„Moralapostel“ am Pranger Warum unsere Diskussionskultur mehr und mehr zerfällt

Zu den beliebtesten Unworten der Gegenwart zählt die berüchtigte ›Moralisierung‹, die in öffentlichen Debatten stets irgendwann irgendwer irgendwem unterstellt. Dies verheißt leider nichts Gutes für den Stil der Auseinandersetzung und auch nicht für die Ergebnisse.

In Kontroversen über ›heiße Eisen‹, die aus dem Feuer zu holen den politischen Akteuren schwer fällt, taucht heutzutage häufig das Schlagwort der Moralisierung auf, ob es sich nun um Asyl und Migrationsbewegungen, Klimawandel oder nachhaltige Lebensführung handelt – um nur wenige, aber in der Öffentlichkeit besonders häufige Beispiele zu nennen. Und wo immer es benutzt wird, ist es üblicherweise in den Vorwurf einer Grenzüberschreitung eingebettet, der gegen moralische Mahnungen und Forderungen erhoben wird.

Zwei Aspekte des Moralisierungsvorwurfs

Der Vorwurf der ›Moralisierung‹ umfasst in der Regel zwei Aspekte: Zum einen attestiert er den ›Moralisierern‹ die moralische Bewertung oder Überbewertung von vermeintlich moralisch indifferenten oder nicht primär moralischen Sachverhalten. Dies ist insofern konflikthaltig, als sich über die Frage, was wie moralisch relevant ist, lange streiten lässt. Andererseits ist der Vorwurf, das Gespräch auf Moralfragen zu verengen, aber relativ harmlos, weil dem ›Moralisierer‹ allenfalls ein Bruch mit den Gepflogenheiten der Konversation und des geselligen Miteinanders vorgeworfen wird: Stets führe er das Gespräch auf die Bahnen von entweder gut oder böse, falsch bzw. schlecht, anstatt einmal ›fünf gerade sein zu lassen‹.

Eine größere gesellschaftspolitische Brisanz bekommt der Begriff der Moralisierung, wenn damit zugleich die moralische Abwertung Andersdenkender unterstellt wird: Statt um die inhaltliche Auseinandersetzung gehe es, so der Vorwurf, um die Be- und vor allem Abwertung derjenigen Diskussionsteilnehmer, die andere Ansichten vertreten. In diesem Fall wird dem Adressaten des Moralisierungsvorwurfs nicht ungesellige Moralmuffelei vorgeworfen, sondern vielmehr, dass er sein Gegenüber nicht als den akzeptiert, der er nun einmal ist: nicht mehr der Streit in der Sache, von der doch offensichtlich unterschiedliche Ansichten möglich sind, stehe hier im Vordergrund der Debatte, sondern der Charakter, die Einstellungen und vermeintlich verborgenen Motivationen des Anderen.

Trifft der Vorwurf der Moralisierung in diesem zweiten Sinne tatsächlich zu, dann kann man sich der damit vorgebrachten Kritik kaum entziehen. Denn er attestiert dem Gegenüber einen grundlegenden Bruch wechselseitiger Verpflichtungen. Dieser besteht in der Verweigerung von Voraussetzungen, mit denen die Teilnehmer einer Kontroverse sozusagen in Vorleistung gehen müssen, um überhaupt einen gemeinsamen Grund der Verständigung zu finden. Genauer: Teilnehmer an einer Kontroverse können einander überhaupt nur dann mit der Aussicht auf das Verstehen des jeweils anderen adressieren, wenn sie einander ihre basale Verständlichkeitsabsicht unterstellen; und diese Unterstellung impliziert, dass das, was der andere sagt, seinen Überzeugungen und Absichten sowie allgemein geltenden Regeln vernünftiger Rede entspricht.

Verstoß gegen die Prinzipien vernünftiger Rede

Das argumentum ad hominem, also die persönlich herabsetzende Argumentation, die der ›moralisierenden‹ Partei vorgeworfen wird, bricht aber mit einer oder beiden Voraussetzungen. Gegen die Wahrhaftigkeitsunterstellung wird dann verstoßen, wenn das Gegenüber in einer öffentlichen Kontroverse ohne handfeste Indizien verdächtigt wird, es vertrete eine bestimmte Meinung nicht (vor allem) aus den tatsächlich vorgebrachten, sondern (vor allem) aus verborgenen und ablehnungswürdigen Gründen. Was es demnach diskreditiert, sind also einerseits die ihm zugeschriebenen, vermeintlich wahren Gründe für das, was es sagt, und andererseits die Täuschungshandlungen, derer es sich bedient, um seine Absichten zu verbergen.

Die Rationalitätsunterstellung wird wiederum unterlaufen, wenn dem Gegenüber attestiert wird, die von ihm vertretene Position beruhe auf einem eklatanten Mangel an Vernunft, da ihm andernfalls evident sein müsse, wie inakzeptabel sie sei. In beiden Fällen wird die inkriminierte Meinung moralisch kritisiert, die moralische Kritik aber in dem einen Fall durch einen charakterlichen oder motivationalen Mangel – also wiederum moralisch –, im anderen durch einen intellektuellen Mangel – also kognitiv – begründet.

Überspitzt formuliert: der Andere ist entweder zu böse oder zu blöde, um eine vertretbare Meinung zu bilden. Um ein Beispiel zu nennen: Malediven-Urlauber werden gewöhnlich der letzten Gruppe zugeteilt – sie kapieren demnach einfach nicht, wie umweltschädlich ihre Urlaubsflüge sind; Politiker, die sich nicht bereiterklären, Maßnahmen gegen den Flugverkehr zu ergreifen, werden dagegen gern zur ersten Gruppe gezählt. Es ist evident, dass mit einer solchen Einstellung der Austausch über einen zu klärenden Sachverhalt ins Stocken gerät.

Wechselseitige moralische Anklage

Allerdings ist Vorsicht geboten, wenn der Vorwurf der Moralisierung erhoben wird. Denn er folgt wohlmöglich selbst der Logik des argumentum ad hominem, die es dem anderen vorhält. Es geht in diesem Fall darum, dem vermeintlichen ›Moralisierer‹ den besagten Bruch kommunikativer Verpflichtungen vorzuhalten, ihn also moralisch anzuklagen. Das mag berechtigt sein, kann aber auch eine perfide Strategie sein, um von dem Sachgehalt der Argumente des Anderen abzulenken, indem dessen vermeintliche Motivationen und Einstellungen aufgespießt werden. Dazu wiederum ein Beispiel: Wer aus Gründen des Tierwohls gegen Billigfleisch in Supermarktregalen protestiert, wird oft genug der Moralisierung bezichtigt, um vom Sachgehalt seines Protestes abzulenken und sich damit nicht befassen zu müssen. Dem ›Moralisierer‹ wird übel genommen, dass er es seinen Adressaten schwer macht, alles so zu lassen, wie es ist.

Die Sache verschwindet hinter dem Angriff auf die Person.

Beliebte Umschreibungen für den ›Moralisierer‹ drücken das aus: die Einlassungen des Anderen werden als Moralpredigt, d.h. als herablassendes und konsequenzloses Kanzelgerede, oder als Oberlehrertum, d.h. als pedantisch, prinzipienfixiert und selbstgerecht, als infantilisierend und deautonomisierend, als weltfremd und amtsstubenmuffig diskreditiert. Vorwürfe wie die des Moralpredigers oder Oberlehrertums implizieren, die offensichtlich gegenstandslose Kritik des ›Moralisierers‹ sei aufgrund seiner verstaubten und kleinlichen Besserwisserei nicht anders erwartbar gewesen. Wieder verschwindet die Sache hinter dem Angriff auf die Person.

Gesprächsziel: Polarisierung statt Verständigung

Aber selbst wenn der Vorwurf der Moralisierung zutrifft, ist der Sache durch ihn nicht gedient. Denn in der Regel gießt er nur Öl ins Feuer. Taucht das Schlagwort in einer Debatte auf, sind bei dem Versuch, den jeweils anderen durch argumenta ad hominem außer Gefecht zu setzen, wohlmöglich bereits einige Runden um den Tisch gedreht worden. Da man vom Kontrahenten in aller Regel nicht erwarten sollte, dass er dem an ihn gerichteten Vorwurf der Moralisierung nach reiflicher Überlegung zustimmt, ist erwägenswert, ob er sich vielleicht gar nicht in erster Linie an ihn, sondern vor allem an das Publikum richtet, das sich beim Ringelpiez interessiert einfindet und dadurch emotional angesprochen werden soll. Dann geht es gar nicht mehr um gemeinsame Verständigung und die Klärung strittiger Fragen, sondern um Polarisierung und die Festschreibung von Differenz. In diesen Fällen handelte es sich um eine genuin populistische Kommunikation, der es um Aufmerksamkeitserzeugung durch Emotionalisierung geht. Nüchterne Einlassungen sind dann nur noch schwer möglich, da sie in den Sog der Polarisierung hineingezogen werden.

Die Lücke zwischen Pflicht und Recht

Warum verzeichnen wir aber in der Gegenwart eine Zunahme von Debatten, die von Moralisierungsvorwürfen und ihrer Abwehr gekennzeichnet sind, sich im Zuge der sich daraus entwickelnden Konversationsdynamik verhärten und zur Polarisierung der einander gegenüberstehenden Positionen beitragen? Oder handelt es sich dabei um altgewohnte Phänomene, die nur mit einem modischen Schlagwort belegt werden?

Hinter den Moralisierungsvorwürfen steht ein gesellschaftliches Strukturproblem.

Tatsächlich scheint viel dafür zu sprechen, dass die heutzutage allgegenwärtige Verwendung des Schlagworts der Moralisierung auf ein gesellschaftliches Strukturproblem verweist, das mit dem rapiden Wandel unserer Lebensbedingungen einerseits durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, andererseits durch insbesondere den Klimawandel und die damit einhergehenden Folgen zu tun hat. Das Schlagwort verweist dabei auf die Diskrepanz zwischen einem individuellen oder kollektiven Pflichtbewusstsein einerseits und dem Verrechtlichungsgrad seines jeweiligen Gegenstands andererseits. Angesichts des rapiden Wandels unserer Lebenswelt neigt das Recht dazu, den verrechtlichungsbedürftigen Missständen hinterher zu hinken.

Sozialer Friede durch Verrechtlichung

Es geht demnach um den Konflikt zwischen der moralischen Dimension des Handelns und seiner rechtlichen Regelung. ›Moralisierung‹ bedeutet in diesen Zusammenhängen die Mahnung an die Mitbürger, Handlungsgewohnheiten, die den vorgeblichen moralischen Pflichten widersprechen, angesichts der mangelhaften Verrechtlichung des entsprechenden Handlungsbereichs freiwillig zu verändern. Wo die juridische Regelung akuten Missständen hinterherhinkt, werden diese Missstände personal zugerechnet. Gelingt es beispielsweise ›der Politik‹ nicht, wirksame Gesetze gegen Massentierhaltung zu erlassen, wird die Ursache des Missstandes in den Ställen personal zugerechnet und den Fleischessern vorgeworfen, durch ihr Verhalten für das Leid der Tiere verantwortlich zu sein.

Umgekehrt gilt: Verrechtlichung entlastet von moralischer Zurechnung. Wenn auf den Autobahnen Tempo 100 gilt, kann derjenige, der mit 180 km/h über die Autobahn rauscht, ganz entspannt mit einem Bußgeld verwarnt werden, statt an seine inneren Einstellungen appellieren zu müssen. Fazit: Verrechtlichung dient dem sozialen Frieden, Moralisierung strapaziert ihn.

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