Die Eskalationsspirale bewusst stoppen Erkenntnisse und Empfehlungen aus der Konfliktforschung

Dank der Konfliktforschung wissen wir heute, dass Konflikte über weite Strecken nach identischen, vorhersehbaren Mustern verlaufen, wenn man diesen nicht bewusst gegensteuert. Mit dem Psychologen und Konfliktforscher Arist von Schlippe sprachen wir darüber, wie sich die Eigendynamik von Konflikten durchbrechen lässt.

Arist von Schlippe, Diplom-Psychologe und Professor für „Führung und Dynamik von Familienunternehmen“ an der Universität Witten/Herdecke, hat umfangreiche Erfahrungen mit Konfliktdynamiken aus der Arbeit mit Unternehmerfamilien und anderen Sozialsystemen. Sein Buch Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen stellt dar, wie Konflikte typischerweise verlaufen und wie aus systemtheoretischer Sicht die Spirale der Eskalation überwunden werden kann.

Herr von Schlippe, in Ihrem Buch geht es um die „Eigendynamik“ von Konflikten. Was ist damit gemeint?

A.v.S.: In einem Konflikt werden für beide Parteien die Optionen, sich zu verhalten, immer weiter eingeschränkt, ohne dass ihnen dies bewusst ist. Und dann gibt es eigentlich nur die Richtung der immer stärkeren Verschärfung: Man ist permanent dabei, mit eskalierenden Schritten auf die Schritte des anderen zu reagieren, auf die der andere dann wiederum mit bestimmten Maßnahmen antwortet. Was in solchen Situationen meistens vollkommen fehlt, ist die „Helikopter-Perspektive“, nämlich dass wir die Dinge von oben aus der Metaperspektive betrachten und uns fragen: Was ist hier eigentlich gerade los, in was für einer Dynamik befinden wir uns?

Wie verläuft ein Konflikt nach dieser Dynamik typischerweise?

A.v.S.: Der österreichische Friedens- und Konfliktforscher Fritz Glasl beschreibt neun typische Eskalationsstufen von Konflikten. Die Schärfe der Auseinandersetzung nimmt sukzessive zu und der Konflikt wird immer unlösbarer: Auf den ersten drei Eskalationsstufen verhärten sich die Positionen und der Ton wird zunehmend polemisch, eine Lösung ist auf der Sachebene aber noch möglich. Etwa ab den Stufen 4-6 werden die Angriffe persönlicher; sie zielen „auf das Gesicht des anderen“, auf die Desavouierung des Gegners und werden von Drohungen begleitet. Hier finden die Konfliktparteien in der Regel nicht mehr selbst aus dem Konflikt heraus. Auf den weiteren Eskalationsstufen 7-9 zielen die Maßnahmen nur noch darauf ab, den Gegner zu schädigen, selbst um den Preis eigener Nachteile bis hin zum gemeinsamen Untergang.

Neun Eskalationsstufen nach F. Glasl
Neun Eskalationsstufen nach F. Glasl (Zeichnung: © Björn von Schlippe, entnommen aus: Arist von Schlippe: Das Karussell der Empörung, S. 171)

Wie kann man einer solchen Konfliktdynamik entgegenwirken?

A.v.S.: Zunächst müssen wir uns die Mechanismen, in die uns die Konfliktlogik hineintreibt, bewusst machen. Das Handeln in Konflikten besteht, wie gesagt, vielfach nicht aus rationalen Reaktionen auf ein Ereignis, sondern folgt in uns evolutionär angelegten Schemata. So reagieren wir etwa auf Kränkungen mit „Empörung“, die uns mit dem Gefühl der Berechtigung zur Eskalation versorgt – insbesondere, wenn es um Verletzungen unseres Gerechtigkeitsempfindens geht. In meinem Buch verwende ich die Metapher des Karussells, um die Eigendynamik dieses Prozesses zu beschreiben. Die Empörung ist der Motor dieses Karussells.

Was kann man tun, wenn man sich schon in der Dynamik eines solchen Konflikts befindet?

A.v.S.: Der erste Schritt ist, wie gesagt, Bewusstheit: Was passiert da in mir, wie sorgen die Mechanismen der Empörung dafür, dass wir uns sagen: „Du bist ganz und gar im Recht!“ Denn das Gefährliche daran ist: Wer sich vollständig im Recht fühlt, fühlt sich auch legitimiert zu destruktiven Handlungen: Man „kann nichts dafür“, man reagiert ja nur. Fritz Glasl spricht hier von „Dämonisierten Zonen“: auf beiden Seiten kommt es zu Eskalationshandlungen, ohne dass Verantwortung übernommen wird. Jeder legitimiert die eigene Destruktion damit, dass man durch die andere Seite dazu gezwungen wurde.

An Bewusstheit zu arbeiten, bedeutet in so einer Situation, sich klarzumachen: Wir stecken gemeinsam in einer extrem gefährlichen Dynamik, und die können wir nicht dadurch lösen, dass wir permanent das Bild von Gut und Böse reproduzieren. Die Frage muss vielmehr lauten: Wie können wir gemeinsam aus dieser Spirale aussteigen? Der „Feind“ ist der Konflikt, nicht der andere.

In Ihrem Buch beschreiben Sie v.a. Konfliktbeispiele aus Familien und aus Unternehmen. Wenn man Ihnen zuhört, fallen einem aber natürlich auch politische Konflikte wie der Krieg gegen die Ukraine ein. Gelten hier die gleichen Regeln?

A.v.S.: Auch globale politische Konflikte sind in hohem Maße durch emotional gefärbte Kommunikation geprägt. Wichtig ist deshalb auch hier, dass die handelnden Akteure bewusst kommunizieren. Nehmen wir ein Beispiel: Als beim G20-Gipfel im Frühjahr 2023 die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock nach längerer Zeit wieder auf ihren russischen Amtskollegen Sergej Lawrow traf, forderte sie ihn auf: „Mr. Lawrow, beenden Sie diesen verbrecherischen Krieg!“ – Was für eine Art von Kommunikation ist das? Als Beziehungsbotschaft bedeutet sie: „Wir sind die Guten, und du bist der Bösewicht!“ – Sie ist ein Angriff auf das „Gesicht“ des Gegners und zugleich eher eine Kommunikation an das eigene Netzwerk, jedenfalls kein Impuls, der eine neue Dynamik anstößt.

Was wäre wohl gewesen, wenn sie gesagt hätte: „Herr Lawrow, ich bin sicher, wenn wir uns einmal ›off the record‹ unterhalten könnten, würden wir zu dem Schluss kommen, dass die Lage derzeit verdammt verfahren ist. Aus so einer Sackgasse kommt man nicht leicht wieder heraus. Vielleicht würden Sie mir auch zustimmen, dass es nicht der beste Weg ist, diese Sackgasse immer weiter zu vertiefen. Wäre es nicht an der Zeit, nach Auswegen zu suchen, statt die Kosten an Menschenleben und Sachwerten immer höher zu treiben? Ich kann Ihnen von mir aus nur sagen: ›Wir wären bereit, nach unseren Möglichkeiten zu helfen, Auswege zu finden‹ – außer natürlich, die Ukraine preiszugeben oder einfach ihrem Schicksal zu überlassen.“

Und wie, meinen Sie, hätte Lawrow reagiert?

A.v.S.: Lawrow hätte natürlich abgewunken, in Kriegslogik denkt man monolithisch, der Feind ist der Feind. Aber kommunikationstheoretisch gesehen wäre das ein Statement aus der Metaposition gewesen: ›Schauen wir die Dinge doch von oben an!‹ Und wenn das Teil der diplomatischen Kommunikationsstrategie wäre, würde man immer und immer wieder so agieren. Der Bundeskanzler könnte etwa erklären, dass die Bundesrepublik als Zeichen des guten Willens auf die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern verzichtet, statt nur aus Angst vor einer möglichen Eskalation. Die Chancen der versöhnlichen Stimmen im anderen Lager würden steigen, die Vielstimmigkeit auf der anderen Seite könnte zunehmen.

Natürlich würde es auch Widerstände geben, man würde versuchen, die Bemühungen lächerlich zu machen usw. Eine Kommunikation führt ja nicht dazu, dass sich die Verhältnisse schlagartig ändern. Aber es kann auf Dauer doch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass noch andere Optionen als nur die ständige Verschärfung des Konflikts eine Chance bekommen. Und genau um dieses „Arbeiten an Wahrscheinlichkeiten“ geht es. Kriegsparteien sind polarisiert, es gibt nur das Entweder-Oder, sie leben in affektiv-kognitiven Eigenwelten, die durch ihre jeweilige Geschichte, ihre Wertewelt und ihre strategischen Ziele geprägt sind. Die „Kriegslogik“ lässt diese Eigenwelten immer mehr verhärten. Deeskalierende Kommunikation folgt stattdessen einer „Friedenslogik“, die diese gedanklichen Blockaden aufzulösen versucht.

Gibt es noch weitere Merkmale einer solchen „Friedenslogik“?

A.v.S.: Im Heft 4/2024 der Zeitschrift Familiendynamik, das ich mit herausgegeben habe, hat Fritz Glasl in einem Aufsatz jeweils sechzehn Prinzipien einer Kriegslogik und einer Friedenslogik kontrastiert. Er zeigt, wie Konflikte durch kommunikatives Fehlverhalten ungewollt eskalieren können, und gibt Anregungen, wie man dem Verlust der Empathie in internationalen Konflikten begegnen kann und wie statt ultimativer Forderungen Bemühungen um einen Ausgleich ins Zentrum rücken können. Wichtig ist dabei: Empathie und Verständnis bedeutet nicht Einverständnis! Gesten der Wertschätzung zeigen das Interesse an der Verbesserung der Beziehungen, doch sie sind keine Signale der Nachgiebigkeit. Schwäche ermutigt die andere Seite, weiter zu eskalieren. Es geht vielmehr um die Einladung, sich im Kampf gegen den Konflikt, der ja meistens für beide Parteien hohe Kosten mit sich bringt, zu verbünden, um eine für beide Seiten tragbare Lösung zu finden.

Vieles an diesen Erkenntnissen kommt mir aus der Bibel bekannt vor. Sie zitieren in Ihrem Buch selbst die Bergpredigt: ›Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin‹ (Mt 5,39). Wie stark sehen Sie sich selbst in dieser biblischen Tradition?

A.v.S.: Ich bin evangelischer Christ, mein Vater war Pastor, ich habe zeitweise auch Theologie studiert, würde aber nicht sagen, dass ich nun besonders religiös bin. Die Grundhaltung Jesu, liebevoll auf jeden anderen Menschen zuzugehen, hat für mich etwas Faszinierendes und Vorbildliches. Und ich schätze es, dass uns die Bibel immer wieder den Spiegel vorhält, uns zeigt, wie einseitig unsere Schemata sind. Die zitierte Aufforderung aus der Bergpredigt ist keine Anleitung zum Masochismus! Aber sie stellt unsere Logik von Vergeltung in Frage und durchbricht sie. Die Bibel lädt uns so auf eine „Metaebene“ ein: Gott ist in einer ganz anderen Logik unterwegs als wir! Diese Vorstellung mache ich mir gerne zu eigen.

Zum Weiterlesen

Arist von Schlippe: Das Karussell der Empörung. Konflikteskalation verstehen und begrenzen, Göttingen, 2022.

Friedrich Glasl: Wie kann Kriegslogik durch Friedenslogik überwunden werden? In: Familiendynamik, 49. Jg., Heft 4, 2024, S. 270-283.

Das Interview führte Bertram Salzmann.

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