Die Befreiung Gottes zur Gegenwart Versuch einer Theologie der Diesseitigkeit

Von der „heiligen Vergänglichkeit“ spricht der Schweizer Theologe Kurt Marti. Der Mensch ist auf dem Wege der Evolution endlich geschaffen, vergänglich geschaffen. Er ist aber nicht irgendein Ding und auch nicht irgendein Lebewesen. Er weiß um seine Endlichkeit und macht sich Bilder von deren Rand.

Ist dieser Schritt zur Endlichkeit ein Defizit, ein Verfall, der letzte Schritt vor dem Ende des Glaubens? Nicht notwendig. Es kann auch der Anfang eines neuen Gottesverhältnisses sein. Gott kann präsent sein, so wie er oder sie ist. Gott wird nicht festgenagelt und verpflichtet auf eine objektive Tat nach dem Tode. Nein, da wissen wir nichts und müssen nichts glauben. Wir haben nur Bilder, nur Produkte unserer Phantasie, die es uns ermöglichen, das was außerhalb unseres Seins ist, nicht als leeres Nichts zu denken.

Erlaubnis zur Endlichkeit

Äußerungen dieser Art finden sich vereinzelt in der evangelische Theologie ausdrücklich, aber vermutlich denken viele Theologinnen und Theologen in diese Richtung, ganz zu schweigen von vielen Kirchenmitgliedern. Eine evangelisch sehr engagierte Dame schrieb mir, sie fände den Gedanken an ein Weiterleben beängstigend. Man muss nicht so denken, und es ist jedem unbenommen, mehr zu denken und zu glauben. Aber man kann es, und wer glaubt, dass der Mensch eine Erlaubnis zur Endlichkeit hat, stellt sich damit nicht außerhalb der Gemeinschaft der Glaubenden. Und ganz falsch ist die Verbindung von Gott und Weiterleben in dem gelegentlich gehörten Satz „Ich glaube nicht an Gott: mit dem Tode ist alles aus“.

Es ist christlich durchaus möglich, im Rahmen der Erlaubnis zur Endlichkeit, so zu denken und zu glauben. Die kirchliche Sprache lässt auch vieles offen. In seiner Enzyklika SPES SALVI – Durch Hoffnung gerettet – schreibt Papst Benedikt XVI., eine einfache Fortsetzung des Lebens nach dem Tod sei eigentlich langweilig und auf die Dauer unerträglich, wenn nicht „die Gnade hineinschiene“. Und die Gnade kann alles sein. Sie bleibt unanschaulich. Sie kann, wenn man sie anschaulich machen will, einfach auch die Befreiung von den Mühen des Lebens sein. Die gängige Inschrift, „requiescat in pace“ (er/sie ruhe in Frieden) lässt alles offen. Der Satz lässt eher an einen ewigen Schlaf denken als an eine ewige Bewegtheit. Und den in Trauerpredigten gern gebrauchten Satz, man könne nicht tiefer fallen als in die Hand Gottes, kann man leicht so verstehen, dass die Hand Gottes ein Gleichnis für das ruhende Nichts ist.

Das Leben – ein Spaziergang in die Zeit.

Die bekenntnisoffizielle Formulierung von der Auferstehung am jüngsten Tage wirkt in ihrer extremen Konkretheit so, dass man sich an die heitere Anekdote von der Kammerfrau erinnert, die nahe bei ihrer Herrin begraben sein möchte, damit sie ihr bei der Auferstehung behilflich sein kann. Der Tübinger systematische Theologe Friedrich Hermanni schreibt in seinem Buch Metaphysik, der Mensch lebe im Gedächtnis Gottes weiter. Gut, man kann das sagen. Aber es scheint doch mehr wie ein letztes mythologisches Rückzugsgefecht zumal ein Leben im Gedächtnis doch eine recht passive Angelegenheit ist. Anregend ist Ernst Jüngers Formulierung, das Leben sei ein Spaziergang in die Zeit. Voll Menschlichkeit der Satz des katholischen Schriftstellers Reinhold Schneider, Gott könne nicht so grausam sein, einen endlich eingeschlafenen Kranken, aufzuwecken. Oder, ganz alltäglich, man darf einschlafen, ohne aufwachen oder gar aufstehen zu müssen. Alle Bilder deckt der Satz eines pensionierten Oberkirchenrats ab, er gebe sein Leben Gott zurück.

Gott ist eine Möglichkeit

Natürlich kann man sich Gott denken als den Geist des Universums, der im Universum so vorhanden ist, wie das Bewusstsein in unserem Gehirn. Aber das ist nicht der Gott, der den Menschen begegnet. Menschen begegnen Gott nicht zuerst in Dogmen und Schriften, sondern an einer Quelle wie in Delphi, bei einem brennenden Dornbusch (wahrscheinlich eine brennende Ölquelle) wie Moses, in Geschichten, Worten und Gleichnissen. Wie im Psalm, wo es heißt „meine Seele harret des Herrn, wie der Wächter auf den Morgen“. Er ist so präsent, wie er sich zeigt. Im Wort, im Bild, in der Musik. Er ist eine Möglichkeit, die wir wahrnehmen können.

Mein Vater sagte einmal, der Pfarrer mache in seiner Predigt eine Voraussetzung, die er nicht teile. Nämlich die Existenz Gottes. Nein, diese Verbindung muss nicht sein. Gott muss in jeder Predigt, jedem Gebet, jeder Geschichte neu hervorgerufen, geradezu neu geschaffen werden. Er erscheint, sprichwörtlich, in der Matthäuspassion, bei der Messe oder beim Abendmahl oder für den ganz Außenstehenden, im Geläut der Glocken oder in der Geste des Segnens. Und in unserer Gesellschaft fast unentrinnbar, im Weihnachtsfest, das durch alle Kommerzialisierung hindurch, fast jeden fühlen lässt, dass die Alltäglichkeit nicht alles ist.

Aber weiten wir den Blick auf das ganze Feld heute möglicher Gottesbegegnung jenseits von Dogma und Kirchenmitgliedschaft. Wir beschränken uns dabei auf die Bibel, obwohl anderen Gott eher im Ruf des Muezzins begegnet oder im Gewölbe der Moschee. Da ist zuerst die Gestalt Jesu selbst. Seine Taten, seine Gleichnisse, die Bergpredigt. Da ist im Johannesevangelium das große Gleichnis vom Licht, welches in der Finsternis scheint. Da geht es um das jedem Menschen präsente Gegenüber, von Gut und Böse, von Streit und Frieden in der Geschichte, wie im Einzelnen. Licht und Finsternis bleiben immer nebeneinander bestehen und ringen miteinander. Anders als das auch im kirchlichen Raum gern zitierte Adorno Wort sagt: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ (Theodor W. Adorno:
Minima Moralia. Ffm. 1951).). Adorno hat das im Übrigen gar nicht so umfassend gemeint, wie es oft verstanden wird. Der Satz steht in einem kurzen Text über das Wohnen. Vielmehr gibt es Richtiges nur im ständigen Gegenüber und in ständiger Auseinandersetzung mit dem Falschen. Ein Impuls kommt aus der Vorstellung vom künftigen Reich Gottes. Entmythologisiert ist diese Vorstellung eine ständige Erinnerung daran, dass die Menschheit an der Vermehrung von Frieden und Gerechtigkeit arbeiten muss, auch wenn sie damit nie an ein Ende kommt.

Freiheit von der Vergangenheit

Der Mythos ist ein Teil der sprachlichen und psychischen Welt. Das gilt in hohem Maße für den Mythos vom Opfertod Christi für alle. Der Ritus des Opfers ist eine der stärksten und elementarsten Kräfte menschlicher Existenz. Hier bringt sich der Mensch mit sich selbst, seinen Widersprüchen und seiner Vergangenheit ins Reine.

Aktualisiert und ins Universale gewandt ist dies in der Vorstellung vom Opfertod Christi. Und das geht weit hinaus über Sündenvergebung im religiösen Sinne. Es reicht bis zur Schließung der Brüche und Lücken im Leben. Es gibt Freiheit von der Vergangenheit. Von dem, was Menschen aus der Vergangenheit belastet: Schuld, Versäumnisse, Fehlentscheidungen. Das Leben wird neu und jung und frei, nach vorne zu blicken. Es eröffnet neue Sichtweisen. Und hier kommt ein Gedanke ins Spiel, den die Berliner Theologin Kristina Kristinova in der Zeitschrift evangelische aspekte (Ausgabe 4/22) zur Sprache gebracht hat: Gott als Möglichkeit. Gott ist eine Möglichkeit unseres Weltverständnisses und er eröffnet unserem Selbstverständnis neue Möglichkeiten. Hier eben Freiheit von der Vergangenheit.

Natürlich kommen Vergebung und Neuanfang in der kirchlichen Praxis vielfach vor. Aber vielleicht sollte die Predigt auf diesen umfassenden Punkt mehr Wert legen und so neue Möglichkeiten eröffnen.

Es ist ein Gemeinplatz, dass Gott, was immer er oder sie sei, den Menschen nicht greifbar ist. Trotzdem formuliert der Mensch seine Fragen und versucht mit irgendwelchen Antworten zu leben. Die Gottesbegegnung findet in der Sprache und deren Dialog mit dem Unterbewusstsein auf den Feldern der Ethik und der Ästhetik statt und ist nicht immer eindeutig. Ganz außerhalb professioneller Theologie redet davon Jürgen Habermas auf der letzten Seite seiner 2019 erschienenen Philosophiegeschichte: „Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jedes Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern“ (J.H.: Auch eine Geschichte der Philosophie. Berlin 2019, Band 2, S. 809).  Man kann es auch so sagen: Der Mensch hat eine offene Seite, die ein Gegenüber, manchmal Offenbarung genannt, sucht. Das ist die Grundlage aller Religionen. Von da aus hat sich entwickelt und lebt heute die Vielfalt der Formen von Religion, die Lehren, die Dogmen, die heiligen Texte, die Riten und letztlich auch die Bestreitung der Religion in Gleichgültigkeit und Atheismus. Das alles ist immer in Gefahr der Entartung und bedarf des ständigen Dialogs mit einer Vernunft, die ihrerseits selbstkritisch und offen ist.

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