Weiblichkeit und Männlichkeit in konservativ-muslimischen Milieus Wie verschiedene kulturelle Codes in der deutschen Gesellschaft kollidieren

Während weiblichen und männlichen Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Schule ein egalitäres und am Prinzip der Individualität orientiertes Ideal vermittelt wird, werden sie zuhause von Geschlechtsbildern ihres Herkunftsmilieus geprägt. Eine spannungsvolle Situation.

Für die Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf. Diese alte Weisheit wird heute wieder vielfach bemüht. In diesem Dorf haben die Sozialisationsinstanzen Großfamilie, Kirche, Schule und Nachbarschaft als Interaktionspartner des Kindes einvernehmlich „zusammengearbeitet“. Die Pluralisierung aller Lebensbereiche, der Bedeutungsverlust der Kirche und die ausgreifende Verstädterung brachten die Eltern in eine schwierige Lage: Sie können sich nicht mehr ohne Weiteres auf ihre Intuition verlassen. Der Wegfall des früheren „dörflichen“ Orientierungsrahmens sorgt für Verunsicherung in dem Bestreben, den Nachwuchs zu einem „angemessenen“ Leben zu erziehen.

Kirche und Schule setzen mehr oder weniger bereits sozialisierte, „erzogene“ Kinder und Jugendliche voraus und verfolgen darüber hinaus relativ inkonsistente Ideale zwischen den Polen Disziplin/Autorität und Freiraum/Selbstständigkeit. Ausgerechnet bei der Bedeutung und Konstruktion von Geschlecht bieten die Institutionen wenig Orientierungshilfen. In diesem komplizierten, zwiespältigen Umfeld finden sich muslimische Migranten vor, die nach Möglichkeiten suchen, wie ihre Kinder aufwachsen können und sollen.

Die Verwirklichung von Geschlechterrollen beginnt vor der Geburt

In konservativen, muslimisch geprägten Familien gelten für das jeweilige Geschlecht unterschiedliche Werte und Erwartungen. Die Familie Bin Al-Suad, die ich im Rahmen eines Forschungsprojektes kennenlernte, stammt ursprünglich aus dem Landkreis Aleppo. Aleppo war vor dem Bürgerkrieg die bevölkerungsdichteste Stadt Syriens, eine Kultur- und Handelsmetropole. Die Mutter der Familie, Ulima, kam im Rahmen der Familienzusammenführung als Zwölfjährige nach Deutschland; ihre Eltern leben seit 1968 hier. Unmittelbar nach der Einreise besuchte Ulima eine Hauptschule in Berlin, beendete diese jedoch nicht und hat auch keine abgeschlossene Berufsausbildung. Ulima arbeitet in einem arabischen Supermarkt in Berlin als Aushilfe und verdient 400 Euro. Als sie 19 Jahre alt war, heiratete sie den Nachbarssohn Fadi, der aus derselben Gegend von Syrien stammt wie sie. Fadi kam gemeinsam mit seinen Eltern nach Berlin. Auch er besuchte eine Hauptschule, die er aber erfolgreich abschloss. Da seine Eltern gegen eine Lehre waren – man würde in dieser Zeit zu wenig verdienen –, suchte sich Fadi nach der Schule eine Anstellung bei einer Baufirma, wo er bis heute als Dachdecker arbeitet.

Ulima schildert, wie in der Familie die Vorbereitung auf das erste Kind aussah: Wir haben sechs Jahre auf unser erstes Kind gewartet. Der Arzt meinte, es wird ein Junge. Wir haben uns sehr gefreut. Mein Mann wollte unbedingt einen Sohn haben. Wir haben dann gleich alles für ihn gekauft: Spielzeugautos, einen Fußball, Hosen und so weiter. Er wird unsere Familie und den Familiennamen weiterführen.

Die Praxis der geschlechtsspezifischen Erziehung

Das Kind wird in diese vorgeformten Werte und Erwartungen hineingeboren. Es unterliegt schon bald einem teils unterschwelligen, teils offensichtlichen Druck, sich in seine durch die Gesellschaft und die Eltern definierte geschlechtsspezifische Rolle zu fügen.

Da sich Khalid von der Geburt bis zum Grundschulalter in der häuslichen Umgebung aufhält, sind seine wichtigsten Bezugspersonen die Mutter und die Großmutter. Schon früh ist sein Verhältnis zu beiden zwiespältig, berichtet Ulima:

Am Anfang hatte ich ihn viel bei mir. Oder die Oma hatte ihn. Aber irgendwann muss man den Jungen auch loslassen. Es ist nicht immer einfach, ihn loszulassen, und gleichzeitig möchte man ihn wieder umarmen. Das ist ganz schön schwer. Du darfst den Jungen aber auch nicht zwingen. Wenn er bei dir sein will, ist das gut. Wenn nicht, dann ist das bei Jungs nicht so schlimm.

Die Beziehung ist einerseits noch von körperlicher Zärtlichkeit geprägt, andererseits lehnen beide Seiten diese Körperlichkeit, vor allem ab der Grundschulzeit, ab. Kleinere Aufforderungen, zum Beispiel die Mutter zum Einkaufen zu begleiten, appellieren lediglich an seinen freien Willen. Khalid soll ihnen zwar nachkommen, aber außer einem Tadel geschieht ihm nichts, wenn er sich verweigert. Die Aufforderungen, kleinere Dinge zu erledigen, werden häufig von einer Art vorweggenommenem Lob, wie z.B. „Komm, mein Schatz, das wirst du toll machen“, begleitet.

Wie die mütterliche Autorität zerbröselt – der Vater „übernimmt“

Dieses Gewährenlassen führt bei Khalid zu einer Verunsicherung hinsichtlich der Autorität seiner weiblichen Bezugspersonen und verleitet ihn zu Provokationen. Auch wenn die Mutter und die Großmutter noch die Hauptbezugspersonen des Jungen sind, forciert die Mutter die Zuordnung zum Vater (Fadi), der die Änderung wie folgt begründet:

Irgendwann muss der Junge ja lernen, was es heißt, ein Mann zu sein. Deshalb muss er mit dem Vater rausgehen. Er muss schauen, was draußen los ist. Bei uns in Syrien geht das besser, weil jeder jeden kennt. Aber trotzdem finde ich das gut. Der Junge muss alles kennen. Auch andere Stadtteile und so weiter.

„Irgendwann muss der Junge ja lernen, was es heißt, ein Mann zu sein.“

Khalid beginnt, seinen Vater zu begleiten. Auch wenn der Vater auf die schwierige Umsetzung dieses Ziels in der Migration verweist, soll Khalid lernen, was später für die Beziehung der Männer untereinander charakteristisch ist. Er lernt über die Orientierung am männlichen Geschlecht nicht nur das enge familiale Umfeld, sondern auch die Außenwelt kennen und findet Freunde. Im Grundschulalter verfestigt sich die geschlechtsspezifische Erziehung. Die Rollenmuster driften weiter auseinander.

Also, ich meine, irgendwann muss sich ein Junge von Frauen lösen. Er muss sich Sachen bei seinem Vater und anderen Männern abgucken. In Frauengruppen ist er mit zwölf, dreizehn nicht mehr akzeptiert. Natürlich bin ich für meinen Sohn da. Aber draußen ist mein Mann für ihn zuständig. Ich koche dafür, mache die Wäsche und schaue, dass er sauber ist.

Ulima bestärkt die Orientierung ihres Sohnes am männlichen Geschlecht. Indem er seinen Vater begleitet, erlernt Khalid die Gepflogenheiten des männlichen Soziallebens. Die Rolle der Mutter konzentriert sich auf das körperliche Wohlbefinden sowie auf den Bereich der Hygiene; die Beziehung ist somit auf Fürsorge und Bedürfniserfüllung beschränkt. Die Mutter tritt nur im Haus in einer erzieherischen Rolle in Erscheinung. Im Gegensatz zur Autorität des Vaters ist die der Mutter angreifbar, da sie keine männliche Geschlechtsidentität vermitteln kann.

Die Tochter Donia und ihre frühe Gewöhnung an reduzierte Außenkontakte

In der Vorschulphase hält sich Donia genauso wie ihr großer Bruder Khalid in der unmittelbaren Nähe der Mutter und der Großmutter auf. Die beiden bleiben aber auch danach die Hauptbezugspersonen des Mädchens. Genauso wenig ändert sich Donias Bezugsort, ihr Leben konzentriert sich auf ihr Zuhause und die nähere Umgebung. Ulima findet:

Bei Mädchen muss man besser aufpassen… Also, ich meine, das Mädchen soll nur rausgehen, wenn das nicht anders geht. Kleine Mädchen dürfen sowieso nicht alleine rausgehen. Wenn ich oder meine Mutter andere Familien besuchen, ja, dann nehmen wir sie mit. Dann kann sie wissen, wer die Leute sind.

Die Festigung der weiblichen Geschlechterrolle wird mit mütterlicher Strenge überwacht.

Im Gegensatz zu Khalid werden Donia durch ihre Mutter Kontakte vermittelt, und die beschränken sich in erster Linie auf die Nachbarschaft, Bekannte und die Verwandtschaft.  Während Ulima ihren Sohn bei der Neuorientierung am männlichen Geschlecht ohne Einschränkung unterstützt, wird die Festigung der weiblichen Geschlechterrolle bei Donia mit mütterlicher Strenge überwacht und begleitet:

Die Frauen, also die Mutter, Schwestern und Großmutter, müssen dem Mädchen beibringen, wie es sich draußen oder wenn andere Menschen da sind, zu benehmen hat. Wenn das Mädchen… frech ist, … sagt man: ›Die Mutter hat das nicht gut gemacht.‹ Die Mutter ist deshalb immer streng zur Tochter. Also, ich bin immer streng zu meiner Tochter. Wenn sie nicht anständig ist, fällt das auf mich zurück

Die Autorität der Mutter ist unbestritten im Blick auf die Tochter

Gelegentlich wird Donia zu kleineren Arbeiten im Haushalt herangezogen, zum Beispiel zum Aufräumen. Ihr wird zudem prinzipiell die Fürsorge für jüngere Geschwister übertragen; Jungen bleiben außen vor. Außerdem soll sie lernen, sich in der Anwesenheit anderer ruhig zu verhalten und nicht zu sprechen, außer sie wird etwas gefragt. Die Mutter-Tochter-Beziehung ist kaum von körperlicher Zärtlichkeit geprägt. In dieser Phase der geschlechtsspezifischen Erziehung weitet sich der Einfluss der Mutter und der Großmutter auf alle Lebensbereiche aus. Donia wird gelehrt, dass sie jungenhafte Verhaltensmuster, wie zum Beispiel Rangeleien, nicht braucht. Während die Ehre bei Khalid ein kämpferisches Auftreten verlangt, erfordert sie bei Donia Schamhaftigkeit und Körperbeherrschung. Da der Vater sich aus der Erziehung von Donia weitgehend heraushält, ist die Vater-Tochter-Beziehung freundlich. Selbst bei problematischem Verhalten Donias nimmt der Vater der Mutter gegenüber eine kritische Position ein. In vielen Fällen droht Ulima ihrer Tochter mit dem Vater, führt die Disziplinierungsmaßnahmen aber selbst durch. Erst wenn die Mutter mit einer Situation nicht fertig wird, interveniert der Vater, indem er den Konflikt durch einen lauten Befehl beendet.

Zwischen traditioneller Orientierung und liberaler Anpassung

Die Lebensgewohnheiten, Traditionen und Denkmuster der ländlich-provinziellen Herkunftsgebiete können in der Migration zum größten Teil nicht beibehalten werden. Umso stärker wird häufig an solchen mitgebrachten Werten festgehalten, die realisierbar erscheinen, so auch an der geschlechterspezifischen Erziehung. Die Geschlechterrollen können in der deutschen Gesellschaft in ihrer traditionellen Form nicht immer gelebt werden. Daher verändern die Kinder gerade als Jugendliche diese traditionelle Form und entwickeln gewissermaßen eine neue, die aber aus den alten Denkmustern abgeleitet ist. Eine, die für die Herkunftskultur vielleicht liberal ist, aber dafür anschlussfähig an die Werte der Mehrheitsgesellschaft.

Wie angedeutet wurde, sehen muslimische Eltern mit Zuwanderungsgeschichte in Individualität kein besonders hervorzuhebendes Ideal. Sie betonen die Gemeinschaft „Familie“ und ordnen kollektive Interessen immer über individuelle Bedürfnisse. Sie selbst haben sich stets an diesem Prinzip orientiert und damit häufig auf persönliche Ziele verzichtet. Auch die Heranwachsenden erkennen die Vorteile von Solidarität und Loyalität mit den Eltern, der eigenen Community und ihren traditionellen Prinzipien. Demgegenüber steht das Bedürfnis nach einer (ungewissen) individuellen Entwicklung. Konfrontiert mit dieser Überforderung entscheiden sich Jugendliche häufig für den vermeintlich sicheren traditionellen Weg.

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Toprak, Ahmet: Muslimisch, männlich, desintegriert. Was bei der Erziehung muslimscher Jungen schiefläuft. Econ-Verlag, Berlin 2009.

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