Das Reich Gottes Ein Memorandum

Mit diesem Beitrag startet eine dreiteilige Serie zur Bergpredigt mit den Seligpreisungen, zu den Gleichnisreden Jesu und zum Reich Gottes. Der Blick auf die neutestamentliche Rede vom Reich Gottes steht hier am Anfang, als Leseempfehlung und -anleitung zum regelmäßigen Memorieren.

Das Reich Gottes gehört zur zentralen Botschaft des Jesus von Nazareth. Darin sind sich alle Ausleger einig. In Zeiten, in denen manchem diese Kernbotschaft nicht ohne Weiteres geläufig ist – und ja auch kaum jeder alle Kontexte ständig präsent haben könnte – ist es nützlich, vielleicht täglich, vielleicht einmal im Monat, sich diese immer wieder aufs Neue vorzunehmen und zu rekapitulieren. „Das Reich Gottes ist nahe! Ändert euer Denken, verlasst euch auf das Evangelium.“ Mit diesen Worten beginnt der Nazarener im Markusevangelium seine öffentliche Wirksamkeit (Mk 1,15).

Was ist das?

Reich Gottes – was ist das? Ja, liebe Leserin, lieber Leser, wo liegt es? Wie kommt man dort hin? Es ist schon „mitten unter euch“, heißt es kurz und knapp, und zugleich wird erklärt, wer es nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen (Mk 10,15). Weit kann es also nicht sein – eigentlich eine recht einfache und doch auch überraschende und schwer kalkulierbare Sache: Denn „er sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie“ (Mk 4,26f). Es wächst also von selbst. Und zugleich sollen wir daran teilhaben.

Seit jeher übt es denn auch eine große Faszination und Anziehungskraft aus und viele „drängen hinein“. Was es mit der (auf Griechisch:) basileia tou theou, dem Reich Gottes, auf sich hat, ist aber dennoch nicht leicht auf einen Nenner zu bringen. An so vielen Stellen begegnet der Begriff im Neuen Testament, wer wollte die alle übersehen? Besonders in den Evangelien von Markus, Matthäus und Lukas, also den sogenannten „synoptischen“ Evangelien, die in vieler Hinsicht parallel zu lesen und vergleichbar sind – wie du sicher weißt, liebe Leserin. Blättere dich also hinein, lieber Leser, denn ohne das kannst du es nicht wissen (noch behalten), was das Reich Gottes ist.

Und wirklich wird sich dabei finden, dass im Neuen Testament die Reich-Gottes-Botschaft an ganz zentraler Stelle steht: Denn die Bergpredigt fängt damit an (Mt 5,3, vgl. Lk 6,20:) „Selig seid ihr Armen; denn das Reich Gottes ist euer.“ Im Vaterunser lautet die zweite Bitte: „Dein Reich komme“ (Mt 6,10, Lk 11,2). Auch im Weiteren steht es an vorderster Stelle: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das übrige alles zufallen“ (Mt 6,33 par). Nicht wenige Gleichnisse Jesu beginnen auf diese Weise: Mit dem Reich „verhält es sich so, wie…“. Ganz sicher: das Reich Gottes ist im Neuen Testament leitender Zentralbegriff.

Erwartung des Judentums

Mit der basileia tou theou greift Jesus auf eine Erwartung zurück, die schon lange zuvor im Judentum lebendig ist (z.B. äthiopisches Henochbuch, syrisches Baruchbuch; vgl. Weisheit 10,10). Schon im Alten Testament ist die Vorstellung verbreitet und vertraut, dass Gott König ist, dass er wie ein König herrscht (Königtum Jahwes, vgl. Ernst Haag). Im Prophetenbuch Jesaja wird dessen endgültiges (Friedens-)Reich erwartet, in dem ungetrübte Freude herrscht (Jes 52,7 u.ö.). In den Psalmen wird Gott als König bezeichnet (Ps 93.95ff; Ps 46-48, Ps 145). Viele Stellen handeln davon, dass Jahwe König ist (Seinsbeschreibung), oder dass Jahwe (aufs Neue) König wird.

In Lukas Kapitel 4 wird Jesus bei seiner Antrittspredigt genau an die jesajanische Erwartung anknüpfen, wenn er sagt: Dies alles ist jetzt vor euren Ohren eingetroffen (Lk 4,14-20).

Kennzeichen der Herrschaft Gottes

Neben dem Terminus Reich Gottes wird beim Blättern auch, so bei Matthäus, der Begriff Himmelreich (basileia ton ouranon) begegnen, der dasselbe meint; wie auch im Deutschen „Herrschaft Gottes“ oder eben Königreich Gottes dasselbe bezeichnen können. (Das alles sind nun viele Stellen, davon lass dich nicht, liebe Leserin, und lasse sich niemand, lieber Leser, schrecken, denn man kann sie gleich oder zeitlich verteilt nachschlagen, wie du dir leicht denken kannst). Bei aller Unübersichtlichkeit lassen sich dabei drei Kernelemente recht schnell herauskristallisieren:

  • Es ist wirklich nahe: „das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen“ (vgl. Mt 10,7, Lk 11,20 bzw. Mt 12,28).
  • Es ist ein Reich, wo Friede herrscht (Jes 9,5), Gerechtigkeit (Mt 5,6) und feierliche Unbeschwertheit wie bei einem großen Gastmahl (Lk 13,29), wo Leid, Verderbensmächte, Tod und Unheil überwunden und entmachtet sind (Mt 5,10).
  • Es ist unverbrüchlich zugesagt: Dass es eintritt, sicher kommt, sich durchsetzt, daran besteht nicht der allergeringste Zweifel.

Die Faszination und Anziehungskraft wird von Jesus als so überaus groß beschrieben, dass man dafür alles andere aufgibt, stehen und liegen lässt: „Das Himmelreich“, sprach er, „gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg; und in seiner Freude geht er hin und verkauft alles, was er hat, und kauft den Acker. Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und da er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie“ (Mt 13,44-46).

Mit dem „Evangelium vom Reich“ (Mt 4,23; 9,35) verbindet sich ein hoher Anspruch. Im Himmelreich gilt eine andere, „bessere“ Gerechtigkeit (Mt 5,20) waltet „Vergebung“ (Mt 18,21ff) und werden neue, andere Normen und Maßstäbe als nach landläufiger Logik angelegt (Mt 20,1ff, s.u.).

Indem dieses Reich schon „mitten unter euch“ ist (Lk 17,21), vielleicht auch innerlich, mit einem neuen Herz (Hes 36,26), beginnt, gewinnt es doch auch äußerlich Form und Gestalt, macht sich in Sein und Tun mehr als bemerkbar (Mt 7,21; Mt 13,33). So sehr die Rede vom Reich Gottes faszinierend sein mag, so erschreckend, ja schneidend scharf kann es hier, in seinen Konsequenzen, von Jesus ausgemalt, beschrieben werden (z.B. Mt 13,47-49).

Ein Gleichnis-Beispiel

Wenigstens ein Beispielgleichnis mag ausführlich zitiert werden, damit über zu Vielem nicht die Sache selbst verloren oder zugeschüttet wird.

„Denn das Himmelreich“, sprach er, „gleicht einem Hausherrn, der früh am Morgen ausging, um Arbeiter anzuwerben für seinen Weinberg. Und als er mit den Arbeitern einig wurde über einen Silbergroschen als Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg. Und er ging aus um die dritte Stunde und sah andere auf dem Markt müßig stehen und sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg; ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin. Abermals ging er aus um die sechste und um die neunte Stunde und tat dasselbe. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere stehen und sprach zu ihnen: Was steht ihr den ganzen Tag müßig da? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand angeworben. Er sprach zu ihnen: Geht ihr auch hin in den Weinberg. Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Nimm, was dein ist, und geh! Ich will aber diesem Letzten dasselbe geben wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?“ (Mt 20,1-15).

Schon jetzt: angebrochen – Noch nicht: vollendet

Ist das Gottesreich schon da? Wenn es nahe ist, heißt das, es ist schon „angekommen“? Das eigentümliche „schon jetzt“ – „noch nicht“ der Evangelien hat Hörer und Leser aller Zeiten beschäftigt. Immerhin heißt es Lk 9,27: „Ich sage euch aber wahrlich: Einige von denen, die hier stehen, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie das Reich Gottes sehen.“ Noch zu Zeiten Jesu wird hier also sein Eintreten angesagt. Von sich selbst sagt Jesus am Abend des Verrats: „ich sage euch: Ich werde von nun an nicht trinken von dem Gewächs des Weinstocks, bis das Reich Gottes kommt“ (Lk 22,18). Als (nach-) österliche Menschen, die wir sind, können wir diese Ankündigung im weiteren Geschick und Ausgang des Lebensweges des Jesus von Nazareth im Blick auf seine Person bereits erfüllt sehen.

Dass das Reich Gottes kommt, ist unverbrüchlich zugesagt.

Es ist so beides: Schon angebrochen (in und mit der Person Jesu), die vollständige Vollendung (für den gesamten Erdkreis) steht aber noch aus. Auf diese kurze Formel lässt es sich vor allem und insbesondere bringen, wenn man den Gesamtkontext der Evangelienrede, liebe Leserin, kennt.

Formgeschichte als goldener Schlüssel der Auslegung

Denn für die Evangelisten Matthäus, Markus und Lukas ist ja klar: Alles was sie hier berichten, steht im Horizont und Licht des dritten Tages, des Ostermorgens, der Auferstehungswirklichkeit (Lk 24; Mk 16,1-8). Und ist nur deshalb von Belang. Denn nach dem offenbaren Scheitern des Gekreuzigten, war alle Rede des Jesus von Nazareth ja abgrundtief in Frage gestellt.

Hier, lieber Leser, liebe Leserin, liegt der Schlüssel zum Verständnis und ist der „Sitz im Leben“ zu sehen, der für die Reich-Gottes-Überlieferung des Neuen Testaments ausschlaggebend ist. Generationen von Forschern haben danach gestrebt und sich damit abgemüht, die Texte auszulegen und in ihrem Sinn zu klären. Dabei ist (wie schon Albert Schweitzer zeigte) zwar einerseits viel Abseitiges und (jeweils) Zeitbezogenes produziert worden, und andererseits auch Einsichten in zahlreiche kleine und kleinste Einzelheiten und Details. Vor allem aber gelangte die neutestamentliche Forschung nach unzähligen Anläufen und manchen Irrwegen schlussendlich zu der schlichten Grundeinsicht: dass diese Texte als Glaubenszeugnis gelesen werden wollen.

Die Formgeschichte, d.h. das Achten auf den konkreten Sitz im Leben, auf die sprachliche Form, kann daher (eine alte Weisheit) mit gutem Recht als der goldene Schlüssel der biblischen Textauslegung angesehen werden.

Vom Reich Gottes zum Reich Christi

Während die Belegstellen für den Terminus Reich Gottes bei den synoptischen Evangelien zahlreich sind, ist die Erwähnung im weiteren Neuen Testament seltener, aber dennoch präsent (z.B. Röm 14,17; 2. Petr 1,11; 2. Tim 4,1). Es taucht jetzt des Öfteren die Wendung vom Reich Christi auf. Das mag gut einleuchten. Denn nach der Ostererfahrung weiter vom Reich Gottes zu reden, kann für die Urgemeinde ja nur mit Bezug auf Jesus, den Christus, Sinn machen, den sie als von Gott her ins Recht gesetzt und in seiner Botschaft bestätigt glaubt. Alles was vom Reich Gottes gesagt ist, das gilt seit Ostern vom Reich Christi.

Im Johannesevangelium

Beim Evangelisten Johannes ist vom „Reich“ an (nur) drei Stellen dem Begriffe nach die Rede. Dafür aber an entscheidenden: So zweimal in der wichtigen Nikodemus-Szene zu Beginn, sowie in der entscheidenden Verhandlungsszene vor Pilatus gegen Ende. Joh 3 formuliert als Eintrittsmodus in das Reich das Wirken des Heiligen Geistes (Joh 3,8.5) und charakterisiert das präzisierend als eine Neugeburt: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Wenn jemand nicht von Neuem geboren wird, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ (Joh 3,3). Daher wird später auch die Bitte um den Heiligen Geist für jeden Reich-Gottes-Anwärter als entscheidend und konstitutiv charakterisiert.

An der dritten Stelle, in Kapitel 18, als Jesus von Pilatus gefragt wird: „so bist du dennoch ein König?“ antwortet er: „Du sagst es, ich bin ein König“ (Joh 18,37), wobei zugleich die Versicherung fällt, dass es sich dabei nicht um ein weiteres „Weltreich“ handelt. Denn: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Hat Jesus die Welt doch gerade „überwunden“ und empfiehlt seinen Jüngern nicht „irdisch“ nach Art der „Welt“ gesinnt zu sein.

Im Kirchenjahr

Seinen festen Ort im Kirchenjahr hat die dauerhafte Aufrichtung der basileia Christi im Fest von Christi Himmelfahrt (vgl. EG 119–123): Indem der Erhöhte seinen Platz neben Gott Vater im himmlischen „Thron“ einnimmt, ist auch sein Reich, seine Herrschaft endgültig in Kraft gesetzt. Schon jetzt ist diese Herrschaft angebrochen. Vollendet ist sie noch nicht. Auch von seiner Herrschaft heißt es nicht eindeutig „Hier ist es. Oder da ist es.“, solange die Christenheit „im Glauben, nicht im Schauen“ unterwegs ist.

Dennoch ist sie via Geist und Taufe schon jetzt in das angebrochene Reich versetzt. Deshalb wirkt sie zeichenhaft schon jetzt auch dessen „Werke“. Es ist der Rückruf (Paränese) in diesen Geist der ersten Stunde, den Paulus (z.B. Röm 12,9-21) und die anderen neutestamentlichen Schriften energisch an vielen Stellen treiben. (Vgl. 1. Joh 4,16, u.a.; das führt aber bereits in weitere Zusammenhänge.)

Karl Marx hat den Kommunismus als eine Art Reich Gottes gedacht.

Im sogenannten lukanischen Doppelwerk (also Apostelgeschichte und Lukasevangelium, die beide vom selben Verfasser sind) wird der Zusammenhalt von Gottesherrschaft (vgl. Apg 1,3 und 28,31) und Reich Christi besonders deutlich. Die Urgemeinde versteht sich in klarer Kontinuität zum vorösterlichen Jesus. Was Jesus vom Reich Gottes sagte, das führt die Urgemeinde der Auferstehungszeugen in ihrer Nachfolge im selben Geiste fort.

Vielseitige Wirkungsgeschichte

Das „Reich Gottes“ (lat. Regnum Dei) hat eine weitreichende Wirkungsgeschichte auch außerhalb von Nazareth und Israel gefunden. Nach der konstantinischen Wende im 4. Jh. n.Chr. wurde im sogenannten Investiturstreit des 11./12. Jahrhunderts zwischen staatlichen und kirchlichen Repräsentanten zäh darum gerungen, aber nicht befriedigend oder abschließend gelöst, wo eine Grenze zwischen irdischem Regnum (weltliche Herrschaft) und Sacerdotium (geistliche Herrschaft) liegt oder liegen könnte. Im 19. Jahrhundert hat sich Karl Marx seine Gesellschaftsutopie des Kommunismus als eine Art Reich Gottes gedacht.

Leseempfehlung

Wo, liebe Leserin, lieber Leser, stehen wir im „Reich“? Nimm dir ruhig, vielleicht einmal im Monat, vielleicht täglich, die Reich-Gottes-Texte als „Memorandum“ zur Lektüre vor. Vergleiche die Stellen, vom Alten bis zum Neuen Testament. Ergründe, was es mit den Gleichnisreden vom Reich Gottes auf sich hat. Als ein solcher „Schriftkundiger“ wirst du nämlich (Mt 13,52) sein wie ein „Hausvater, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt.“

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