Luther das Genie Ein Paradigmenwechsel

Viele rechtliche und politische Errungenschaften der Reformation sind bis heute wichtig.

  1. Jede Zeit hat ihr Lutherbild. Der Aufklärungszeit war er der große Befreier. Die Jahre davor sahen den Wittenberger Reformator mehr noch als Bibelausleger. Dem 20. Jahrhundert galt Luther als eindrücklicher Lehrer (Karol Wojtyla). Und 2017 suchte sein ökumenisches Potenzial für die Gegenwart zu heben. Was und wie viel davon Bestand hat, bleibt eine stets neue Aufgabe der Forschung.
  2. Während zuletzt die theologischen Einsichten gewürdigt wurden, traten die gesellschaftsethischen Folgen und Errungenschaften fast in den Hintergrund. Doch deren gibt es viele, die ins Gedächtnis zu rufen sich lohnt.

Das freie Wort

  1. Luther vertritt das freie Wort. Denn Überzeugungen sind ohne äußere Gewaltanwendung zu vertreten. Kaum oft genug kann betont werden, dass es die Medieninnovationen der Zeit waren (Buchdruck mit beweglichen Lettern – dann z.B. auch im Notensatz), die bei Reformen halfen.
  2. Luther ist ein Freund der Debatte und Diskussion: Schon der Auslöser der causa lutheri, der sog. Luthersache, ist schlicht der Vorschlag einer offenen Disputation (‘Aus Liebe zur Wahrheit‘ sollen Thesen diskutiert werden). Bis in die späten Jahre bleiben Diskurs und Abwägen von Argumenten z.B. in Disputationen eine von Luther viel und gern genutzte Form. Dass es am Anfang die Debatte einer rechtlich noch gar nicht festgelegten Frage war, die den Stein ins Rollen brachte – und einen Strafprozess in Gang setzte –, wirft auch gleich ein Licht auf die Verfasstheit jener Zeit.
  3. Luthers Vorgehen hat einen freiheitlich-diskursfreundlichen Zug: Das bessere Argument soll den Zuschlag erhalten. Der Wettbewerb um die beste Lösung ist eröffnet. Beispielhaft!
  4. Es ist deshalb auch die Geburt einer kritischen Öffentlichkeit (lange bevor das dann die Aufklärer des 18. Jhs. für sich beanspruchten). Luther schreibt. Jemand antwortet. Luther widmet diesem wieder eine Schrift: Literarische Debattenkultur im besten Sinne. Denn Luther will das „Wort allein wirken lassen“. Warum? Weil ich in meiner „Hand die Herzen der Menschen nicht habe…“: „Ich kann nicht weiter kommen als bis zu den Ohren, ins Herz kann ich nicht kommen“ (1522).
  1. Dabei geht es aber nicht um beliebige Mehrheitsbildung. Sondern um eine von festgelegten, benennbaren Kriterien geleitete Abwägung.

Am Anfang war die Stadt

  1. Weil sich der Erfolg der Wittenberger Bewegung dem freien Wirken des Wortes verdankt, erklärt sich schnell, dass es maßgeblich eine Reformbewegung „von unten“ war. Es sind zuerst die kleinen und die freien Reichsstädte, in denen das Gedankengut Fuß fasste. Von vielen sei nur beispielhaft erwähnt: Dortmund ab 1523, Bremen beginnend 1522, Magdeburg 1524, Stralsund 1525. Im Süden: ab 1523 Straßburg (mit eigenen Akzenten). 1524 Reutlingen und Memmingen.
  2. Indes war nicht nur der Wittenberger reformerisch aktiv. Es ist eine breitere Reform- und Reformationsbewegung, die auf vielen Schultern ruhte. Schon 1518 hatte Luther eine ganze Reihe späterer Mitstreiter gewonnen wie Johannes Brenz (Schwäbisch Hall, u.a.) oder Martin Bucer (Straßburg, Ulm, u.a.). Häufig wurde in Rats- oder bei Bürgerversammlungen über das Vorgehen beraten (Reutlinger Markteid, Straßburger Rat); auch hier geht es nicht um Wahrheitsfindung durch Mehrheitsbeschluss, sondern um die an ein klares Kriterium gebundene Mehrheitsfindung (das schon vorliegende Wort). Die „örtliche Reformation von unten“ wurde von Luther durch Briefe, Gutachten und Ratschläge wo es ging nach Kräften unterstützt. Und, nicht zu vergessen: Auch Wittenberg ist eine Stadt.

Luthers Bildungsprogramm

  1. Keiner hat mehr (im 16. Jahrhundert, und darüber hinaus) für die Gleichstellung von Mann und Frau getan als Martin Luther. „Und wollte Gott, jede Stadt hätte auch eine Mädchenschule“, schreibt Luther 1520 und empfiehlt 1524, „die allerbesten Schulen für Knaben und Mädchen einzurichten.“ – Indem er also von Beginn an den Zugang zu Bildung gleichberechtigt denkt. – Mit den 1523 konzipierten, kommunal verwalteten Gemeindekassen, aus der eben u.a. die Schulen finanziert werden könnten, erhält zudem die Bauernschaft „uffm Lande“ einen Schlüssel zur finanziellen Mitbestimmung. Schulbildung, Ämterbesetzungen, Wohlfahrtspflege: Einmal pro Woche sollen darüber Bauern, Bürger, Stadtbewohner beraten und beschließen (so die Leisniger Musterordnung 1523).
  2. Luthers Hochschätzung der Sprache, auch der „schönen Künste“, seine Empfehlung Stadtbibliotheken einzurichten (1524), tun ein Weiteres. Er warnte früh vor Aufruhr („mit den Bilderstürmern halte ich es nicht“!, 1522), ließ sich dabei auch unbefangen auf die rhetorischen Gepflogenheiten, Idealvorstellungen, ja zeitgenössischen Erwartungen bei literarischen Kontroversen ein. (Bekanntes Beispiel: der „schwäbische Gruß“ des Götz von Berlichingen.)
  3. An der Bildung sollen alle teilhaben, nicht nur Adel oder Geistliche. Daraus resultieren reale Aufstiegschancen (für viele ein Traum). Wie Luther denn 1530 schreibt: „Gott will’s nicht haben, dass geborene Könige, Fürsten, Herren und Adel allein regieren… er will auch seine Bettler dabei haben. Sie dächten sonst, die edle Geburt allein mache Herren und Regenten“: Die Möglichkeiten ständeübergreifender Durchlässigkeit sind damit klar benannt – da wirst du viele finden, die „sich durch die Feder so emporgeschwungen haben und aufgestiegen sind.“

Die Geburt Amerikas aus dem Geiste Wittenbergs (Sachsen)

  1. Bevor die geistigen Ahnen und Pilgerväter mit Schiffen wie der „Mayflower“ an der Ostküste (Amerikas) anlanden konnten, mussten sie an der Westküste (Englands) losgefahren sein. Was sie von dort mitbrachten, war u.a. viel protestantisches Gedankengut.
  2. Und bevor es aus England nach Amerika gelangen konnte, war viel davon vom europäischen Kontinent auf die Insel gelangt. So in der Person Martin Bucers, der 1549 von Straßburg nach Cambridge ging und (gewiss nicht als einziger, aber an manchen Punkten) an der Gestaltung einer reformiert-lutherischen Church of England, der Anglikanischen Kirche, mitwirkte. (Ein anderes Beispiel ist die von Wittenberg inspirierte Bibelübersetzung Tyndales.)
  3. Teilweise war die Fahrt dann nach Amerika eine Ausweichbewegung vor zu beengenden, zwänglerischen Kirchenelementen.
  4. Nicht nur die inhaltliche Symbolik der Freiheitsstatue, auch der Geist der Verfassungsgrundsätze Amerikas stammt aus Wittenberg.

Zuordnung und Unterscheidungen: Politische Ethik

  1. Schon die Tatsache, dass einmal beklagt wird, Luther habe zu sehr das Gewissen und die Verantwortung betont, ein andermal, er sei zu sehr auf Ordnungsfunktionen staatlicher Verfasstheiten und ökonomischer Abläufe eingegangen, lässt erkennen, dass da genau hingeschaut und genauer unterschieden werden muss. Unterscheiden, ohne zu trennen, ist ohnehin in jedem Fall ein wichtiges Stichwort im Bereich der politischen Ethik.
  2. Im Mittelalter besteht die Forderung und Lehre der Überordnung der Kirche über die weltlichen Instanzen. Luther bestreitet das und setzt dem langfristig ein Ende. Sicher kein geringes Gut, das heute viele schätzen.
  3. Gab es schon das mittelalterliche Denkmodell von „Zwei Schwertern“ – kirchlich/weltlich –, setzte der Wittenberger die Akzente ein wenig, aber doch entscheidend anders (Lehre von den zwei Bereichen):
  4. Die Geistlichkeit und geistliche Fragen sollen „mit dem Schwert“ überhaupt nichts zu tun haben. Im Reich des Geistes herrsche: der Geist. Die Zuständigkeiten sind klar zu unterscheiden. Die Kirche trage Sorge für die geistige Erbauung. Der Staat für den äußeren Frieden und das Recht.
  5. Dass aber dennoch eine enge Verbindung von Staat und Kirche nie ungewöhnlich war (von beiden Seiten meist ausdrücklich erwünscht – bei teils variierenden Motiven, z.B.: man traut der anderen Seite nicht über den Weg, oder: die andere Seite könnte unabhängig zu mächtig werden und in eine ungute Frontstellung geraten, oder man kann oder will nicht der Vorteile der anderen Seite ganz verlustig gehen, usw.), dürfte dies nicht leicht zu belegen sein? Schon allein durch bloße Nennung der Nationalkirchen Englands, Frankreichs, Spaniens z.B. im 15./16. Jh., „Theokratisches“ in Byzanz, nationale Kirchen der Orthodoxie, die Existenz von Fürstbischöfen (Bischöfe, die gleichzeitig Fürsten waren) oder bis heute vor Augen: der Kirchenstaat Vatikan!? (Die wechselnden Lösungen im Luthertum sind also kein Spezifikum.)

Luthers Wirtschaftsethik

  1. Dass es auffällig viele protestantisch geprägte Staaten sind, in denen ein hohes Maß allgemeiner Wohlfahrt und wirtschaftlichem Erfolgs anzutreffen sind, ist schon oft bemerkt worden. Ob Dänemark, Schweden, Norwegen und Finnland, natürlich Deutschland selbst, ob Großbritannien und USA: Es braucht kaum einen Nachweis, um einen ursächlichen Zusammenhang anzunehmen.
  2. Einen Sprachwissenschaftler wie J.R. Tolkien beschäftigte der Umstand, dass im indogermanischen Sprachbereich z.B. Altsachsens westlich von Magdeburg, wo der historische Ursprung der Angeln, Jüten und Sachsen vermutet wird – die späteren Angel-Sachsen – bis hinein in die Jahrtausendwende um 900-1200 n.Chr. fast keine eigenen literarischen Zeugnisse nachweisbar sind. Während dann Heinrich Heine wenige Jahrhunderte später blühende literarische Geistesfreiheit feststellt. Für die je variablen „Lutherbilder“ (A. Geck) z.B. das eines Sprachphilosophen wie J.G. Herder ist es nicht zuletzt das ‘Sprach-Ereignis’ Luther, das ihn den Reformator dann in die Riege von historischen „Genies“ einreihen lässt (H. Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, ²1970). Heine meint, mit Luthers wortschöpferischen Texten werde für die deutsche Sprache „die schöne Literatur“ „eröffnet“. Zugleich dürfte es die von Luther beförderte breite Schulbildung sein, die den Grundstein dafür legte, dass aus der sprachlichen Ödnis noch des 13. Jh. dann ab dem 16. Jh. die Gegenden um Weimar (östliche Seite von Magdeburg und im Süden und Norden) zu Kerngebieten für das hoch gelobte Land der Dichter und der Denker geworden war.

Das Recht in seiner Schutzfunktion

  1. Den Ersten der berühmten Zwölf Artikel der streitbaren Bauernpetition von Memmingen setzte Luther – bzw. die lutherische Reformation – ab 1525 großflächig in Sachsen um. (Ohne dass dafür auch nur ein Schuss abgegeben werden musste: Allein aufgrund Luthers beharrlicher Überzeugungsarbeit.) Die flächige Einführung war in vielem bereits angelegt und vorbereitet (neben Kursachsen schon Hessen u.a.), und nicht erst Folge des Jahres 1525. Dabei sind die Übergänge zudem fließend und organisch: Die Abtuung eingerissener Missstände wird nicht abrupt von einem auf den andern Tag herbei- und durchgeführt.
  2. Auch im Folgenden schließen sich noch nach 1525 große und kleine Städte der Reformationsbewegung an wie Frankfurt, Lübeck, Weil der Stadt. Die besonnene Vorgehensweise erwies sich insoweit als zielführend und richtig. Gerade die Bedeutung und Einhaltung des Rechts ist dabei einer der Gründe, warum sich Luther den Versuchen einer gewalttätigen Herbeiführung von Reformmaßnahmen (z.B. Bauern-Aufstände) nicht anschließen konnte und nicht wollte. Denn:
  3. Vermutlich gab es auch im Mittelalter Tage, an denen die Sonne schien – aber es gibt eben wirklich Gründe, warum die Rede vom finsteren Mittelalter existiert. Beispiel: In manchen Städten wurde schon für geringfügigste Delikte gegen das Gemeinwesen die Todesstrafe verhängt. Auch ein Blick in die als fortschrittlich geltende Carolina von 1530/32 (’vielleicht das bedeutendste Gesetzeswerk des Heiligen Römischen Reiches’), belehrt darüber, was für die damalige Zeit als fortschrittlich bezeichnet werden konnte. Sprechendes Exempel für das Finstere der Zeit sind die Bauernkriegswirren und ihre Folgen um 1525. – Für Luther gilt hingegen konsequent auch hier: allein das Wort. Er setzt auf friedliche Rechtsentwicklung.
  4. So bewirkte die Verkündung des „Ewigen Landfriedens“ 1495 nicht nur eine Begrenzung gewaltträchtiger Fehden, sondern war auch – beim damaligen Flickenteppich der Zuständigkeiten – ein Markstein der juristischen Maxime, dass gegebenes Recht „haimlich und offenlich“ („heimlich und öffentlich“, Art. 12) im persönlichen wie im öffentlichen Raum von allen Reichsbewohnern zu beherzigen und zu befolgen sei. Die Bauernunruhen 1525 waren vehement… Doch gibt es Reformationshistoriker mit der Ansicht, dass das Jahr 1525 (bezogen gerade auf die Bürgerkriegswirren) den Gesamtgang der Geschichte kaum merklich beeinflusste (U. Köpf). Und es war eben 1525 auf friedliche Weise auch viel schon auf dem Weg. – 1525 hat Luther, wie einige andere Reformatoren vor ihm, geheiratet und damit dem Protestantismus eine 500-jährige Institution auf Dauer eingestiftet.
  5. Gerade der Vergleich der „turbulenten“ und gewaltreichen Umwälzungen in England, (Amerika), Frankreich zeigt die großen Vorzüge der friedlichen Reformationen Martin Luthers. Wer möchte, kann Wirkungen bis hin zur friedlichen Wende 1989 ziehen.
  6. Weil Frankreich großteils von der Reformation des 16. Jahrhunderts ausgenommen blieb, darf in mancher Hinsicht (nicht in jeder) die Französische Revolution Ende des 18. Jhs. realiter als eine verspätete, nachgeholte Reformation bezeichnet werden. Das gilt z.B. für besagte klarere Unterscheidung zwischen weltlichem und kirchlichem Bereich (vgl. Prien 1992; Pawlas 2000). Auch für die lutherischen Forderungen nach Redefreiheit, Meinungsfreiheit, Gewissensentscheid, freie Öffentlichkeit, Recht auf Eigentum – deren Begründung bei Luther zugleich rückgebunden bleiben an eine höhere Instanz. In etlichen Punkten ist die Französische Revolution über die Reformation hinaus gegangen, teils dahinter zurückgeblieben. Sie blieb z.B. in vielem eine dem Bürgertum vorbehaltene Besserstellung (was aber hier nicht Thema ist). Was ihr folgte, war ein Zeitalter des Absolutismus.

Der Mensch als cooperator

  1. Selbstverständlich galt die Freiheit, die Luther meint, nicht nur im geistigen Bereich, sondern gestaltet das ganze Leben. Schon mit der ersten seiner vier Hauptschriften von 1520 hatte Luther eine gründlich ausgearbeitete Ethik vorgelegt (WA 6,196-276; Von den guten Werken).
  2. Dass die Welt mit Entschiedenheit vom Menschen zu gestalten ist (O. Bayer: Freiheit als Antwort, 1995), dem widmet Luther seine in vieler Hinsicht gewichtigste Abhandlung: Seine Schrift von 1525 über den dienenden Willen (de servo arbitrio) zeigt, wie der Mensch zum Mitarbeiter (cooperator) in der Schöpfung wird. Mit ihrer entschiedenen Wort-Theologie prägte die Reformation ihre Zeit. (Auch indem sie etwa die entscheidenden Worte im Messgottesdienst nicht magisch auffasst und bestimmt, sondern ganz auf die – sprachaufklärerische – Wirksamkeit des Wortes selbst abstellt, vgl. die Erklärung im Kleinen Katechismus).

Weltgestaltung

  1. Ob für die Musik (vgl. evangelische aspekte, Heft 2/2024), für das Sprachschöpferische in Literatur und Übersetzung oder mit dem Einfluss auf Wirtschaft, Arbeit und Beruf (vgl. Heft 1/2025) sowie der Fähigkeit, vieles davon nicht nur zu denken, sondern auch politisch umzusetzen, dürfte Luther weniger als feinsinnig-vergeistigtes Genie gelten, denn als schlichter Impulsgeber und als Gestalter mit dem Wort. Weltgestaltung mit dem Wort wäre ein schönes Motto für lutherisches Wirken.

In der Druckausgabe erschien eine gekürzte Fassung dieses Beitrags.

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