Wenn der Marathon zum Heilsweg wird Spirituelle Erfahrungen jenseits von Religion und Kirche

Der Mensch in der postmodernen Gesellschaft ist auf der Suche. Nicht nur nach Vergnügen, wie ihm immer wieder vorgeworfen wird, sondern vor allem auch nach Sinn. Dabei wird das Heil vielfach in vielfältigen spirituellen Erfahrungen gesucht, die zugleich immer mehr Teil des Konsumbetriebs werden.

Ganz Deutschland läuft. Allenthalben sind sie angesagt – die Stadtläufe. Das sind Events, zu denen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer inzwischen von weither anreisen. Wenn sie durch die Straßen ziehen im Pulk in ihrem Läuferoutfit, erinnert dies nicht zufällig an eine Prozession. Sie scheinen ihr Büßergewand übergestreift zu haben und sich selbst zu kasteien.

Über sich hinausgehen

Wenn man mit den einzelnen spricht, kommt man schnell darauf, dass sie irgendwann ihr Erweckungserlebnis hatten. Meist sind dies diejenigen, die den Marathon oder Halb-Marathon laufen. Dies erinnert an die Buße, die ja als Umkehr zu Gott beschrieben wird, weg vom sündigen Alltag. Und es entwickelt sich fast ein Unverständnis gegenüber denjenigen, die nicht so viel Wert legen auf die körperliche Fitness und ein damit verbundenes rigides Ernährungsprogramm.

In der extremen Anstrengung, die alle Lebensbereiche umfasst, entfaltet sich eine Erfahrung, die über den normalen Alltag hinausführt. Die Extremsportler erleben mehr als Glücksmomente. Es ist eine Art von innerer Einheit in der völligen Erschöpfung, die man durchaus als mystisch und spirituell interpretieren kann.

Zugang zu einer anderen Welt

Wen wundert es da, dass sich rund ums Laufen auch schon eine eigene Philosophie entwickelt hat. Da gibt es zum Beispiel die Sportphilosophin Heather L. Reid. Sie erklärt, dass Läufer ein unglaubliches Freiheitsgefühl erlangen, wenn sie sich sozusagen von der Herde entfernen und beim Laufen mit sich allein sind. So überwindet der Einzelne die Grenzen des eigenen Körpers und seiner Umwelt und wird sich nach Reid seiner eigenen Endlichkeit bewusst.

Andere entdecken im Schmerz des Läufers eine existenzielle Erfahrung. Und der bekannte Läufer Emil Zatopek sagte einmal: „Wenn du laufen willst, lauf eine Meile, wenn du eine andere Welt kennenlernen willst, lauf Marathon“. Immer mehr Menschen halten sich daran und richten ihr ganzes Leben danach aus. Es ist eine Art von Heilserwartung, die sie antreibt.

Das Heil jenseits von Religion und Kirche

Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die Menschen heutzutage ihr persönliches Heil nicht mehr unbedingt von Religion und Kirche erwarten, selbst wenn sie vielfach formal noch Mitglieder einer der großen Kirchen sind. Und so kommen die Heilsbringer auch nicht mehr im Talar daher. Vielmehr stehen manche hinter dem Herd, andere lehren fernöstliche Weisheiten oder schwören auf eine Ernährung nach Art der Steinzeitmenschen. Andere setzen auf Natur pur oder sehen die Erlösung von den Verwerfungen der westlichen Zivilisation in Yoga oder Techniken der Körperbeherrschung. Natürlich hat sich zu allen diesen Bewegungen eine ganze Industrie entwickelt, die diese Trends noch ankurbelt. Und in der Werbung scheint das Versprechen auf, andere Sphären zu entdecken im Sinne einer spirituellen Erfahrung.

Alltag zwischen Sehnsucht und Betriebsamkeit

Spiritualität bedeutet ja Geistigkeit. In der religiösen Tradition stellt Spiritualität die Verbindung zum Transzendenten und zum Jenseits dar. Im Christentum gehört dazu die persönliche Beziehung zu Jesus Christus, die sich auch in Askese und Mystik äußert. Dass immer mehr Menschen diese Spiritualität außerhalb der Kirchen suchen, zeigt schon ein Blick auf die Statistik. Schon heute sind mehr als ein Drittel der Bundesbürger konfessionslos. Ihre Zahl wird bis 2050 auf rund 40 Prozent steigen. Das bedeutet aber nicht, dass die Suche nach dem Sinn ihres Lebens, nach Geborgenheit und Heil keine Rolle spielen.

In der modernen Welt scheint Gott für viele Menschen verloren gegangen zu sein. Verschwunden hinter einer Wohlstandsgesellschaft, in der man sich anscheinend alle Wünsche erfüllen kann, wenn man nur das nötige Geld hat. Aber immer öfter bleibt die Zufriedenheit aus. Selbst wer fünf Mal im Jahr in den Urlaub fährt, findet nicht das Glück, das er sucht. Die Paradoxie des modernen Tourismus hat der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger formuliert: „Der Tourist zerstört, was er sucht, indem er es findet“. Das Paradies auf Erden scheint es also wirklich nicht zu geben. Deshalb ist es nur konsequent, die Vollkommenheit bei sich, in der Selbsterfahrung, zu suchen, wo sich Leib und Seele, Endlichkeit und Unendlichkeit begegnen.

So stößt man an allen Ecken und Enden auf eine scheinbar „heilsame“ Betriebsamkeit. Da werden Anhänger als „Traumfänger“ angepriesen, die offenbar die guten Träume festhalten. Dazu kommen verschiedenste Klänge, die zu meditativen Erfahrungen führen. Und immer wieder sind es Extremerfahrungen, die neue Horizonte eröffnen sollen.

Wagnisfähigkeit als spirituelle Schlüsselkompetenz

„Spirituelle Erfahrungen heute“ lautete auch das Thema des Hochschuldialogs der Evangelischen Akademikerschaft in Erlangen Anfang 2016. Dort wurden unter anderen die Thesen des Germanisten, Sportwissenschaftlers, Psychologen und Pädagogen Siegbert Warwitz diskutiert. Der Autor des Buches Sinnsuche im Wagnis (Baltmannsweiler, 22016) macht die „mangelnde Wagnisfähigkeit“ der Konsumgesellschaft für ihren Niedergang verantwortlich. Es brauche sehr viel Wagemut, auszusprechen und danach zu handeln, dass die Wachstumsideologie keine Zukunft mehr habe. „Statt eine Degenerierung im Konsumdenken wäre eine mutige Regenerierung im Leistungsdenken notwendig“, fügt er hinzu.

Deshalb plädiert Warwitz dafür, dass jeder sich elementare Wagnisfähigkeiten aneignen soll. Dazu gehören Wertbewusstsein, Selbstvertrauen, Leistungs- und Opferbereitschaft. Als Vorbild nennt er Bergsteiger, die auch Nichtbergsteiger inspirieren können, wie man mit Dynamik und Mut, aber auch Disziplin und Können schwierige und gefährliche Aufgaben erfolgreich angehen könne. Nicht zufällig würden Bergsteiger gern von Firmen eingeladen, um über Risikomanagement zu referieren.

Erhabene Sphären jenseits des Alltags

Warwitzens Lob der Bergsteiger erinnert an den Südtiroler Reinhold Messner. Der Extrembergsteiger hat als erster allein und ohne Hilfsmittel alle Achttausender bezwungen. Wie kein anderer zuvor hat er seine Erfahrungen in der Todeszone hoch oben am Berg öffentlich gemacht und einen wahren Boom ausgelöst.

Das hat dann mit Bergsteigen nicht mehr viel zu tun, wie es in einem Bericht heißt. Es geht nur noch um das Ertragen, das Durchhalten einer Tortur jenseits von Schmerz und Erschöpfung. Heute tummeln sich in der Welt zwischen Leben und Tod auf den höchsten Bergen die Massen, die das Faszinosum der übermenschlichen Anstrengung suchen. Und der Vater, der seit Jahren im Himalaya-Gebiet unterwegs ist, führt seinen 18 Jahre alten Sohn in einer Art Initiationsritus in diese seiner Ansicht nach über den Alltag erhabene Sphäre ein.

Als quasireligiöser Fetisch taugt vieles

In den westlichen Gesellschaften hat sich eine Art ekstatische Kultur herausgebildet, konstatiert der Soziologe Hubert Knoblauch in seinem Buch Populäre Religion (Campus Verlag, Frankfurt am Main, 2016). Diese leicht ins Religiöse und Spirituelle übergehende Ekstase lasse sich in der Sexualität genauso finden wie in Musik und Tanz sowie im Langlauf oder Extrembergsteigen. Die Suche nach der Spiritualität in der subjektiven Erfahrungswelt interpretiert der Autor als Antwort auf die extremen Anforderungen einer von der Ökonomie bestimmten Leistungsgesellschaft.

Wer die neuen spirituellen Tendenzen nur als pseudo-religiösen Konsumbetrieb abtut, trivialisiert die Sinnsuche des Einzelnen in unzulässiger Weise.

So wird auch Gesundheit zum quasireligiösen Fetisch. Wer nicht Anhänger der richtigen Lebensweise ist, wird als „Ungläubiger“ ausgegrenzt. Nicht zufällig haben spirituelle Heilmethoden eine große Anziehungskraft. Manche Beobachter urteilen vorschnell, dass sich die Suche nach Heil heutzutage in pseudo-religiösem Konsumbetrieb in einer Art säkularisierter Spiritualität niederschlägt. Dabei trivialisieren sie jedoch die Sinnsuche des Einzelnen in unzulässiger Weise und tun sie vorschnell als ungenügend ab im Horizont des Glaubens. Dies lässt die Ernsthaftigkeit und oft auch Verzweiflung außer Acht, die hinter diesen Formen der Spiritualität stecken.

Transzendenz-Training und spirituelle Wanderschaft

Der Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman beschreibt dieses Phänomen ausführlich:

Die ganze Erfahrung der Offenbarung, der Ekstase, des Überschreitens der Grenzen des Selbst und der Transzendenz – einst das Vorrecht ausgewählter Aristokraten der Kultur (Heilige, Eremiten, Mystiker, asketische Mönche, Tsadiks und Derwische) und durch unaufgeforderte Wunder geschehen, die in keiner Beziehung zu dem standen, was der Empfänger dieser Gnade geleistet hat beziehungsweise als eine Art Erstattung für die Selbstverletzung und -verleugnung, das alles wird in der Postmoderne für jeden erreichbar, als individuelles Ziel formulierbar und zum Gegenstand des Trainings eines jeden. Es wird zum Produkt eines Lebens, das sich selbst dem Konsum hingibt. Was diese postmoderne Strategien der extremen Erfahrung von denen der Religionen unterscheidet, ist, dass sie weit davon entfernt sind, die eigene Schwäche zu zelebrieren, sondern auf die Entwicklung der inneren seelischen und körperlichen Ressourcen zielen und damit ein unendliches menschliches Potenzial annehmen.

So ist auch das Pilgern nach Bauman die Lebensstrategie des modernen Utopisten, der das Wahre und Gute immer an einem anderen Orte vermutet. Immer mehr Menschen machen sich auf die Wanderschaft, immer mehr Angebote werden für die Suchenden geschaffen. Auch dieses Pilgern ist Ausdruck einer Religiosität und Spiritualität des Alltags, die sich in einer Vielzahl von Formen niederschlägt und eine gewisse Beliebigkeit und Sprunghaftigkeit besitzt.

Die Erfüllung lockt, bleibt aber unerreichbar

Darin spiegelt sich das Fragmentarische, die Diskontinuität und Brüchigkeit modernen Lebens. Jegliche Sicherheiten gehen verloren. Die postmoderne Gesellschaft wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück. Und darin verbirgt sich die Ambivalenz der Sinnsuche im Selbst. Die Erfüllung lockt zwar am Horizont, der aber trotz aller Anstrengungen nie erreicht wird. Überspitzt könnte man formulieren, dass die moderne Gesellschaft ihre Widersprüchlichkeit verschleiert, indem sie den Einzelnen religiös entmündigt und ihm eine spirituelle Erfahrung vorgaukelt, die sich jedoch ständig in erneuten und verstärkten Mühen und Anstrengungen bestätigen muss.

Deshalb ist es nicht ungefährlich, wenn die großen Kirchen diese vagabundierende Spiritualität für sich nutzen wollen. Sie müssen vielmehr in einen Dialog eintreten. Die Glaubensinhalte sind viel tiefgründiger als eine Heilserfahrung im Sport. Erst aus der Anfrage, was den modernen Menschen mit Gott verbindet, können zukunftsfähige Entwürfe für ein modernes kirchliches Leben entstehen. Deshalb sollten sich die Kirchen, so verlockend es ist, nicht vorschnell vereinnahmen lassen. Vielleicht ist es doch so, dass nicht die Risikobereitschaft, sondern eine neue Bereitschaft zur Demut zu Veränderungen in einer Welt führt, die in der Gefahr steht, sich in der Übersteigerung selbst zu zerstören.

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