Abschiedsrituale im stationären Hospiz Die Unausweichlichkeit des Todes

Die Hospiz-Bewegung will Menschen in ihren Einrichtungen Zeit und Raum für Sterben, Tod und Trauer geben. Eine wichtige Rolle spielen dabei innovative und individuelle Abschiedsrituale.

Menschliches Leben ist zeitlich begrenztes Leben. Unser irdisches Dasein vollzieht sich unter der Bedingung der eigenen Sterblichkeit. Der Tod gehört zum Leben dazu und niemand kann uns den Tod abnehmen. Wir werden auch nicht gefragt, ob wir sterben wollen oder nicht. Der Tod ist unausweichlich und unvermeidbar.

Darüber hinaus ist der Tod ebenso wie das Leben nie nur Privat-, sondern immer auch soziale Tatsache. Vom Tod des Anderen ist auch unser eigenes Dasein betroffen. Er fordert von uns Hinterbliebenen, mit dem irreversiblen Verlust einer für uns bedeutsamen Person fertig zu werden. Diese Forderung stellt der Tod in einer Radikalität, die weder im Vorhinein vorstellbar noch im Nachhinein begreifbar ist. Dass das Seiende nicht mehr ist, bleibt uns fremd und ist uns doch ureigen.

Endlichkeit als individuelles Problem in der modernen Gesellschaft

In der Gesellschaft, in der wir leben, ist der Tod, obwohl er eine soziale Dimension hat, zum individuellen Problem geworden. Zwar wird gegenwärtig viel über den Tod gesprochen – in den Medien ist er nicht zuletzt aufgrund der Covid-19-Pandemie täglich präsent – doch gibt es keine kollektiven Deutungs-, Kommunikations- und Handlungsmuster mehr. Im Umgang mit der Endlichkeit ist der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen. Anders als in traditionalen Gesellschaften gibt es keine kollektiven Trauerrituale oder allgemeingültigen Todesdeutungen mehr. Das Waschen, Ankleiden, Herrichten und Aufbahren des Leichnams, das Schließen der Augen und des Mundes, das Öffnen des Fensters, die Aussegnung, das Läuten von Totenglocken, der Trauerprozessionszug, das Tragen spezifischer Trauerkleidung ebenso wie die kirchliche Bestattung haben an Bedeutung verloren. Die einzelne Person sieht sich zur Bewältigung der Situation mit sich selbst konfrontiert. Sie kann nicht bzw. kaum auf Erfahrungen aus der Vergangenheit oder bewährte Sozialformen zurückgreifen. Im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer fehlen sie.

Professionalisierung der Sterbe- und Trauerbegleitung

Eine daraus resultierende Entwicklung spiegelt sich in der zunehmenden Professionalisierung der Sterbe- und Trauerbegleitung wider. Neben der Entstehung von Bestattungsunternehmen und -instituten seit der zweiten Hälfte des 19. Jh. spielt dabei die Hospizbewegung, die sich seit Ende des 20. Jh. in Deutschland etabliert, eine zentrale Rolle. Damit verbunden ist nicht nur eine Professionalisierung der Sterbebegleitung, sondern auch eine Pluralisierung der professionellen Trauerwelt. Die hier geleistete Trauerarbeit ist nicht selten mit dem Angebot innovativer ritueller Sozialformen verknüpft, die das Fehlen einer eingeübten sozialen Praxis am Lebensende kompensieren. Rituale spielen dabei insbesondere in der Situation unmittelbar nach dem Tod für den Prozess des Abschiednehmens der An- und Zugehörigen von der verstorbenen Person eine zentrale Rolle. Sie helfen, die Verlegenheit und Unsicherheit der Lebenden in der Gegenwart des verstorbenen Menschen auszuhalten. Sie bieten Ausdrucksmöglichkeiten in Situationen, die Sprachlosigkeit sowie Gefühle der Machtlosigkeit und Passivität hervorrufen. Rituale können gestaltet, müssen aber nicht neu erfunden werden.

Zeit und Raum für Sterben, Tod und Trauer

Im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer grenzt sich die Hospizbewegung von anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens ab, in denen der Sterbeprozess physiologisch-medizinisch fokussiert und der Tod weitgehend tabuisiert wird. Er erscheint im kurativ orientierten medizinischen System nicht nur als Störfall, sondern wird in Krankenhäusern (Palliativstationen sind hiervon ausgenommen) auch insofern strukturell verdrängt, als häufig zeitliche und räumliche Ressourcen fehlen. Oft sind hier eine Aufbahrung im Zimmer, eine umfassende Versorgung des Leichnams und Angebote für die Hinterbliebenen nur begrenzt möglich.

Im stationären Hospiz wiederum ist nicht nur der Tod die Rahmenbedingung, sondern auch Zeit und Raum für Sterben, Tod und Trauer. Menschen, die ins Hospiz kommen, haben eine Erkrankung, die zum Tod führt. Das Behandlungsziel ist bei ihnen nicht mehr kurativ, sondern palliativ. Der Tod des jeweiligen Hospizgastes scheint so bereits bei dessen Einzug als Perspektive auf, wenngleich in Ausnahmefällen eine Entlassung möglich ist. Anders als im Krankenhaus (Palliativstationen sind hiervon ausgenommen) wird das Sterben hier als ein vieldimensionaler Prozess wahrgenommen und entsprechend multiprofessionell begleitet. Die medizinische Perspektive ist dabei eine neben drei weiteren Dimensionen. Sowohl in der Sterbe-, als auch in der Trauerbegleitung wird die einzelne Person ganzheitlich betrachtet und in ihrer Individualität wahr- und ernstgenommen. Die Strukturen werden so an den einzelnen Menschen angepasst, nicht umgekehrt.

Entwicklung von Abschiedsritualen als kreative Sozialformen

Im Blick auf die Rituale, die hier entwickelt werden, bedeutet dies, dass sie trotz Anschein des starren Konventionellen dynamisch und individualisiert sind. Für die Aufbahrung, die im stationären Hospiz an Bedeutung gewinnt, wird nicht nur der Leichnam individuell hergerichtet, sondern auch das Zimmer dekoriert: Bis zu 36 Stunden darf der Leichnam im Hospiz in NRW aufgebahrt werden. Die Hinterbliebenen haben in dieser Zeit die Möglichkeit, von der verstorbenen Person am Sterbebett im Zimmer Abschied zu nehmen. Ihre Trauer hat hier ihren Ursprungsort. Der Leichnam wird somit weder in eine Leichenhalle, einen Abschiedsraum oder an einen anderen Ort überführt. Er wird in dem Zimmer aufgebahrt, in dem der verstorbene Mensch seine letzten Tage, Wochen oder Monate zu Lebzeiten verbracht hat.

Dekoration des Sterbezimmers

Blieb den Hospizmitarbeiter*innen Zeit, die Person näher kennenzulernen, wird das Zimmer nach dessen Versterben entsprechend dekoriert: War jemand Fan einer bestimmten Fußballmannschaft, hat sich gerne um seine Pflanzen auf dem Balkon oder im Garten gekümmert, abends ab und zu ein Glas Wein getrunken, mit Vorliebe eine bestimmte Musik gehört oder noch im fortgeschrittenen Alter mit Flamenco Tanz begonnen, spiegelt sich das auch in der Dekoration des Zimmers wider. Mit einem Fußballtrikot der Lieblingsmannschaft liegt die verstorbene Person im Bett, auf dem Bett liegen Blütenblätter verstreut, auf dem Nachttischschränkchen steht ein Weinglas und ein Bilderrahmen mit dem Foto eines Tanzpaares. Über Lautsprecherboxen wird eines der Lieblingslieder gespielt.

Persönliche Abschieds-Liturgie

In vielen Einrichtungen wird den Hinterbliebenen von den Hospizmitarbeiter*innen eine Verabschiedung im Zimmer der verstorbenen Person angeboten. Dieser geht eine Art Prozession hin zum Zimmer voraus und schließt sich eine Form des klassischen Leichenschmauses an. Der Ablauf erinnert zwar an die Liturgie einer traditionell kirchlichen Aussegnung, die konkrete Praxis sieht dann aber doch anders aus. Die Hinterbliebenen entscheiden über die Musik, die zum Ein- und Ausgang gespielt bzw. gesungen wird. Sie schlagen Texte vor, die vorgelesen werden, formulieren Fürbitten und Abschiedsworte an die verstorbene Person, die im Ritual laut oder leise ausgesprochen werden. Immer wieder werden sie ermutigt, den verstorbenen Menschen nochmal zu berühren. Trauer wird sinnlich erfahren.

Mit einem Fußballtrikot der Lieblingsmannschaft liegt der Verstorbene im Bett.

Die Hinterbliebenen sollen begreifen, dass die Person mit dem Fußballtrikot im Bett und dem Weinglas auf dem Nachttischschränkchen nicht schlafend, sondern tot ist. Die Haut der verstorbenen Person ist gräulich weiß und fühlt sich kalt an. Sie reagiert weder auf Worte oder Berührungen, noch auf andere Reize. Mit verschlossenen Augen und Mund liegt sie reglos da und antwortet nicht. Und trotzdem wird die Situation im Ritual so inszeniert, als ob sie noch da und so eine lebendige Gemeinschaft zwischen Lebenden und Toten möglich sei. Ihr Körper ist ja auch noch da. Hier ist nochmal die Möglichkeit, sich auszusprechen, nochmal einen Kuss zu geben, die Wange zu streicheln und schließlich ›Tschüss‹ zu sagen.

Der Sinn innovativer ritueller Sozialformen

Wie wichtig dieses persönliche Abschiednehmen nach dem Tod für den Trauerprozess der Hinterbliebenen ist, wurde nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Maßnahmen infolge der Covid-19-Pandemie wiederholt betont. Durch die Abstandsregelungen waren Körperberührungen verboten. Die Besucherzahl wurde beschränkt, sodass entweder mehrmalige oder gar keine Abschiedsrituale mehr mit Hinterbliebenen durchgeführt wurden. Manche Rituale wurden angepasst, andere wurden neu entwickelt. Es wird sich zeigen, welche sich bewährt und Bestand haben, welche lebendig bleiben und welche nicht und wo – so bald wie möglich – wieder auf die „vorpandemische“ Praxis zurückgegriffen wird.

Im stationären Hospiz spiegelt sich diese Bedeutsamkeit in den vielfältigen Abschiedsritualen unmittelbar nach dem Tod eines Hospizgastes wider. Im gleichzeitigen Rückgriff auf Traditionen und dem Einbezug individueller Wünsche der Hinterbliebenen wird hier durch innovative rituelle Sozialformen versucht, einen „guten“ Umgang mit Tod und Trauer zu finden.

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