Über den Zweifel Eine Meditation

Ob methodischer Zweifel in der Wissenschaft oder existenzielles Fragen, das Zweifeln gehört zum Leben wie die Luft zum Atmen.

Mit der Theodizeefrage ist es ja so: Wenn man die Antwort kennt, ist alles ganz einfach. Solange aber noch Unklarheit da ist, kann sie kräftig zwacken. – Mit der Frage Ist Gott gerecht? Warum gibt es Leiden? Wieso muss auch der Gerechte leiden? haben sich Gläubige seit jeher geplagt. Greift Gott denn gar nicht ein? Hunger, Kriege, Krankheiten… Wie kann Gott das zulassen!

Gerade in Krisenzeiten liegt es nahe, mit dem Zweifel einzusetzen. Das hat ein gutes Recht. Doch geht es auch anders. Man muss beim Räsonieren ja nicht zwingend mit dem Negativen anfangen. Wenn eine Naturkatastrophe wie ein Tsunami, ein Erdbeben, ein Vulkanausbruch Lebensgrundlagen zerstört, dann ist das schrecklich, aber das heißt ja auch im Umkehrschluss, dass es stabile Lebensgrundlagen gab und gibt! Wenn eine Krankheit in eine Lebensplanung einbricht, dann ist das grundstürzend, aber dann zeigt das auch, es gibt und gab gesundes Leben. Poetisch gesagt: Wenn Finsternis herrscht, und wir das merken, dann ruft das in Erinnerung: Es gibt Licht.

Mit dem Guten anfangen

Bevor wir zweifeln, macht es also Sinn, erst einmal anzusehen, was alles da ist. Haben wir das schon realisiert? Haben wir dafür schon einmal jemandem – gedankt? Das ist ja nicht selbstverständlich (dass „überhaupt etwas ist, und nicht vielmehr nichts“…). Danken, das Positive sehen, erledigt nicht das Zweifeln, gibt aber einen anderen Ausgangspunkt. In meiner Lebenswelt mischen sich ja systematisch und lebenspraktisch ständig die verschiedensten Weisen von „Sein und Nichtsein“.

1. Zuallererst ist da das große Staunen über das Vorhandene. Heute Morgen bin ich „auf ein Neues“ aufgewacht. Hallo Welt! Wenn ich durch den Wald spaziere, Waldbaden mache, wie das jetzt heißt, über Höhen schreite, weitet sich das Herz und ich ahne die Größe des Erdballs. Man kann das das Geschenk des Lebens nennen. Die Güte des Lebendigen. Ehrfurcht vor dem Lebendigen. Damit kann man immer gut beginnen. Und gleich sieht vieles anders aus.

2. Bewahrung: Jeder kennt auch Erfahrungen und Situationen der Bewahrung. Das Kind stürzt vom Fahrrad, hat aber nicht mal Blessuren. Die Tasse fällt vom Tisch, zerbricht aber nicht. Man wird ernsthaft krank, erholt sich aber wieder. Solche und viele andere kleine und große Beispiele begleiten uns täglich. In der Summe sicher viel mehr und öfter, als die Auslöser von Zweifelspein. Die überwundene Krise; auf Herbst und Winter folgt Frühling und Sommer. Ein Gemeinwesen, in dem ein fairer Ausgleich gesucht wird zwischen verschiedenen Interessen… Hier gibt es einen Überschuss an Positivem, der nur nicht auffällt, weil wir uns so daran gewöhnt haben.

3. Daneben gibt es Momente, wo Zweifel geradezu willkommen sind. Die Infragestellung falscher Gewissheiten und Überzeugungen. In der Wissenschaft gehört es zum guten Ton, die richtigen Fragen zu stellen und Zweifel anzumelden. Kritik ist erwünscht, ja notwendig. Eine „Kritische Ausgabe“ eines Werkes gilt darum als eine gute Ausgabe, weil darin das Für und Wider von Plausibilitäten abgewogen ist!

4. Schließlich gibt es Situationen, wo der Zweifel überhandnimmt. Man muss sich dann in der Wissenschaft von einer Theorie verabschieden, weil sie sich einfach nicht mehr halten lässt. Ein Leben wird völlig umgeworfen, weil ein Schicksalsschlag dazwischentritt. Nun wird es ernst. Ohnmächtig müssen Eltern auf der Intensivstation mit ansehen, wie trotz allem medizinischen Einsatz ihr Kind stirbt. Wo ist da die „Güte“ abgeblieben? Wer von Güte redet, muss auch ihr mögliches Fehlen und vorkommende Verborgenheit bekennen.

Methodischer Zweifel

Bleiben wir für einen Moment bei der Wissenschaft. Cogito ergo sum (Ich denke, also bin ich) sagte einmal ein Philosoph, und machte den Zweifel zum Ausgangspunkt. Das cogitare bezeichnet hier zuerst das dubitare: Zweifeln (ich bezweifle alles und komme dadurch zum Wesentlichen) als den Versuch, durch den Zweifel zur Gewissheit zu gelangen. Im methodischen Zweifel der Wissenschaft ist das aufgenommen. Wissenschaftstheoretisch heißt das unter anderem ganz banal, dass das Infragestellen zum Prozess der Wahrheitsfindung stets dazugehört. Das Richtige wird im Abwägen von These und Antithese, in der Prüfung von Einwänden, in Testanordnungen und dem bewussten Dem-Zweifel- Aussetzen „bewährt“.

Die vier Bereiche von Setzung/Schöpfung, Infragestellung, Bewahrung und Verborgenheit, wie sie in theologischen Lehrbüchern zu finden sind, zeigen so schlicht, dass meine lebensweltliche Erfahrung auch theologisch-wissenschaftlich anschlussfähig ist. Interessanterweise konnte man in evangelischen Lehrbüchern im 17. Jahrhundert (neben Abschnitten zu Schriftmeditation oder Gebet) als eigenes Lehrstück ausdrücklich die tentatio finden: Die Situation des Zweifels, der existenziellen Prüfung, der Verborgenheit des Lehrgegenstands, die „Anfechtung“ als fester Bestandteil der Dogmatik!

Jüdische Weisheit

Momente der Verborgenheit als Ausgangspunkt, das findet sich auch in der jüdischen Tradition. Die Zurückhaltung davor, den Namen Gottes auszusprechen, die Anweisung, sich nicht selbst ein Bild auszudenken, wie Gott (und seine Gerechtigkeit) aussehen müsse. Die jüdische Weisheit ist hier in manchem klüger als ein vorlautes „Wir haben es“.

Sie kennt zudem ein großes Vor- und Urbild des leidenden Gerechten: Hiob, der in seinem kühnen Rechtsstreit mit Gott („Antworte mir“) eigentlich ja keine einfache Antwort erhält, sondern eher eine Zurechtweisung („Was bildest du dir ein, solche Fragen zu stellen“), am Ende aber doch auch wiederhergestellt und zu Ehren gebracht wird. Die Haupt-Hiobsbotschaft lautet denn auch mitten in seinem Elend: „Ich weiß, dass mein Erretter lebt, mit meinen eigenen Augen werde ich es sehen“ (Hi 19,25-27).

Auch der Jude Jesus hat an solcher Rede Anteil, wenn er in seiner Reich Gottes Dialektik lehrt, dass es „schon jetzt“ angebrochen ist, aber „noch nicht“ alles, was ihm entgegensteht, zu einem Ende gekommen ist.

Zeit des Zweifels

Generell lässt sich ja sagen, dass „Theodizee“ ohnehin nur dann ein „Problem“ abgibt, wenn man innerweltliche „Gerechtigkeit“ zum Maßstab nimmt, also das innerweltliche Wohlergehen und die sichtbare Welt für das Ein-und-Alles hält. Für einen Denker wie Salomo, wäre es undenkbar, damit zu rechnen, dass in der Welt, wie sie ist, die ideale Gerechtigkeit herzustellen wäre. Auch für die alten Philosophen war schon klar, dass in einer tendenziell ungerechten Umgebung (logischerweise) der Gerechte viel erleiden muss.

Die Aussicht auf Herstellung von Gerechtigkeit, z.B. am Ende aller Tage, hat freilich nicht zur Folge, die Hände in den Schoß zu legen. Im Gegenteil. Gerade christliche Ethik und christliches Tun setzt sich ja in eminenter Weise für die Gerechtigkeit ein. Nur wundert sie sich nicht, wenn es nicht in perfekter Form schon jetzt in allem zu bewerkstelligen ist. Für das Urchristentum ist es selbstverständlich, dass alles wichtige nicht „in dieser Welt“ liegt und hier zu suchen ist. Es gibt kein Hängen und Haften in der Welt.

Zeit der Gewissheit

Für manchen mag es tröstlich sein, dass in der Mitte des Christentums eine Gestalt steht, die augenscheinlich gescheitert ist (vgl. das aspekte-Heft „Scheitern“ 4/2018). Wie gut kann es im seelsorgerlichen Gespräch sein, darauf hinzuweisen. Und wie viele Figuren der Weltgeschichte gibt es denn, die auf ganzer Linie nur „Erfolge“ vorzuweisen hätten?

Interessanterweise ist es ein Theologe, der sonst wie kein zweiter für „Gewissheit“ steht, Martin Luther, der konstitutiv und systematisch in den Theologiebegriff das Thema des Zweifels und der Anfechtung eingebunden hat. Mit seinen drei Regeln des Theologiestudiums Oratio, Meditatio, Tentatio, die dann (s.o.) in die evangelische Lehrentwicklung eingegangen sind, hat er neben dem Gebet mit der Bitte um den richtigen „Geist“ (Oratio) und dem Schriftstudium in seinen verschiedenen Varianten (Meditatio) grundlegend die Phase der existenziellen Prüfung des im Studium erlernten als Tentatio (die Situation der Anfechtung und des Bezweifelns) als unaufgebbar und unverzichtbar ausgegeben. (Systematisch konnte er bekanntlich auch an anderer Stelle von der Verborgenheit Gottes reden. Es gibt also auch in reformatorischem Sinn zwei Zeiten: Eine Zeit des Zweifels und eine Zeit der Gewissheit.)

Torso – Realität

Zwei Zeiten, verschwimmende Grenzbereiche zwischen Infragestellung und Bewahrung …, unsere Lebenswelt ist ein großes Durcheinander. Doch zum Skandalon, zum Skandal, das das Christentum immer wieder ausgelöst hat, gehört eben auch, dass bereits der Torso genügt. Auch das Bruchstückhafte, das kleine Unscheinbare, das Schwache, das Unvollständige wird gütig angesehen. Es sind ja die unscheinbaren Erzählungen und Gleichnisse von Hirten und Schäflein, von Scherflein und Weizenkörnchen und die kleinen zeichenhaften Handlungen, mit denen in Nazareth die Jesusgeschichte beginnt. Von Narzissmus und Leidensvermeidung ist dabei auffallend wenig die Rede. Der Weg Jesu schließt auch die bewusste Leidübernahme nicht aus. Er stellte dabei die Überzeugungen vieler Menschen infrage. Und auch sein Weg selbst wurde am Ende infrage gestellt. Er stellte Gottesbilder infrage. In seinem Ende ist auch Gott selbst infrage gestellt.

Doch so wie das Hiobbuch ein Vorbild des „leidenden Gerechten“ gibt, das in der Gewissheit eines guten Endes gipfelt, so ist auch der Weg Jesu nicht ohne solche Zuversicht. Jesus zeigt in Wort und Werk den Gott, der Leiden eben nicht leugnet, ihm nicht ausweicht, sondern sich darauf einlässt, es auf sich nimmt und letztlich überwindet. Im größten Elend zeigt sich, dass Gott – ganz souverän – auch dessen mächtig ist.

Wenn sich wieder einmal das große Durcheinander von Setzung, Bewahrung und Infragestellung bemerkbar macht, wenn die innerweltliche Verborgenheit überhandnehmen will: Dann kann (auch wenn das nicht die letzte und einzige Antwort ist) ein Gedanke weiterhelfen, der sich in Traditionen der tiefen innerlichen Meditation eines Johannes Tauler im 14. Jahrhundert findet. Er sagt: Wenn Zweifel und Anfechtung wachsen, gar zu riesig werden wollen, dann denk daran, wie wenig an „der Welt“ letztlich gelegen ist, und schon ist alles gewonnen.

Ein christliches Zentralsymbol

Bezeichnenderweise sind all diese Momente auf sprechende Weise versammelt in einem Symbol, das manche sich als Schmuckstück um den Hals hängen. Das Kreuz ist ja nicht zuerst „Herrschaftssymbol“, sondern zeigt den verletzlichen Menschen. Es ist der infrage gestellte Mensch und der infrage gestellte Gott, der darin sichtbar wird. Freilich: Es ist auch der überwundene Zweifel (oder doch die Hoffnung darauf), der so zum Ausdruck kommt: „Am letzten Tage werdet ihr mich nichts fragen“ (Joh 16,23), weil dann alles glasklar ist.

 

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