Biblische Entdeckungen Zum Umgang mit der Schrift

Wenn es stimmt, dass Theologie die Rede von Gott zum Thema hat und buchstabiert, dann sind dafür die biblischen Schriften ein hervorragender Ort. Von der ersten bis zur letzten Seite ist hier die Rede von Gott. Ja, es ist gesagt, dass hier Gott selber zu uns redet.

  1. Gottes Volk lebt nicht davon, was es ist; sondern von dem, was ihm gesagt ist. Weil das seit Urzeiten das Maß ist, haben die Gottesworte immer gebührende Beachtung gefunden. Für hebräisches Denken ist es gerade der Gottesglaube, der aus dem überlieferten Wort erwächst und hier seine Nahrung findet: Entsprechend groß ist die Hochschätzung der Schrift.
  2. Die Worte Gottes wurden von Generation zu Generation weitergegeben, sinngebend gehört und als hilfreich erfahren. Sie reden von der Welt anders, als manche gewohnt sind. Und mehr noch: sie wollen zeigen, dass sie noch eine andere sein könnte, als sie derzeit ist. Die Gottesworte motivieren, stiften Gemeinschaft, helfen bei Fragen und Sorgen, geben dem Leben Werte und eine Richtung. Wir wollen im Folgenden u.a. besonders darauf achten, in welcher Weise die Gottesworte als eine Hilfe erfahren und beschrieben werden.

„Ich werde da sein“ (Namenstheologie)

  1. Ein erster Hinweis auf die Dimension der Hilfe findet sich in den Namen, die Gott mit sich führt. Wer Gott anruft, sich betend an ihn wendet, erhofft natürlich Hilfe von ihm: „Er ist unsere Hilfe“, sagt der Psalmbeter (Ps 33,20).
  2. Schon im JHWH-Namen wird deutlich: „Gott ist für dich da“ – das ist sein Name. Als Mose, dem großen Gottesmann, der Name offenbart wird, hört er zuerst „Ich bin mit dir“ und dann auf Nachfrage, was das „Ich“ heiße: die schwebende Auskunft „Ich bin, der ich bin“. Oder mit anderem Akzent „Ich werde sein, der ich sein werde“. Wobei semantisch-philologisch vom Wortumfeld noch mitklingt (Warte es ab, denn…/ Frage nicht weiter, aber): „Ich werde da sein.“
  3. Harren auf Gott, wie in Psalm 33,20 geschrieben ist: Unsere Seele harrt auf JHWH. Das bedeutet, wir verlassen uns auf ihn. Vertrauen auf ihn (JHWH-Vertrauen). Drei klassische Bestimmungen des Glaubens… zu denen sich so für den Glaubens-Begriff und Gottes-Namen eine weitere Dimension erschließen lässt: Dass es dabei um eine Existenz- und Lebensweise geht, die wirklich in etwas Neues, Unbekanntes, Ungefähres aufbricht, unterwegs ist – und der Glaube wie der Gottesfürchtige nichts weiter hat als einzig und alleine die von Gott gegebene Zusage, sein Wort.
  1. „Er ist mein Gott“, betet das Judentum täglich mit dem Tanach (Schacharit/ Psalter). Und so gilt es in besonderer Weise gerade als Gebetsreligion und als Schriftreligion. Wort und Gebet sind die beiden Größen, die von Beginn an und durchgehend die jüdische Seins- und Denkweise kennzeichnen und charakterisieren.

Verheißung: Reich Gottes

  1. Für Abraham wird die Verheißung JHWHs Ich bin mit dir und werde dich in eine blühende Zukunft führen zum Grunddatum der Existenz. Die doppelte Zusage „Du wirst ein großes Volk“ und „In dir sollen auch alle anderen Völker Segen empfangen“ erlangt Abraham gegen allen Augenschein und wird damit zum Vorbild und Stammvater aller Glaubenden.
  2. Für David ist das Wort Gottes nicht weniger bedeutsam. Er ist der ideale und idealisierte König Israels / des Gottesvolks. Er ist von JHWH „Gesalbter“. Insbesondere ist er der exemplarische und idealisierte Psalmenbeter. Auch ihm wird dauerhafte Nachkommenschaft verheißen. Ein Sohn Davids setzt – wie in den Psalmen Davids besungen – die Worte, Weisungen und Verheißungen Gottes in Kraft.
  3. Und so besteht im Gottesvolk auch die Erwartung, dass das Königtum Gottes, anders gesagt: dass das Reich Gottes zu gegebener Zeit sich überall wirksam und dauerhaft einstellen wird.

Unser Umgang mit der Schrift

  1. Was sich hier abzeichnet, sind durchaus die „großen Linien“ in den biblischen Schriften, in der Geschichte Israels (und darüber hinaus). Und gewiss sind diese eine Hilfe für unseren Umgang mit der Schrift, für die Einordnung von Texten, für das richtige Hören und Verstehen. Wer aber würde die Bibel so hören oder lesen?
  2. Wer etwa würde nur eines der biblischen Bücher an einem Stück lesen? Wer könnte es auch? Schon eine Schrift mit 10 oder 20 Kapiteln ist kaum an einem Mittag zu bewältigen. Liest man gründlich und sucht das Verstehen, verringert sich das Tempo erst recht. Hat man nur drei Bücher mit 10-15 Kapiteln und setzt sie in einen Zusammenhang, wird es komplex …
  3. Noch dazu sind es Schriften verschiedenster Zeiten, verschiedenster Art in der Textgattung und der Zielsetzung, in Form und Zweck.
  4. Eine Erzählung folgt anderen formgebenden Mustern als ein Gebet. Ein Brief ist anders geschrieben als eine Chronik. So ergibt sich die Erkenntnis, dass im Umgang mit der Schrift stets auf die Form des Textes mit achtzugeben ist.

Welche Adressaten?

  1. Nun sollte man nicht denken, dies wäre den Verfassern der biblischen Schriften nicht selbst bewusst. Wer einen poetischen Text wie einen Liedpsalm niederschreibt, weiß, dass es etwas anderes ist als ein genealogischer Stammbaum oder eine Ahnentafel. Wobei: Warum sollten Elemente davon nicht in Psalmen vorkommen und aufgenommen sein?
  2. Wir sehen, wie die Schriften immerzu Bezug nehmen auf Früheres, und es mit der Gegenwart verbinden.
  3. Biblische Texte sind nicht fertig vom Himmel gefallen… Das wussten ihre Schreiber mit am besten. Und nicht selten teilen sie es den Lesern expressis verbis mit. Klassisch der Anfang des Evangeliums des Lukas. Schon im ersten Vers betont er, wie er als historisch versierter Geschichtsschreiber die Dinge genau erkundet hat, über die er schreibt (Lk 1,1-4). Lukas verfasst den Evangeliumstext wie ein sein Tun reflektierender Historiker. Das mindert nicht die Bedeutung, das theologische Gewicht und den Gehalt des Textes, es steigert sie.
  4. Auch Paulus weiß von alledem in seinen Briefen. Er verwendet ja, wie an vielen Stellen deutlich, vorgeprägte Wendungen, Hymnen und Bekenntnisse der Urgemeinde: Worte, die er seinerseits schon fertig vorgefunden („empfangen“) hat und die er nun weitergibt. Er greift auf Erlebtes und geschichtliche Ereignisse, auf Gehörtes wie auf selbst Erfahrenes zurück. Das alles setzt er in seinen Briefen in Bezug zum Gotteswort des Ersten Testaments, wie es sämtliche Schriften des Neuen Testaments tun. (Erst) in dieser Verbindung und Kombination entsteht, was uns heute vorliegt, als die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments.
  5. „Heilige Schrift“ war für die Autoren des Neuen Testaments all das, was in der Hebräischen Bibel zu finden ist. Nie wäre es den neutestamentlichen Autoren in den Sinn gekommen, einen Bruch zum „Alten“ hebräischen Text zu sehen oder zu konstruieren. Sie sahen sich vielmehr in Kontinuität, im Modus adaptierender Aufnahme. Sie sahen das Eintreffen der alten Gottesreich-Verheißungen.
  6. Besonders bei Propheten wie Jesaja (aber auch anderswo, s.o.) ist die Erwartung Israels ausgedrückt, dass alle Völker Anteil an den JHWH-Verheißungen erhalten. Als Beispiel siehe nur den kurzen Psalm 117.

Biblische Aussagen als Topos

  1. Zugegeben, der häufigste Gebrauch der Schrift bei uns heute entspricht reichlich genau dem Vorgehen der Altvorderen. Wann hätten Sie je nur ein Evangelium am Stück gelesen – und damit die Texte in ihrem ursprünglichen Zusammenhang (Seien Sie ehrlich)? Vielleicht einmal einen der kürzeren Briefe, ja, aber selbst da bleibt man schnell an einem Abschnitt, an einer Stelle, hängen, die einem vielleicht gerade etwas sagt: Die für das, womit man sich beschäftigt, Bedeutsames enthält… Obwohl wir oft nur abschnittsweise lesen, ist das ausreichend und kohärent, sofern dabei die Gesamtperspektive nicht aus dem Blick gerät; sondern eben ein Aspekt gerade besonders vor Augen ist.
  2. Biblische Aussagen werden so zu einem Topos, auf den man immer wieder rekurriert.
  3. So ist es etwa mit der Aussage über Gottes Hilfe: In Psalmen wird die Hilfe Gottes und das Helfen Gottes häufig thematisiert (Ps 121,2; 146,5; u.ö.), JHWH erhält dort auch den Namen „Helfer“ (Ps 70,6). „Um seines Namens willen“ wird JHWH im Tanach um Hilfe angerufen (Ps 23).
  4. Der Name Gottes ist schließlich ein Topos (unter vielen), der unmittelbar Altes und Neues Testament verbindet und verknüpft. Wie der Beginn des Vaterunsers belegt.
  5. Ein Beispiel, wie toposartige biblische Aussagen durch deren Übertragung ganze Sprachen und Sprachfamilien prägten, ist die Bibel-Übersetzung William Tyndales von 1525/26 (1535 gebessert), die über die Coverdale-Bibel, Matthew Bibel und King-James-Bibel (1611) bis heute wesentliche Grundlage englischer Bibel-Übersetzungen ist. Ähnlich wie bei den frühen ursprachlichen deutschen Übersetzungen wurde durch sie die englische Sprache einflussreich geformt.
  6. Beispiel für einen solchen sprachprägenden Topos ist „Beruf“ – eine Begriffsbildung, die aus der Übersetzung einer Sirach-Stelle („Halte aus in deinem Beruf“ / an deinem Ort bzw. Platz) Eingang in weiteste Zusammenhänge der Sprach- und Sozialgeschichte fand (so Max Weber).

Die Schrift als Gottes Wort

  1. Dass die Schriften der hebräischen Bibel sich als Gottes Wort verstanden wissen wollen, ist offenkundig. „So spricht JHWH“, lesen wir unzählige Mal ausdrücklich. Doch auch in indirektem Geschichtsbericht ist deutlich, dass die Schriften des Alten/Ersten Testaments in der Absicht und Gewissheit sprechen, darin den Willen Gottes mitzuteilen: eine Kundgabe des Willen Gottes zu sein.
  2. Die Bezeichnung Altes Testament hat übrigens für die Altvorderen keinen abwertenden Nebenklang: Das Alte ist zunächst das Ehrwürdige, das Bewährte und hat schon durch sein Alter und die zeitliche Reihenfolge den Ehrenvorrang. (Vielmehr wird alles Neue zuerst mit einer ordentlichen Portion Skepsis beäugt …).
  3. Die Schriften des Neuen Testaments sind mit nicht kleinerer Anspruchshaltung und Autorität geschrieben wie das Alte. Schon aus der Aufnahme der alten ersten Texte wird dies klar. Ausgangspunkt aber der Auslegung ist stets die heute vorliegende Endgestalt des Textes – nur diese hat kanonischen Rang.
  4. Auch die jahrhundertlange intensive historische Textforschung hatte als Ergebnis, dass die Schriften des Alten und Neuen Testaments nur kanonisch gelesen und ihrer Intention gemäß verstanden werden können: Wenn sie als Zeugnis von Gottes Wort aufgefasst sind und immer wieder werden. Es sind Glaubenszeugnisse, Zeugnisse von Kundgaben des Gotteswillens, von Gottes Wort und Worten Gottes. Sie zielen darauf ab, als eben solche aufgenommen zu werden und ihrerseits Glauben zu evozieren. Auch dies teilen die Verfasser zuweilen ihren Lesern expressis verbis mit (etwa bei Johannes: „diese sind geschrieben, damit ihr glaubt…“).

Biblische Leitworte

  1. Theologie als eine Denkbemühung, die ihrem Gegenstand gerecht werden möchte, muss dies in Rechnung stellen – oder sie verfehlt ihr Thema.
  2. Die Form der Texte will beachtet, und gewahrt sein: Damit die Texte sagen können, was sie sagen wollen.
  3. Bei einer solchen theologischen Betrachtung lassen sich, wie gesehen, thematische Einheiten und Leitworte identifizieren, die sich oft in mehreren Schriften oder Textsorten finden.
  4. Ein zentrales Leitwort, das in unzähligen Textschichten wiederkehrt, ist Glaube. So wie Abraham glaubte, auch im Zugehen auf Ungefähres, werden später Glaubende „Abrahams Kinder“ sein.
  5. Ein weiteres Leitwort ist die Hilfe Gottes (z.B. Ps 124,8).
  6. Wichtiges Leitwort ist zudem Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Treue Gottes. Ein Wortfeld, das in manchen Kontexten fast identisch ist (Ps 116,5; u.a.), das aber auch gewichtende Akzentuierungen möglich macht.
  7. Schalom ist ein Leitwort, das sowohl in den Schriften des Alten wie des Neuen Testaments vorkommt.
  8. William Tyndale nennt die Verheißungen und Zusagen Gottes ein zentrales Leitmotiv in den biblischen Schriften.

Lehrmäßige Entfaltung

  1. Um diese Leitworte, Topoi, „die großen Linien“ zu sammeln und im Zusammenhang zu sehen: Dafür ist die theologisch lehrmäßige Entfaltung da. Dies ist auch der Ort, wo dogmatische Klärungen guten Sinn erhalten und eine echte Hilfe sind – gesetzt, dass sie den biblischen Zusammenhang in Ehren halten und auf hilfreiche Weise zur Sprache bringen.

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