Schäm dich! Kolumne

Der Mensch ist ein soziales Wesen, das sich erst in und durch Kommunikation mit anderen Menschen und in der sozialen Gruppe entwickeln und seine Fähigkeiten ausbilden kann. Empathiefähigkeit ist im Gehirn angelegt und ermöglicht es, das soziale Miteinander zu gestalten und zu sichern.

Allerdings kann Empathiefähigkeit auch blockiert werden. Interessanterweise ist es gerade das biologische und soziale Angewiesensein des Menschen auf die Gruppe, das zu Blockaden von Mitgefühl führen kann. Wenn ein anderer Mensch als „Feind“ eingeschätzt wird, sind Menschen sogar in der Lage, schlimmsten Bestrafungen ungerührt zuzusehen.

Zu den traditionell schlimmsten Strafen gehört die soziale Beschämung des Artgenossen. Sie stellt an den Pranger. Solche Erfahrungen können noch nach Jahrzehnten erinnert werden und sich in das Leibgedächtnis von Menschen förmlich eingraben.

Seitdem Texte von mir im Netz publiziert werden, kann ich auch persönlich interessante Beobachtungen zum Thema machen. Ich nutze das inzwischen in der Ausbildung, um das Thema Beschämung zu illustrieren und um Wege aufzuzeigen, wie man sinnvoll mit solchen Angriffen umgehen kann.

Konkret: Im Frühjahr dieses Jahres ist mir ein Fehler unterlaufen. In einer meiner Kolumnen habe ich statt „Katheder“ „Katheter“ geschrieben. Zwei User, die meine Texte schon öfter abfällig kommentiert hatten, wiesen die Community explizit auf meinen Patzer hin, wörtlich: „immer wieder unfreiwillig komisch, diese Kolumne“. Diese Kommentare hatten keinerlei inhaltlichen Bezug zu meinen Thesen. Sie waren dezidiert verfasst worden, um mich zu beschämen.

Natürlich war ich erst einmal betroffen. Jedoch: Mit Fehlern ist man selten allein. In meinem Fall kam mir ein leibhaftiger Kardinal zur Hilfe. Walter Kasper schrieb in der ZEIT von einem „Wechsel vom Katheter des Professors auf die Cathedra des Bischofs“. Auch größeren Geistern als mir unterlaufen offenbar Korrekturpannen. Beschämende Situationen kann man einordnen. War der Fehler wirklich so schlimm? Niemand ist daran gestorben, dass ich ein „d“ und ein „t“ verwechselt habe.

Dann hilft es, wenn Zeugen von Beschämungsaktionen bewusst in die Solidarität gehen. Dafür müssen sich diese oft einen innerlichen Ruck geben, denn intuitiv scheuen Menschen davor zurück, Beschämten beizustehen, um nicht selbst am Pranger zu landen. Das ist das Perfide an der Dynamik von Beschämung. Dagegen trägt jede solidarische Intervention dazu bei, Isolation zu durchbrechen.

Schließlich rege ich in der Ausbildung dazu an, beschämende Aggressionen mit Humor zu nehmen. Humor ist grundsätzlich ein wunderbarer Resilienzfaktor. Die komischen Aspekte von Fehlern wahrzunehmen, ist entlastend. Manchmal entlarvt sich dann die Irrelevanz der angeprangerten Situation von selbst.

„Warum machen Menschen so was mit Ihnen?“ fragen mich die Vikarinnen und Vikare. Ob es daran liegt, dass ich eine Frau bin, beruflich erfolgreicher als manche Männer? Ob hier Gefühle eigener Beschämung und Unzulänglichkeit eine Erklärung bieten? Ich kann nur spekulieren. Was ich in meinem Fall festhalten kann: Theologisches Wissen um das Gebot der Nächstenliebe hilft leider nicht immer, Blockaden von Empathie und Freude an Beschämung zu verhindern. Einer der beiden Herren ist Pfarrer, der andere systematischer Theologe.

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