„Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe.“ (1. Johannes 4,8)
Wer Darstellungen des Erzengel Michael betrachtet, etwa die mächtige Skulptur im Hauptgebäude der Bonner Universität und die Nachbildung auf dem Koblenzer Tor, wie der gerüstete Ritter den gewaltigen Drachen bezwingt, der erfährt wenig vom tieferen Sinn des Christentums, aber er ahnt einiges von der Gewalt, der sich die Menschen in früheren Zeiten ausgeliefert fühlten. Ob die äußere Natur, Stürme und wilde Tiere, ob das eigene Gefühlsleben, nirgends konnte sich der Mensch in seinem Leben sicher fühlen. Deshalb wünschen sich die Menschen Gott als mächtigen Herrscher, als den Allmächtigen, dem kein menschlicher Herrscher gewachsen wäre, und seine Diener wären Engel, wie eben dieser als Ritter dargestellte Michael.
Viel weiter sind die Menschen auch heute noch nicht in ihrem Denken: Sich Gott als den mächtigsten aller Herrscher vorzustellen, das leuchtet immer noch vielen ein, ohne dass sie sich darüber groß Rechenschaft geben: Anhänger von Stammesreligionen genauso wie Juden, die ihn den Herrn der Heerscharen nennen, oder Muslime, die Allahs Allmacht anbeten. Auch die meisten Christen stellen sich Gott als allmächtige Gewalt und Machtzentrum der ganzen Welt vor und sprechen es in ihren Bekenntnissen seit der Zeit des Kaiser Konstantin aus. Dass Jesus Christus zu Pilatus gesagt hat, sein Reich sei nicht von dieser Welt, das ist auch für die Christenheit nicht leicht zu verstehen.
Allmachtsvorstellungen scheinen zwar den modernen, aufgeklärten Menschen nicht mehr zu befriedigen, aber trotzdem stellen sich die meisten Menschen Gott weiterhin wie einen Kaiser vor, oder lehnen Gott ab, weil sie diese autoritäre Vorstellung in einem demokratischen Staat nicht mehr akzeptieren wollen.
So ist die Besonderheit des christlichen Glaubens, die größte überhaupt vorstellbare Macht, die Leben nicht nur nicht zerstört, sondern vielmehr hervorbringen und erhalten kann, in der Liebe zu erkennen. Sie ist das Gegenteil menschlicher Macht, die immer teilt, wo sie herrschen will. Die Liebe ist der Geist und die Kraft, die stets vereint; sie sieht die Gegensätze unter den Menschen, verzweifelt aber nicht daran, sondern achtet sie als Reichtum. Die Liebe ist der Geist, der für die Verbindung aller Unterschiede wirkt, weil nur so Leben entstehen und erhalten werden kann. Aber dafür braucht sie gerade keinen Einheitsstaat und keine Einheitskirche. Die Liebe beweist ihre Kraft in der Aufhebung der Gegensätze, die unser Leben doch ganz selbstverständlich bestimmen, in Entgegenkommen und Vergebung. Damit verändert sie die Welt.
Der Erzengel Michael wird sicher auch weiterhin als Sinnbild für den Kampf gegen das Chaos, gegen die vielen Differenzen, die unser Leben beschweren, gesehen werden. Aber gerade seine gewaltige Rüstung lässt erkennen, dass solche Gewalt dem Leben nicht dient.
Gewiss ist die Liebe keine ungefährliche Kraft, sondern eine heiße Flamme, an der man sich heftig verbrennen kann. Denn sie bewirkt ja auch die Verschmelzung der Kräfte, die Leben hervorbringen. Aber ohne sie kann es kein Leben geben, und ohne ihre Wärme kann kein Leben bestehen, darum sind für Christen seit Christus Gott und die Liebe eins.