Dialog und Widerstreit Kirche und moderne Kunst im Spannungsverhältnis

Seit der Säkularisierung im 18. Jahrhundert hat Kunst sich ihren eigenen Bereich geschaffen unabhängig von der Kirche und deren Bildersprache. Trotz dieser Ablösung und zum Teil auch Abkehr von der Religion gibt es nach wie vor Verbindungen zwischen modernen Künstlern und Theologie.

Religion und Kunst begegnen sich ständig. Nicht zufällig haben sich Begleitausstellungen der Kirchen zur documenta in Kassel, der größten Kunstausstellung der Welt, etabliert. Oft sind religiöse Bezüge in zeitgenössischer Kunst unverkennbar, indirekt oder direkt wie in den Christusübermalungen des österreichischen Künstlers Arnulf Rainer. Manche Künstler gestalten Kirchenfenster und stellen einen affirmativen Bezug zur Religion her. Andere setzen sich mit blasphemischen Werken bewusst vom Christentum ab, wie mit einem in Urin getunkten Kruzifix.

Tendenziell ist das Verhältnis von Kirche und modernen Künstlern eher ein schwieriges. Gerade in der evangelischen Kirche mit ihrer Konzentration auf das Wort hat der künstlerische Ausdruck weit weniger Beachtung gefunden als im Katholizismus und in der Orthodoxie, wo das Bild seit jeher eine wichtige Rolle spielt. Andererseits haben sich moderne Künstler immer gerieben an der Idee, dass Kunst als Dienerin in der Glaubensverkündigung dient. Sie haben dabei wie Marc Chagall eine eigenständige Foto:Formensprache entwickelt, sich aber auch in bewusster Abkehr von der Kirche auf die Eigenständigkeit der Kunst berufen oder haben den Weg der Provokation gewählt, wie Peter Lenk, dessen Statue Imperia in Konstanz die kirchliche und weltliche Macht satirisch aufs Korn nimmt.

Pionier im Dialog zwischen Kirche und Kunst

Als wir in der Redaktionskonferenz auf das schwierige Verhältnis von Kirche und moderner Kunst zu sprechen kamen, ist mir sofort ein Name in den Sinn gekommen, der dafür steht, einen Dialog zwischen beiden Seiten in Gang gebracht zu haben. Pfarrer Helmut A. Müller hat 15 Jahre lang das evangelische Bildungszentrum Hospitalhof in Stuttgart geleitet und sich dort mit Ausstellungen zeitgenössischer Künstler einen Ruf weit über die baden-württembergische Landeshauptstadt hinaus erworben. Im Ruhestand ist er in seine Geburtsstadt Nordheim zurückgezogen. Dort beobachtet er nicht nur den Kunstbetrieb, sondern richtet auch Ausstellungen aus.

Sein Engagement hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die moderne Kunst heute einen festen Platz in der evangelischen Kirche hat. So wurde auch beim Reformationsjubiläum der Dialog mit zeitgenössischen Künstlern gesucht. Von 1987 bis 2012 veranstaltete Helmut A. Müller mehr als 200 Ausstellungen im Hospitalhof und in der Hospitalkirche Stuttgart. Hier bot er vor allem jungen Künstlern eine Plattform. Immer wieder gelang es ihm auch, international bekannte Künstler nach Stuttgart zu holen, wie Jonathan Meese, Tobias Rehberger oder Christian Jankowski. Er rief die Initiative Kunst und Kirche ins Leben, die 1992 in die Gründung der Internationalen Gesellschaft für Gegenwartskunst und Kirche Artheon mündete, deren Präsident er bis 2012 war.

Kunst beheimatet in der Religion

Helmut A. Müller hat bei all seinen zum Teil provokanten und umstrittenen Ausstellungen, mit denen er insbesondere die Kritik evangelikal-pietistischer Kreise auf sich zog, eines am Herzen gelegen. In allen Ausformungen der modernen Kunst sieht er einen spirituellen Kern. Bei der Begründung dafür, warum der Austausch zwischen Kirche und zeitgenössischer Kunst für beide Seiten fruchtbar sein kann, schlägt Müller den Bogen von den frühesten Zeugnissen unserer Kultur bis heute. „Die Kunst ist ursprünglich beheimatet in der Religion“, erläutert der Theologe. Die Höhlenfunde auf der Schwäbischen Alb, die zu den frühesten Zeugnissen menschlicher Kultur gehören, seien Teile kultischer Angelegenheiten gewesen. Auch im jüdisch-christlichen Kontext habe Kunst immer eine Rolle gespielt. Müller erinnert an den künstlerischen Ausdruck in den Psalmen sowie an das Bild im Christentum als Ausdruck des Glaubens mit einer ganz eigenen Ausprägung im Katholizismus und in der Orthodoxie.

Der Mensch ist eine Bodenstation für etwas viel Größeres, und Kunstwerke sind Erdstationen, die etwas aus sich entlassen, was metaphysischen, spirituellen Charakter hat. Joseph Beuys

Inspiriert zur Beschäftigung mit Kunst wurde Müller durch den als „Kunstpfarrer“ bekannten Theologen Paul Gräb. Dieser hatte in den 50er Jahren in Baden begonnen, Kunstausstellungen zu organisieren, um Geld für seine diakonische Arbeit zu sammeln. Daraus erwuchsen Symposien, die als „Öflinger Modell“ bundesweit bekannt wurden, weil es dabei um einen neuen Dialog zwischen Kunst und Kirche ging. Antworten wurden dabei auf die Frage gesucht, wie Kirche mit autonomer Kunst umgeht.

„Daraus ist eine neue Bewegung entstanden im evangelischen Kontext“, erläutert Müller. Angeregt durch das Engagement von Gräb begann er, sich intensiv mit der Gegenwartskunst auseinanderzusetzen. Im Gegensatz zu dem in der protestantischen Theologie gepflegten intellektuellen Diskurs wollte er andere Zugänge zur Wirklichkeit auch im Rahmen der Kirche fruchtbar machen. Kunst habe sich seit der Säkularisierung im 18. Jahrhundert ihren eigenen Bereich geschaffen unabhängig von der Kirche und deren Bildersprache. Trotz dieser Ablösung und zum Teil auch Abkehr von der Religion sieht Müller eine Nähe zwischen modernen Künstlern und der Theologie. „Sie verhandeln in gleicher Weise das Ganze“, sagt er. Die Idee der Ganzheit liegt sowohl der Religion als auch der Kunst zugrunde. „Im Bildnis eines Menschen scheint das Ganze auf“, so Müller.

Die Ausstellungen waren deshalb für Müller nie Selbstzweck. Ein wesentlicher Bestandteil waren immer Gottesdienste und Bildmeditationen. Dabei hätten die Künstler sehr gern mitgewirkt, erinnert sich Müller. Die Begegnung mit der spirituellen Dimension der Werke hätten sie durchaus geschätzt. Dass es demgegenüber auch zu schweren Konflikten zwischen moderner Kunst und Religion kommen kann, räumt Müller ein.

Verletzung religiöser Gefühle durch avantgardistische Kunst

In der Zeitschrift Artheon hat sich der evangelische Theologe Friedrich Wilhelm Graf mit dem Thema grundsätzlich in einem Aufsatz befasst, der bis heute aktuell ist („Die Freiheit des Glaubens und die Autonomie der Kunst“. Artheon-Mitteilungen 28/29, November 2010). „Wir kennen aus der Geschichte der modernen Kunst immer wiederkehrende, immer neue Konflikte um avantgardistische Kunst. Es ist unschwer möglich, die Geschichte von religiösen Akteuren, Bischöfen, Kirchen, Landessynoden, landessynodalen Präsidien einerseits und Kunstproduktion andererseits als eine Konfliktgeschichte zu schreiben“, erläutert Graf. Er konstatiert, dass solche Konflikte zugenommen haben. Als klassisches Beispiel nennt er den dänischen Karikaturenstreit. „Religiös Erregte sagen, dass sie in ihrem Glauben verletzt worden seien“, heißt es.

Kunst hat immer was damit zu tun. Gerhard Richter (der sich selbst als Atheist bezeichnet) auf die Frage,
ob das abstrakte Raster-Bild im Kölner Dom für ihn auch eine religiöse Seite habe.

Die Debatte über das Fenster Gerhard Richters im Kölner Dom hat den damaligen Erzbischof von Köln, Kardinal Meisner, zu der Äußerung veranlasst, dass dies entartete Kunst sei. „Er hat eine Ausdrucksweise gewählt, die an die Sprache der Denunziation der avantgardistischen Kunst durch die Nationalsozialisten erinnert“, sagt Graf. Für den Kardinal gehöre diese abstrakte, nicht figürliche Kunst nicht in einen Kirchenraum. „Da haben Sie einen kleinen ästhetischen oder religionspolitischen Streit über die Präsenz moderner Kunst im kirchlichen Kontext“, meint Graf. Als weiteres Beispiel führt er Martin Kippenberger und dessen gekreuzigte Frösche an.

„Die ästhetisch wertkonservativen besonders Frommen nehmen den gekreuzigten Frosch zum Anlass, sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt zu zeigen. Und die anderen sind oft nicht weniger fanatische Verteidiger des progressiven Avantgardistischen“, beschreibt Graf die Konfliktlinien. Aus solchen Konstellationen würden sich Kulturkampf-Konfliktszenarien entwickeln, heißt es weiter.

Bilderstreit als Dauerbrenner

Der Konflikt um das Thema Bild und Verobjektivierung des Geistigen ist für den emeritierten Professor ein Grundkonflikt der Religionsgeschichte, nicht nur der christlichen, sondern auch der jüdischen und auch der islamischen. Bilderstreit ist laut Graf ein Dauerbrenner in den Christentumsgeschichten. „Wir kennen deutlich bilderfeindliche ikonoklastische christliche Überlieferungen, also bildzerstörerische. Spannende Beispiele sind für uns nahe liegend, wenn Sie sich sozusagen die oberdeutsche, die reformierte, die calvinistische Reformation anschauen, wo sie diese kunstzerstörerischen Bilderstürmereien hatten. Wir haben wunderbare Berichte, wie die Calvinisten das gemacht haben. Sie haben eigens Leitern konstruiert, damit sie auch ganz oben abhängen und zerstören konnten usw.“, erläutert der evangelische Theologe.

Für mich stellt ein Kirchenfenster die durchsichtige Trennwand zwischen meinem Herzen und dem Herz der Welt dar. Marc Chagall

Für Graf ist die Kunstfreiheit kein Freibrief für alles. Er hält es  durchaus für gerechtfertigt, von kirchlicher Seite eine Grenzlinie zu ziehen – der klassische Fall ist für ihn in diesem Zusammenhang die Pornographie. „Meine zentrale These lautet: Gesellschaften unseres Typs sind geprägt durch mehr Verschiedenheit. Mehr Verschiedenheit bedeutet in aller Regel mehr Konflikt“, betont er. Dann werde man einfach davon ausgehen müssen, dass weitere Prozesse individueller Autonomisierung, Selbstbestimmung zu einer verschärften Konfliktdynamik führen müssen. „Und natürlich gehört es zu diesen Konflikten, dass sie niemals Konflikte um den Glauben oder um die Kunst sind. Sondern dass sich da ganz unterschiedliche Interessen überlagern. Mit Empörung können Sie nämlich auch gut Politik machen. Und insofern lautet meine Diagnose zu dem hier gestellten Thema: Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit einerseits und der Kunst andererseits. Wir werden permanent mit solchen Konflikten zu tun haben, weil wir unter ganz anderen medialen Bedingungen miteinander kommunizieren, weil die Welten der Religion sich tiefgreifend und dramatisch verändert haben und weil die uralten Streitthemen, und das ist ein uraltes Streitthema, religiöser Glaube und Bildvisualisierung, weil diese Streitthemen in der Moderne weiter auf der Tagesordnung bleiben.“

Meine Gemälde sind Bilder, die auf die Netzhaut wirken und ein Verlangen nach dem unbekannten Mysterium wecken. Sigmar Polke

Und Graf fügt hinzu: „Bilder haben eine spezifische Macht. Sie verselbständigen sich gegenüber dem Produzenten. Bilder sind extrem interpretationsoffen.“ Vor diesem Hintergrund hat Helmut A. Müller seine Strategie des Dialogs entwickelt. Diese ist durchaus eine Gratwanderung, wie die Debatten und auch Konflikte um seine Ausstellungen gezeigt haben.

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