Bei einer militärischen Aggression wie dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine scheint gewaltfreier Widerstand keine Chance zu haben. Dabei messen selbst Militärs ihm in ihren Strategien inzwischen einen hohen Stellenwert zu.
Menschen stehen hinter Straßensperren vor einer Kolonne von Panzern und hindern sie am Weiterfahren. Die Soldaten sind unsicher, wie sie mit der Situation umgehen sollen. Die Blockierer sind unbewaffnet und wenden sich in Sprechchören gegen die Angreifer. Wenig später erhalten die Soldaten den Befehl, sich zurückzuziehen.
Ziviler Widerstand im Ukraine-Krieg
Szenen wie diese sind aus zahlreichen militärischen Konflikten bekannt. Auch in der Ukraine gab es sie, insbesondere in den ersten Monaten des russischen Angriffskrieges, zum Beispiel in der Stadt Cherson. Menschen schlossen sich zusammen, um öffentlich gegen die Besatzer aufzutreten und ihr Vorrücken zu behindern. Straßenschilder wurden abmontiert oder falsch ausgerichtet, um die einrückenden Truppen in die Irre zu führen, Zufahrtswege wurden blockiert und Protestdemonstrationen organisiert.
Stellenweise waren diese Aktionen erfolgreich und haben zu einer Verzögerung des russischen Vormarsches geführt. Doch durch die zunehmende Repression der russischen Truppen wurde der zivile Widerstand bald geschwächt. In der Ostukraine wurden Aktivisten von russischen Besatzern entführt, an die Stelle offenen Protestes mussten verdecktere Formen des Widerstands treten: Sabotageakte, Dokumentation von Kriegsverbrechen oder Hacker-Aktionen.
Die Erfolge zivilen Widerstands in der Ukraine sind schwer einzuschätzen, eine breite Massenbewegung konnte sich jedenfalls nicht etablieren. Dabei haben die Ukrainer*innen durch ihre Orangene Revolution 2004 und die Maidan-Proteste 2014 Erfahrung mit gewaltfreiem Widerstand, und bei einer repräsentativen Umfrage des Internationalen Soziologischen Instituts in Kiew gaben 2015 mehr als 25 Prozent zivilen Widerstand als bevorzugte Reaktion an, wenn es zu einem Angriff auf die eigene Stadt und zu deren Besetzung käme (vgl. den Beitrag von Werner Wintersteiner unter wissenschaft-und-frieden.de/blog/meinungen-und-positionen/der-unterschaetzte-widerstand-ein-ueberblick).
Gewaltfrei widerstehen – eine naive Illusion?
Liefert der Krieg gegen die Ukraine damit den Beweis, dass es selbst bei guten Voraussetzungen aussichtslos ist, eine kriegerische Aggression mit Mitteln des gewaltfreien Widerstands bekämpfen zu wollen? Und bleibt damit der Einsatz von Waffengewalt als einzig vernünftige Reaktion übrig? Dieser Eindruck scheint sich in der deutschen Öffentlichkeit breit gemacht zu haben. Wer, wie die französische Friedensforscherin Véronique Dudouet von der Berliner Berghof Foundation, für zivilen Widerstand als Alternative zu militärischer Verteidigung und Waffenlieferungen im Ukraine-Krieg plädiert, muss mit einem Shit-Storm rechnen (vgl. taz.de/Diskussion-ueber-Ukrainekrieg/!5846803). Selbst in kirchennahen Kreisen wird von der Festlegung auf den „Weg der Gewaltfreiheit“ (www.ekd.de/kundgebung-ekd-synode-frieden-2019-51648.htm) immer häufiger Abstand genommen. So vertrat beispielsweise Johannes Fischer, emeritierter Professor für theologische Ethik an der Universität Zürich, schon im März 2022 in zeitzeichen die Position, „dass der zivile Widerstand gegen autoritäre Regime, die keine moralischen Skrupel kennen und daher jedes Mittel einzusetzen bereit sind und die außerdem über einen entsprechenden Überwachungs- und Sicherheitsapparat verfügen, keinerlei Chance hat“.
Gewaltfreier Widerstand als Bestandteil Totaler Verteidigung
Umso überraschender ist in dieser Situation, dass sich ein besonders entschiedenes Plädoyer für zivile Verteidigung gerade in einem militärstrategischen Konzept findet, das die USA zusammen mit Schweden und den baltischen Staaten entwickelt haben und das nach US-Angaben auch in der Ukraine erfolgreich zum Einsatz kommt. Es handelt sich um das „Resistance Operating Concept (ROC)“, 2019 von Otto C. Fiala für das U.S. Special Operations Command Europe (SOCEUR) entworfen. Fiala entwickelt eine Strategie der „Total Defense“, in der Mittel der gewaltfreien Verteidigung eine wichtige Rolle spielen: „The willingness of a nation to prepare to resist a foreign occupier, if necessary, through forceful and active, passive, and nonviolent methods can be part of a national deterrence strategy, as it is in the over-arching concept of Total Defense“ (www.divaportal.org/smash/get/diva2:1392106/FULLTEXT01.pdf, S. 91). Gewaltfreie Methoden sind hier zwar nur ein Bestandteil der Strategie neben militärischen Mitteln, aber sie haben doch einen eigenen Stellenwert. Dabei unterscheidet Fiala zwischen vier verschiedenen Maßnahmentypen und listet im Anhang 198 verschiedene gewaltfreie Methoden dazu auf:
- Attention-Getting Devices: Maßnahmen, mit denen vor allem öffentliche Aufmerksamkeit gegen den Aggressor generiert werden soll wie Demonstrationen, Massenaufmärsche und die Schaffung öffentlicher Symbole des Widerstands.
- Noncooperation: Maßnahmen der Nicht-Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht wie Streiks, Sabotage, Boykotte, vorsätzliche Schlechtarbeit.
- Civil Disobedience: Maßnahmen des zivilen Ungehorsams mit bewusstem Bruch von Gesetzen wie Steuerverweigerung, Abhalten ungenehmigter Versammlungen, Veröffentlichung verbotener Inhalte
- Cyber Activism: Maßnahmen zur Störung der Internet-Kommunikation des Aggressors wie virtuelle Sit-Ins, E-Mail-Attacken, Web-Hacks oder die Verbreitung von Computer-Viren.
Ziel der zivilen Verteidigung ist nach Fiala, den Aufbau einer legitimen Herrschaft durch den Besatzer zu verhindern, die Moral des feindlichen Regimes (einschließlich der Sicherheitskräfte) zu schwächen, die Zeit und die Ressourcen des Aggressors zu beanspruchen und jede Form der Unterstützung der Bevölkerung für das aufgezwungene Regime zu verhindern (vgl. ROC, S. 75).
Vermischung von ziviler und militärischer Verteidigung
Das Resistance Operating Concept findet in den baltischen Staaten bereits Anwendung. So hat im Mai 2022 das litauische Parlament eine Strategie des Verteidigungsministeriums auf Basis von ROC verabschiedet, um die Bevölkerung auf die Ausübung von zivilem Widerstand im Verteidigungsfall vorzubereiten. In Deutschland scheint das Konzept hingegen noch kaum angekommen zu sein.
Einer, der das neu erwachte Interesse an ziviler Verteidigung beim Militär besonders aufmerksam beobachtet, ist Ulrich Stadtmann. Er ist Vorstandsmitglied beim Bund für Soziale Verteidigung in Minden, der sich seit Jahrzehnten für das Konzept Sozialer Verteidigung als Alternative zum Militär einsetzt (vgl. soziale-verteidigung.de). Gleichzeitig sitzt Stadtmann für die CDU im Kreistag von Minden-Lübecke. Er versteht sich als Pazifist mit hohem Interesse an militärstrategischen Planungen. Im Gespräch mit den evangelischen aspekten begrüßt Stadtmann, dass Maßnahmen der gewaltfreien Verteidigung mit ROC in einer integrierten Verteidigungsstrategie angekommen sind, kritisiert aber zugleich, dass militärische und zivile Verteidigung dabei strukturell und organisatorisch vermischt werden: „Wenn für einen Aggressor nicht mehr klar zu unterscheiden ist, ob es sich um eine Guerilla-Aktion oder um gewaltfreien Widerstand handelt, drohen auch Zivilisten zur Zielscheibe militärischer Aktionen zu werden.“
Zivile Verteidigung in Deutschland
Nach Stadtmanns Einschätzung war die Bundeswehr bei der Entwicklung von ROC nicht beteiligt und nimmt es bisher auch nicht in eigene Überlegungen auf. Allerdings liegt in Deutschland die Verantwortung für die zivile Verteidigung auch nicht beim Verteidigungsministerium, sondern beim Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das dem Innenministerium unterstellt ist. In der aktuell gültigen „Konzeption Zivile Verteidigung“ des BBK aus dem Jahr 2016 spielen Maßnahmen des gewaltlosen Widerstands keine Rolle. Dort geht es v.a. um die Aufrechterhaltung der Staats- und Regierungsfunktionen, die Versorgung der Bevölkerung sowie den Umgang mit Flüchtlingsströmen und massenhaften Verletzten. Auch die im Juni 2024 verabschiedeten „Rahmenrichtlinien für die Gesamtverteidigung“ der Bundesregierung berücksichtigen weiterhin keine Maßnahmen Sozialer Verteidigung.
Nach Stadtmanns Einschätzung wäre die Zivilverteidigung der Ort, gewaltfreien Widerstand in der deutschen Verteidigungsplanung strukturell getrennt von der militärischen Verteidigung zu verankern. Dies gilt insbesondere für den Fall einer Besatzung, wie er mit dem Ukraine-Krieg auch Einzug in deutsche Bedrohungsszenarien erhalten hat. So gehörte die teilweise Besetzung des deutschen Staatsgebietes durch einen militärischen Aggressor zum Szenario des NATO-Manövers „Air Defender 23“ und taucht auch im hypothetischen Konfliktverlauf der „Risikoanalyse für den Zivilschutz 2023“ auf, über die die Bundesregierung am 28.02.2024 dem Deutschen Bundestag berichtet hat. Stadtmann weist darauf hin: „Im Fall einer Besatzung gibt es keine militärische Verteidigung, sondern nur noch die Möglichkeit nicht-militärischer Maßnahmen und gewaltfreien Widerstands, was insgesamt in der ›Konzeption Zivile Verteidigung‹ – deren zentrales Anliegen der Bevölkerungsschutz ist – beschrieben werden müsste.“
Wie kann zivile Verteidigung erfolgreich sein?
„Civil disobedience is a powerful technique, but to be effective, it must be exercised by large numbers of people“ (ROC, S. 77), betont Otto C. Fiala. Deshalb kommt es darauf an, Kenntnisse und Praktiken ziviler Verteidigung in der Bevölkerung rechtzeitig breit zu verankern: Wenn der Verteidigungsfall eintritt, sollten alle wissen, wie man sich zu verhalten hat und welche Regeln gelten. In der Ukraine gibt es dafür seit März 2021 das National Resistance Center, das (als Teil des ukrainischen Militärs) die ukrainische Zivilbevölkerung über Methoden des Widerstands informiert und Anleitungen zur Umsetzung gibt. Nach Einschätzung von Ulrich Stadtmann würde es mehr Sinn machen, gewaltfreie Verteidigung auf kommunaler Ebene z.B. in Abstimmung mit Maßnahmen des Katastrophenschutzes zu verankern: durch Trainings, Handbücher, Planspiele etc. die auch die jeweiligen regionalen Gegebenheiten berücksichtigen – denn in einer Großstadt müsse ziviler Widerstand zwangsläufig anders organisiert sein als auf dem Land. Die aktuelle Kampagne des Bundes für Soziale Verteidigung unter dem Motto „Wehrhaft ohne Waffen“ ist denn auch dezentral angelegt (vgl. wehrhaftohnewaffen.de).
Gewaltfreie Verteidigung dürfe auch nicht als Allheilmittel betrachtet werden, sondern fokussiert auf den konkreten Anwendungsfall, wie z.B. bei einem militärischen Angriff oder in einem besetzten Gebiet, das militärisch nicht mehr zu verteidigen ist. Stadtmann wünscht sich für solche Fälle eine alternative Option: „Anfliegende Raketen würden vielleicht militärisch abgewehrt, aber gegen das Besatzungsregime eines Aggressors ist ziviler Widerstand das sinnvollere Mittel.“
In der gedruckten Ausgabe erschien eine im ersten Teil leicht gekürzte Version des Beitrags.