Israelkritik und Antisemitismus-Vorwürfe

Zur Pandemie-Abwehr sind zur Zeit öffentliche Vortragsveranstaltungen in Präsenzform kaum möglich – wir haben uns daran gewöhnt. Völlig inakzeptabel ist es aber, wenn unabhängig von Corona-Auflagen Veranstaltungen behindert oder verboten werden, die sich kritisch mit israelischer Politik auseinandersetzen.

Den Blick auf den israelischen Part im Israel-Palästina-Konflikt zu lenken, bewirkt hierzulande nicht selten den Vorwurf des Antisemitismus. Ab 2012 und verstärkt seit 2017 sind mehr als 120 Fälle bekannt, in denen mit dem Etikett „Antisemitismus“ diejenigen gebrandmarkt werden, die Kritik an der israelischen Siedlungspolitik im Westjordanland formulieren, die drastischen Einschränkungen des Lebens im Gazastreifen ansprechen oder die Frage nach israelischem Unrecht gegenüber palästinensischen Bewohnern des Landes im Zuge der Staatsgründung (Nakba) stellen.

Antisemitismusbeauftragte, Arbeitskreise für den christlich-jüdischen Dialog, jüdische Gemeinden, Einzelpersonen und staatliche oder kirchliche Institutionen reagieren dann häufig mit Antisemitismus-Vorwürfen. Bundesweite Aufmerksamkeit erregte z.B. 2018 das Verbot des Vortrags „Israel, Palästina und die Grenzen des Sagbaren“, den der Journalist Andreas Zumach in München geplant hatte. Auch zwei Veranstaltungen zum Israel-Palästina-Konflikt im Landesverband Pfalz-Saar der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland (EAiD) waren im Sommer 2019 betroffen.

Ein Blick auf Hintergründe

Der israelische Historiker Moshe Zuckermann geht in seinem Vorwort zu Abraham Melzers Die Antisemitenmacher oder wie Kritik an der Politik Israels verhindert wird (2017) auf einige Hintergründe für diese Entwicklungen ein und erkennt Wurzeln für diese Form von Antisemitismus-Vorwürfen…

  1. in der „bis ins Rigorose gesteigerten Israelliebe“, mit der in jüdischen Gemeinden im Deutschland der 1950/60er Jahre Schamgefühle kompensiert wurden, die wegen des Bleibens im Land der Holocaust-Täter aufkamen und zu Vorwürfen jüdischer Gemeinden im Ausland führten. Kritik an israelischer Politik stieß auf heftige Abwehr und wurde mit Antisemitismus gleichgesetzt, eine Haltung, die seitdem immer wieder öffentliche Stellungnahmen jüdischer Gemeinden in Deutschland prägt.
  2. die pekuniäre „Wiedergutmachung“ deutscher Schuld an Juden im Holocaust, die zu Beginn überwiegend durch Zahlungen an den Staat Israel geschah – eine Gleichsetzung des Judentums mit dem Staat Israel.

Das besondere deutsch-israelische Verhältnis

Darüber hinaus spielt auch das besondere Verhältnis zwischen Deutschland und Israel eine Rolle, das durch beiderseitige Besuche, kulturellen Austausch, wirtschaftliche Kooperation und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Mai 1965 gewachsen ist. Nach dem Holocaust war damit nicht zu rechnen – ein Grund für große Dankbarkeit! Bundeskanzlerin Merkel formuliert dafür das Leitbild bei ihrer Rede in der Knesset am 18.03.2008 und ordnet die historische Verantwortung für Israel als Teil der Staatsräson Deutschlands ein: „Die Sicherheit Israels ist für mich … niemals verhandelbar“. Dieses Leitbild prägt die deutsche Innen- und Außenpolitik in ihren Bezügen zu Israel, wird von führenden deutschen Medien mitgetragen und durch Stellungnahmen aus der Evangelischen Kirche unterstützt, in denen die Bildung des Staates Israel als ein Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk interpretiert wird. Vor diesem Hintergrund findet Kritik an politischem Handeln Israels öffentlich kaum statt.

Doch nach wie vor sind in Deutschland antisemitische Haltungen, Äußerungen und Aktivitäten präsent und steigen an im Zusammenhang mit der weltweiten Ausbreitung von Populismus, Rechtsextremismus, Rassismus und Verschwörungsideologien. Zur Bekämpfung von Antisemitismus werden deshalb Antisemitismusbeauftragte auf Bundes- und Landesebene eingesetzt, auch in den Kirchen.

Für die Definition von Antisemitismus wird die Formulierung der IHRA genutzt.

Für die nähere Definition von Antisemitismus nutzen sie meist die Formulierung des „International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)“ von 2016: „Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Israelkritik gilt als antisemitisch, wenn es sich um Delegitimierung (Existenzrecht Israels abstreiten), Dämonisierung (Israel ist an allem Übel der Welt schuldig) oder um Anwendung Doppelter Standards (andere Staaten werden anders beurteilt) handelt (3-D-Regel). Die Bundesregierung übernimmt 2017 diese Definition mit der Erweiterung „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein“ – ein Zusatz, mit dem jede Kritik am Handeln dieses Staates unter Verdacht gestellt werden kann.

Der Deutsche Bundestag nimmt diese Grundgedanken auf und ordnet im Mai 2019 die BDS-Kampagne („Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen“) als antisemitisch ein. Israelkritische Veranstaltungen in Deutschland entsprächen den Zielen von BDS, sollen finanziell nicht mehr unterstützt und die Vergabe von öffentlichen Räumen soll eingestellt werden. Die internationale BDS-Bewegung propagiert bekanntlich Sanktionen gegenüber dem Staat Israel wegen dessen Menschenrechtsverletzungen gegenüber Palästinensern und fordert eine Änderung seiner Politik. Veranstalter von israelkritischen Positionierungen weisen diese Bundestags-Entscheidung zurück (auch mit Unterstützung aus der EU) und sehen darin eine gezielte Einflussnahme der israelischen Regierung, die BDS als antisemitisch einordnet, weil sie das Existenzrecht des Staates Israel verneine.

Israel-Kritiker sehen in den Antisemitismus-Vorwürfen die Meinungsfreiheit missachtet.


Nach dem Bundestagsbeschluss steigen die Behinderungen und Verbote von israelkritischen Veranstaltungen weiter an – eine Missachtung der Meinungsfreiheit, die im Grundgesetz garantiert ist. An diesem Punkt setzt auch die Verlautbarung der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland (EAiD) an, die sich zum Thema „Israelkritik und Antisemitismusvorwurf“ äußert. Die EAiD setzt sich dafür ein, dass in der öffentlichen Diskussion in Deutschland auch die Verpflichtung Israels zur Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte gegenüber Palästinensern zu thematisieren ist.

Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus (JDA) von März 2021

Die Antisemitismus-Definition der IHRA hat dem Kampf gegen Antisemitismus eher geschadet als genutzt. Durch ihre unklaren Begrifflichkeiten ruft sie falsche Anschuldigungen hervor, die dem Antisemitismus Vorschub leisten können. Große Erwartungen sind deshalb mit der „Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus“ (JDA) verbunden, die im März 2021 von zahlreichen renommierten Wissenschaftlern aus der ganzen Welt, auch aus Israel, vorgelegt wurde und die IHRA-Definition zum Wesen des Antisemitismus präzisiert. Die JDA verfolgt zwei Ziele: „1. den Kampf gegen Antisemitismus zu stärken, indem wir definieren, was Antisemitismus ist und wie er sich manifestiert, und 2. Räume für eine offene Debatte über die umstrittene Frage der Zukunft Israels/Palästinas zu wahren“.

Die neue Definition von Antisemitismus lautet nun: „Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“. Mit allgemeinen Leitlinien wird zunächst antisemitisches Verhalten gekennzeichnet (z.B.  Leugnung des Holocaust, Angriffe auf Juden oder Synagogen). Darauf folgen Beispiele für Kritik an Israel, die antisemitisch sind (z.B. Juden kollektiv für politisches Handeln Israels verantwortlich zu machen). Schließlich werden fünf Beispiele aufgeführt, in denen Israelkritik nicht per se als antisemitisch einzuordnen ist (z.B. Forderung nach Gerechtigkeit für Palästinenser entsprechend Völkerrecht, faktenbasierte Kritik an Israel als Staat). Der Deutsche Bundestag wäre gut beraten, seinen Beschluss von 2019 auf der Grundlage der JDA zu überdenken! Die JDA ist im Übrigen im Internet leicht zu finden!

Die Verunglimpfung von Kritik am politischen Handeln des Staates Israel kann nicht wie bisher weitergeführt werden! Das zeigt sich z.B. auch daran, dass kürzlich sogar Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter in Baden-Württemberg, durch das Simon-Wiesenthal-Zentrum (USA) zu einem der TOP-TEN-Antisemiten dieser Welt ernannt wurde – der Einordnung wurde umgehend widersprochen, z.B. vom Zentralrat der Juden in Deutschland. So wird klar, dass die Brandmarkung sachlicher Israelkritik als Antisemitismus an ihr Ende gelangt ist. Ein Ende im Israel-Palästina-Konflikt ist allerdings noch nicht in Sicht – deshalb müssen Diskussionen um Menschenrechtsverletzungen in Israel weitergeführt werden: auf der Grundlage der JDA, sachlich und ohne Behinderungen.

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