Glauben üben Versuch eines Entwurfs

Eine Einübung im Glauben: Vom Judentum über Anleihen der Mystik bis zu Johannes dem Theologen finden sich zahlreiche Glaubensbeschreibungen. Nicht immer wird von schnellem Erfolg berichtet.

„Glauben heißt, durch den Horizont sehen“, lautet ein afrikanisches Sprichwort. Damit ist gleich Mehrfaches gesagt. Glauben geht oft gegen den Augenschein! Wo die Optik dem Auge vorgaukelt, an der Horizontlinie höre die Welt plötzlich auf, weiß der Glaube: Es geht noch weiter. Glaube sieht also mehr. Er klebt nicht am aktuell Sichtbaren, er kennt auch die anderen Dimensionen. Und folglich: Glaube gilt und „geht durch und durch“! Der Glaubende sieht nicht nur hinter den Horizont, was hinter dem Horizont liegt. Glaube durchschaut auch die Horizontgrenze (als solche), er durchschaut die Begrenzung der Welt.

Hinter dem Horizont geht’s weiter, weiß auch das allgemeine Liedgut. Glaube kann so ganz alltäglich daherkommen. Es braucht nicht notwendig die „Überfliegerei“! Glaube kann laut Religionsgeschichte im Stillen, im Stottern, ja einem Stall in Bethlehem beim Brabbeln eines kleinen Neugeborenen statthaben. Also ganz profan. Er braucht nicht immer das „große Besteck“ der hohen Formel und des feierlichen Tons. Und dennoch oder gerade darum ist es so, dass, wie einst Heinrich Heine anmerkte, die Glaubensstücke und -artikel der hohen, ewigen Wahrheiten den Glaubenden „alsdann“ – nach und nach – als eine Dreingabe dazugegeben werden, gleichsam zufallen, „wie der schöne Markknochen, den der Fleischer, wenn er mit seinen Kunden zufrieden ist, ihnen unentgeltlich in den Korb schiebt“ (Heine, 1851). Es ist ein reiches, überaus Gewinn bringendes Geschäft um den Glauben.

Glaubensübungen

Solcher Glaube, auch der armseligste, will immer wieder neu geübt werden. Man „hat“ ihn nicht einfach. Es braucht die Glaubensübung im zweifachen Sinn. Einmal die Einübung im Glauben. Der Glaubende übt den Glauben sprichwörtlich; weil in aller Bruchstückhaftigkeit fast immer etwas fehlt. Man hat den Glauben tatsächlich zu üben, immer neu zu wiederholen. Der Glaubende übt den Glauben, wie man sonst vielleicht ein Musikstück übt und einstudiert. Tatsächlich ähnlich, wie ein Musikinstrument studiert wird: Man studiert, wie es funktioniert, „wie es geht“ (manche „Profis“ auch, wie es aufgebaut ist), wiederholt, was man schon kann. Studiert die Noten, Tonfolgen und Melodien immer wieder ein. So wie man Klavier übt. Es wird gelernt, wie die Tasten und die Töne nacheinander folgen, so dass es gut und richtig klingt. Oder jeweils gleichzeitig, damit es einen vollen Klang ergibt. Das ist die eine Glaubensübung, die Einübung.

Zum andern: die Glaubens-ausübung. Was man gelernt hat, was man schon weiß, das will auch ausgeübt, in die Anwendung gebracht sein. Gerade ein Klavierspieler merkt, die Hände „wissen“ bald und meist viel mehr, als man selber denkt. Wer viel übt, spielt geradewegs drauflos, ohne lange nachzudenken. Die Töne sind jetzt schon „intus“. Manches ergibt sich plötzlich wie von selbst. Die Melodie ertönt viel flüssiger. Es „läuft“.

Glaubens-einübung und Glaubens-ausübung sind die zwei Seiten der Medaille, die da Glauben üben heißt. Damit ist schon viel davon gesagt, wie „Glauben geht“. Doch ist noch klarer zu beschreiben, was den Glauben ausmacht. Verschiedene Glaubensbestimmungen aus der Geschichte können dabei helfen. Beispiele aus dem Judentum, aus der Geschichte der Mystik und aus dem Johannesevangelium zeigen noch deutlicher, was Glauben heißt.

1. Harren (יחל)

Vom Judentum zu lernen, heißt insbesondere, richtig glauben zu lernen. Das Judentum hat einige der größten und beeindruckendsten Glaubensgestalten der Geschichte aufzubieten! Und hat so auf vielschichtige Art die verschiedenen Dimensionen offen gelegt, die zum Glauben wesentlich gehören. Eine davon ist „jchl“ – harren.

Der große Bundesprophet Jeremia schreibt viel davon, wie substantiell es ist, auf Gott zu harren. In seinen Klageliedern, als es wieder einmal nicht zum Besten steht, bekräftigt er das Ausharren und Warten, trotz allem Widerspruch. Auch der Glaubens-Titan Hiob sagt, sitzend auf seinem Misthaufen: „Ich warte!“ (hier mit der Vokabel יחל). Beim kleinen Propheten Habakuk, als sich die Gottesverheißung unendlich zu verzögern scheint, heißt es: „Wenn sie sich auch hinzieht, so harre ihrer; sie wird gewiss kommen und nicht ausbleiben.“ (Hab 2,3) Und gewiss nicht zufällig sind es die Psalmenbeter, die viel vom Harren wissen. „Unsere Seele harrt auf den Herrn, er ist uns Hilfe und Schild.“ (Ps 33,20; 42,12; 40,2; 71,14; 119,43.74.114; u.v.m.)

Wer auf etwas harrt, verlässt sich darauf, dass es eintrifft, wie erhofft.

Das Harren auf Gott begegnet mit einer ganzen Reihe hebräischer Begriffe (jchl, kvh, dmm, …) . Mal liegt der Ton mehr auf dem „Hoffen“. Mal eher auf dem „Stille sein“. Zum Verharren und Ausharren gehört auch ein Sich-zurücknehmen. Worauf nachher noch zurückzukommen ist.

2. Sich verlassen

Verlass Dich nicht auf Deinen Verstand, sondern verlass Dich auf jhwh / יהוה (Sprüche 3,5f) – sei nur stille dem Herrn, der wird Dir geben, was nötig ist: Generell entspricht es der jüdischen Weisheit, statt von sich selbst vom „Höchsten“ alles zu erwarten. So wird erkennbar, dass das Harren und das Glauben wesentlich ein Sich-verlassen enthält. Wer auf etwas harrt, verlässt sich darauf, dass es so eintrifft, wie erhofft. Wer auf ein bestimmtes Gegenüber harrt, wartet nicht nur auf dieses Gegenüber, sondern verlässt dabei sich selbst, verlässt wortwörtlich die eigene momentane, vielleicht eingeschränkte „Sicht“. Er übersteigt den von ihm gerade noch überschaubaren Horizont. Es ist sehr anregend im breiten Strom der jüdischen Weisheitstradition (zu der z.B. die Bücher der Spruchweisheit gehören) zu sehen, wo und wie dieser „Horizontüberstieg“ vom aktuell Sichtbaren zum z.B. noch nicht Sichtbaren immer wieder zu identifizieren und nachzuvollziehen ist.

3. Vertrauen

Wer auf Gott harrt, auf ihn in allen Dingen sich verlässt, von dem kann man auch sagen: Dass er Gott vertraut. Eine der wichtigsten und gängigsten Beschreibungen von Glauben hält darum fest: Glauben ist Vertrauen (vgl. Über die Zuversicht, evangelische aspekte 1/2021).

Anleihen der Mystik

Zu den geschichtlichen Bewegungen mit denen der vertrauende Glaube immer wieder verglichen wird, zählt des Weiteren der Strom der Mystik. Beim Sich-Verlassen des Glaubenden hat sich die Thematik bereits angemeldet. Der Glaubende verlässt sich und sein (bisheriges) Wesen ein ganzes Stück und sucht nach etwas anderem. Etwa in mystischer Versenkung wird versucht, sich in göttliche Sphären zu versetzen. Hier gibt es das Ziel des Einswerdens des Glaubenden mit seinem GlaubensGegenstand, das viele Mystiker erstreben: die mystische IneinsSetzung, die „unio mystica“.

Mystik ist auch in unseren Breitengraden oft positiv konnotiert. Nicht alle wissen dabei, dass ein Bestandteil von Mystik meist die „Nichtung“ des alten Egos ist. Erst im „Leerwerden des Ich“ will Raum für das Höhere entstehen. Der Glaubende wird im mystischen Prozess ein anderer, oder soll das werden.

Leerwerden …: Auch bei der hebräischen Vokabel „dmm/damam“, s.o., schwingt das Element solcher Nichtung in ähnlicher Weise mit: damam kann „still werden“ bedeuten, schweigen und verstummen, „jede Selbsttätigkeit aufgeben“ sowie: „vor Schrecken starr werden wie ein Stein“, halt machen, still stehen, vernichtet werden…

„Ich übe noch“, sagt einer der Apostel.

In der Mystik wird im eigenen Leerwerden das Göttliche gesucht. Das „Gott-gemäße“. Im Idealfall ergibt sich eine Gottesschau. Der Mystiker wird so manchmal auch des „Ungeheuerlichen“ und Abgründigen der Gottheit gewahr, wie sich vielfältig in mystischen Zuschreibungen und Attributionen kundtut. Vielleicht auch ihrer unaussprechlichen Erhabenheit, ihrer Größe, doch in aller Regel: vor allem ihrer Unzugänglichkeit und Unverfügbarkeit. Den respektvoll einzuhaltenden Abstand zum Höchsten in seiner ehrfurchtsgebietenden, unausforschlichen „Macht und Herrlichkeit“ kennt gerade auch das Judentum. Mose zum Beispiel zuckt nach den ersten Gotteserweisen erkennbar zurück: „Schicke doch lieber einen anderen nach Ägypten“. Am Berg Horeb/Sinai kann er der hohen Gottheit nur hinterhersehen; von Angesicht zu Angesicht den Höchsten schauen und durchschauen, in seiner Allmacht, Allweisheit, Allgerechtigkeit, das geht nicht.

Die Religionswissenschaft hat nicht nur vom fascinosum des Göttlichen, dem Faszinierenden gesprochen, sondern auch vom tremendum, vom Schrecken, das manchen Gottsucher erfasst. Ein Erschrockensein oder im positiven Fall eine persönliche Ergriffenheit – was sich wohl schon einstellen mag, wenn der Erdklumpen Mensch, der er ist, unvermittelt dem Erschaffer von Galaxien nachsinnt und offen gegenübertritt. Der geplagte Gottesmann Jeremia berichtet in seinen Jeremiaden viel davon. „Schrecklich ist‘s, in die Hände des Allmächtigen zu fallen.“ „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“, fragt der „Weisheits“-Psalm 8.

Was der Glaubende bei seiner Gottessuche in seinem Inneren erfahren hat – sei es zuerst ein Schaudern, sei es ein positives Ergriffensein –, was er an Intentionen, ungefähren Ahnungen oder in Worte fassbarer Erkenntnis in sich gesammelt hat, bewegt ihn selbstredend auch weiterhin in seinem Herzen. Anders als in manchen mystischen Strömungen ist das Ziel des Glaubens nicht die Auflösung des Bewusstseins (bis hin zur Bewusstlosigkeit, etwa in Trance), sondern vielmehr ein von falschen Vorstellungen gereinigtes, ein umso klareres Bewusstsein und ein (gott-)bewusstes Leben.

Während es also manche Verbindungen und gegenseitige Anleihen immer wieder gibt (vergleiche etwa die frühe Mystik in Byzanz), gibt es auch Unterschiede.

Beides vereint

Denn: Der mystischen Versenkung des Frommen ist oft der Vorwurf gemacht worden, letztlich nur einer egoistischen Weltflucht Vorschub zu leisten („Das ist doch Quietismus“). Ist denn, wird dann gefragt, im biblischen Sprachgebrauch nicht eher als von Glauben üben, viel gängiger von Liebe üben oder von Gerechtigkeit üben zu reden? (vgl. Mt 5,48). Kurz geantwortet: Es braucht beides. Denn sofern und weil der christliche Grund-Satz gilt: „Gott ist ein glühender Backofen voller Liebe“, folgt aus christlicher Gottesanschauung eben doch noch anderes als bei der Versenkung in ein unsprachliches Nichts.

Auch der Glaubende im frühkirchlichen Kontext erstrebt ein Gleich-gestaltet-Werden mit dem Meister. In Nachfolge und Nachahmung des Nazareners (lat. „imitatio“ – „Nachbildung“) wird (zwar) die Ähnlich-Werdung gesucht. Der Nachfolger versucht es in Vielem seinem Meister durchaus gleich- und nachzutun! Im Nachahmen des Stifters, mitsamt dem erklärten Ziel, dass er „Gestalt“ gewinne „in mir“, kennt auch das biblische Zeugnis die Aussage, dass dieser „durch den Glauben in euren Herzen wohne“ (Eph 3,17, vgl. Gal 2,20). Doch geht es dabei weniger um eine statische Zustandsbeschreibung als um eine immer neu zu realisierende Anteilhabe, eine Art andauernde gegenseitige „Kommunikation“.

Johannes der Theologe

Das wird vielleicht am deutlichsten, wenn man sich auf die gelegte Spur von Johannes, dem Theologen, begibt (1. Jh. n.Chr.). Kennt man schon vom Lukas-Evangelium die Formel „wer verliert, der wird empfangen“ (Lk 9,24; 17,33; vgl. Joh 12,25), sagt das Johannesevangelium es schier noch eindringlicher, jedenfalls bildhafter: „Wer in mir bleibt, und ich in ihm, der wird viel Frucht bringen“ (zu „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“: Joh 15,5). Oder der 1. Johannesbrief zur Fundamentalaussage Gott ist die Liebe: „und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh 4,16)

Der Glaubende macht also immer wieder Halt (in Gott), und geht dann wieder weiter. „Ich übe noch“, bekennt einer der frühen Apostel von sich selbst (Phil 3,12). Und der konnte immerhin von sich sagen: „Ich habe den Herrn gesehen!“

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