens Jesu von dessen Verhaftung bis zu dessen Kreuzigung. Zwar wird auch die »Auferweckung« Jesu am Ende des Films thematisiert, aber der Schwerpunkt liegt auf Bildern der Gewalt: Jesus wird von römischen Soldaten gefoltert, skrupellos und mit einer gehörigen Portion Sadismus; Jesus trägt eine Dornenkrone, durch deren verursachte Wunden andauernd Blut über sein Gesicht fließt; schließlich wird er mit aller Brutalität an ein Kreuz genagelt, das er zuvor selbst tragen muss. Auf diesem Kreuzweg wird er von seiner Mutter Maria aufgesucht. Unter der Last des Kreuzes kraftlos zusammenbrechend, ist Jesus ihr ganz nahe, sieht ihr ins Gesicht und spricht zu ihr: »Siehe, Mutter, ich mache alles neu.«
Eine Begegnung Jesu mit seiner Mutter auf dem Weg zur Kreuzigung ist biblisch nicht bezeugt, ist aber eine traditionelle Erzählung der Römisch-katholischen Kirche. Theologisch bedeutsam sind die Worte, welche Mel Gibson Jesus in der Situation des völligen Zusammenbruchs sprechen lässt, ihm gleichsam in den Mund legt. »Siehe, ich mache alles neu!« – Das ist eine Zusage Gottes im letzten biblischen Buch, der Offenbarung des Johannes (Offb 21,5). Gibson interpretiert also innerbiblisch, d.h. er interpretiert den in den Passionserzählungen der vier Evangelien dargestellten Kreuzweg Jesu durch ein Wort aus einer prophetischen Schrift, und er lässt Jesus dieses Wort zu seiner Mutter sprechen, was wiederum einen Interpretationsraum eröffnet: Das Neue, das Gott (durch Jesus Christus) macht, relativiert die Bedeutung der biologischen Familie und überwindet sie – so meine biblisch begründbare Interpretation der betreffenden Filmszene (vgl. Mk 3,31-35; Joh 1,12 f.).
Das Kreuz Jesu: Ort der Begegnung Gottes
Indem Mel Gibson die Gottesrede »Siehe, ich mache alles neu!« Jesus unter der Last des Kreuzes sprechen lässt, lokalisiert er Jesu Kreuz als Ort der Begegnung Gottes. Und damit befindet er sich in guter neutestamentlicher Interpretationsgemeinschaft. In der Offenbarung des Johannes, aus der er zitiert, wird Jesus oftmals als »Lamm«, davon dreimal als »das geschlachtete Lamm« bezeichnet, was ausdrücklich auf Jesu gewaltsamen Tod hinweist. Neben dem Apostel Paulus ist aber vor allem der Schriftsteller Markus, dessen Evangelium den Evangelien von Matthäus und Lukas als Vorlage diente, ein Theologe des Kreuzes. In seiner Passionserzählung bekennt der römische Centurio (der bei Jesu Kreuzigung »dabeistand, ihm gegenüber«) unmittelbar nach Jesu wortlosem Todesschrei und unspektakulärem Gestorbensein: »Wahrlich, dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!« Einzig der Blick auf das Leiden und das Sterben Jesu bewegen bzw. nötigen den römischen Besatzungsoffizier zur Qualifizierung Jesu als Gottessohn (vgl. Mk 15,37-39). Es gilt: »Bei Markus fallen Pfingsten und Ostern im Karfreitag zusammen. Das Kreuz Jesu ist bei Markus der Kulminationspunkt der Theologie« (Paul-Gerhard Klumbies).
Menschliches Leiden als Ort verborgener Gottesnähe.
Diese Konzentration auf das brutale Faktum der Kreuzigung Jesu als Ort der Begegnung Gottes stößt bereits im Neuen Testament auf Widerspruch. Ein synoptischer Vergleich mit Matthäus und Lukas lohnt sich. Ich beschränke mich hier auf einen Blick in die matthäische Passionserzählung: Hier lässt der Evangelist unmittelbar nach Jesu Todesschrei die Erde beben, Gräber sich öffnen und Tote auferstehen. Das Bekenntnis des Centurios zur Gottessohnschaft Jesu bezieht sich nicht mehr auf dessen Leiden und Sterben am Kreuz, sondern auf das sich anschließende Spektakel (vgl. Mt 27,50-54).
Theologia crucis
Dass hier zwei Interpretationen, zwei Theologien, nebeneinander oder sogar gegeneinander stehen, ist offensichtlich. Hauptvertreter einer radikal kreuzestheologischen Interpretation des christlichen Glaubens ist nun aber der Apostel Paulus. Für ihn erweist sich das »Wort vom Kreuz«, also die Interpretation des Leidens und Sterbens Jesu durch die christliche Predigt, denjenigen als »Kraft Gottes«, die diesem Wort vertrauen (vgl. 1. Kor 1,18). Martin Luther hat später die Theologie der Herrlichkeit (theologia gloriae) von der Theologie des Kreuzes (theologia crucis) unterschieden. Die erste behauptet, in der Natur und in sogenannten Schöpfungsordnungen, in vermeintlich übernatürlichen Zeichen und Wundern, in bürgerlichen und staatlichen Ordnungen, in kirchlichen Räumen, Bräuchen, Liturgien und Ämtern Manifestationen Gottes zu erkennen. Die zweite verortet Gott im Schatten und unter den Opfern dieser vermeintlichen Sicherheiten, vertraut auf seine Anwesenheit inmitten seiner offensichtlichen Abwesenheit. Die Theologie des Kreuzes »identifiziert menschliches Leiden und Gottverlassenheit als den Ort verborgener, nur im Vertrauen zu erfassender Gottesnähe« (Notger Slenczka).
Das Wort vom Kreuz: die Selbstinterpretation Gottes
Wer ernsthaft nach Gott fragt und ihn finden bzw. erfahren will, muss ihn dort suchen, wo er gefunden und erfahren werden will. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass dieser Ort das Kreuz Jesu in seiner jeweiligen Interpretation durch die christliche Predigt ist, vorausgesetzt, die jeweilige Predigt ist das vorläufige Ergebnis und der Ausdruck des intensiven Ringens um ein aktuelles Verständnis des Kreuzes. Das »Kreuz« ist dabei – immer im Rückblick auf das historische Faktum – Symbol bzw. Metapher. Wenn sich nun Gott in der christlichen Predigt selbst zur Sprache bringt (wann und wo er will), dann ist das »Wort vom Kreuz« als »Selbstinterpretation Gottes« (Ulrich H.J. Körtner) zu verstehen und zu würdigen!
Die »Auferweckung« ist nicht das glückliche Ende einer vorübergehenden Gewaltgeschichte.
Doch welche Bedeutung hat dann »Ostern«, welche Bedeutung haben die »Auferstehung« bzw. »Auferweckung« Jesu? Zunächst müssen beide Begriffe unterschieden werden. Der Begriff »Auferstehung« begreift Jesus als handelndes Subjekt. Die »Auferstehung« Jesu ereignet sich bereits vor seiner Verhaftung als Aufstand gegen das religiöse und politische Establishment, und sie ereignet sich als Kreuzigung, indem Jesus bereit ist, die Konsequenzen seiner Verkündigung bis zuletzt zu ertragen. Bei Jesu »Auferweckung« ist Gott das handelnde Subjekt. Dieser Begriff bringt die christliche Gewissheit zum Ausdruck, dass sich Gott mit dem Gekreuzigten solidarisiert und identifiziert und dadurch selbst »mitten in den Folterungen und Schmerzen, Verbrechen und Justizmorden unserer Welt«, dass er also »mitten in der brutalen Wirklichkeit menschlicher Geschichte« steht (Hans-Joachim Kraus). Die »Auferweckung« ist deshalb nicht das glückliche Ende einer vorübergehenden Gewaltgeschichte, sondern der Hinweis darauf, dass Gott sich nur innerhalb und als Opfer dieser zu erkennen gibt. »Wohl gehören Kreuz und Auferstehung zusammen. Doch ist vorläufig allein der Gekreuzigte auferweckt« (Ernst Käsemann).
„Das Kreuz prüft alles.“
Dieses Diktum Martin Luthers erklärt die Theologie des Kreuzes zum Maßstab jedes christlichen Sprechens und Handelns. Diesen Maßstab heute zu bejahen, würde nicht bedeuteten, antike oder mittelalterliche Opfervorstellungen geistlos wiederzukäuen. Aber es bedeutete die permanente Infragestellung der Werte einer auf Leistung, Wachstum und Erfolg fixierten Gesellschaft und die Bereitschaft zum Widerspruch, zum Widerstand, zur Außenseiterposition.
Spirituell würde es bedeuten, »das Leiden Gottes in der gottlosen Welt mitzuleiden« (Dietrich Bonhoeffer). Der christliche Glaube wäre keine Wohlfühlreligion und die Kirche keine Kuschelgruppe. Walther von Loewenich, ein Interpret der Theologie Luthers, schrieb im Jahr 1954: »Wenn die kirchliche Verkündigung nicht mehr ein Stein des Anstoßes dem Volk ist, dann ist das ein Zeichen dafür, dass sie das Evangelium verraten hat.« Ihr müsste bescheinigt werden: Prüfung nicht bestanden.