Die Bibel: Mutter aller Krimis

Krimileser sind immer indirekt auch Bibelleser. Ein Gang durch die moderne Krimiliteratur macht das eindrucksvoll deutlich. Choral und Krimi teilen das gleiche theologische Erbe.

Bibel und Krimi treffen sich nicht nur in der Beschreibung von Untaten, sondern vor allem in deren Deutung: Ebenso wie die Bibel erzählen ja auch Krimis unserer Tage (zumindest, wenn es sich nicht um reine Trivialliteratur handelt) ihre Geschichten nicht einfach um ihrer selbst willen. Sie reihen sich damit vielmehr in einen langen Strom von dichterischen Deutungen zu immer denselben Fragen ein – die ewigen Fragen nach Schuld und Gerechtigkeit, nach Gut und Böse, nach Sühne und Erlösung. Die Bibel ist also vor allem deshalb die „Mutter aller Krimis“, weil sie die Essenz der menschlichen Auseinandersetzung mit diesen Themen in so prägnanter Form entfaltet, dass viele ihrer Geschichten wie Blaupausen auch für heutige Kriminalliteratur wirken. Keine andere literarische Gattung – ausgenommen Kirchenlieder – ist deshalb so stark von biblischen Traditionen geprägt, wie der Kriminalroman. Dies sei im Folgenden anhand von drei biblischen Themenfeldern mit modernen Krimi-Beispielen illustriert:

1. Die Frage nach Schuld, Strafe und Sühne

Bekanntlich geht es in der Kriminalliteratur fast immer darum, dass Menschen schuldig werden, indem sie das Gesetz brechen – sei es durch Mord, Diebstahl oder Betrug. Diese „rechtsverletzende Handlung“ (Grimmsches Wörterbuch, Art. „Verbrechen“) ist der Kern jeder Krimihandlung. Während Schuld in der Bibel in der Regel durch den Bruch göttlicher Gebote definiert ist, wird sie im neuzeitlichen Krimi an den jeweils gültigen Normen und Gesetzen der Gesellschaft gemessen. Trotzdem sind die psychologischen und moralischen Dimensionen ähnlich. Viele moderne Krimis fragen ebenso wie die biblischen Texte danach, was Menschen dazu bringt, schuldig zu werden und wie mit dieser Schuld umzugehen ist. Besonders prominent verfolgt dieses Thema in der Krimi-Literatur unserer Tage z.B. der Strafverteidiger und Schriftsteller Ferdinand von Schirach. In seinen beiden Erzähl-Bänden Verbrechen (2009) und Schuld (2019) greift er Fälle aus seiner anwaltlichen Praxis auf und gibt ihnen eine literarische Form. Sein Interesse gilt dabei dem Spannungsverhältnis zwischen individueller Motivation des Täters, gesellschaftlichem Urteil über die Tat und moralischer Bewertung, letztlich auch durch Leserin oder Leser.

In der Bibel folgt – siehe z.B. die Geschichte von Kain und Abel – auf Schuld oft eine Form der Strafe, sei es durch Gott selbst oder durch menschliche Akteure. Strafe ist dabei nicht nur eine Bestrafung im engeren Sinne, sondern wird als eine notwendige Konsequenz und Korrektur verstanden. Sie hat eine reinigende und warnende Funktion und soll die Menschen auf den rechten Weg zurückführen. Wie im Krimi unserer Tage ist sie somit eine Maßnahme zur Wiederherstellung von Ordnung und Gerechtigkeit. Auch Krimis zielen ja in der Regel darauf ab, dass der Verbrecher am Ende gefasst und seiner gerechten Strafe zugeführt wird – sei es durch die Polizei, das Gericht oder durch eine Form von Selbstjustiz. Gleichzeitig experimentieren sie oft mit der Vorstellung von Strafe, indem sie die Grenze zwischen Täter und Opfer, Schuld und Unschuld verschwimmen lassen. Dies zeigt sich beispielhaft schon in der Erzählung Der Verbrecher aus verlorener Ehre (1786/1792) von Friedrich Schiller, nach dem Urteil des  Literaturwissenschaftler Stefan Neuhaus der „erste bedeutende moderne Krimi“ der deutschen Literatur. Schillers Text erzählt – nach einer wahren Begebenheit – die Geschichte des sogenannten „Sonnenwirts“ Christian Wolf, der nach dem frühen Fehltritt der Wilderei immer tiefer in das Verbrechen abrutscht und schließlich als Mörder hingerichtet wird. Die Strafe für seine ersten Vergehen bringt ihn nicht wieder auf den „rechten Weg“ zurück, sondern hat einen gegenteiligen Effekt. Wolf wird nicht resozialisiert, sondern als Gesetzesbrecher stigmatisiert. Die gesellschaftliche Ächtung führt dazu, dass er jegliche Möglichkeit auf eine Rückkehr in ein ehrbares Leben verliert.

Das Thema der Sühne schließlich scheint dem neuzeitlichen Krimi ferner zu liegen. Biblisch betrachtet geht es beim Begriff der „Sühne“ nicht nur um die Bestrafung eines Täters, sondern auch um Wiedergutmachung und Versöhnung mit dem Opfer, vor allem aber auch mit Gott. Im Alten Testament wird Sühne für die Sünden des Volkes Israel durch Opferhandlungen vollzogen. Das Neue Testament gibt mit Wirken, Verkündigung und Passion Jesu dem Gedanken der Sühne dann eine neue Deutung. Nicht nur, dass an die Stelle von gerechtfertigter Vergeltung die gebotene Vergebung tritt; auch das Konzept von Schuld, Strafe und Sühne an sich wird überholt: Begangene Schuld, so die Botschaft des Neuen Testaments, trennt Menschen nicht mehr ewig von Gott, sondern kann auch ohne menschlich geleistete Sühne durch Gott selbst überwunden werden, ja, ist in Jesus ein für allemal überwunden.

Viele moderne Krimis enden zwar mit einer Bestrafung des Täters, aber nicht mit einer Sühne im biblischen Sinn. Gleichwohl setzen sich viele moderne Kriminalgeschichten mit der Frage auseinander, ob und wie ein Täter für seine Verbrechen büßen kann. Ein Beispiel hierfür ist der Gerichtsroman Der Vorleser (1995) aus der Feder des Jura-Professors und Verfassungsrichters Bernhard Schlink – einer der international erfolgreichsten Romane der deutschen Literatur. Die Täterin, eine KZ-Aufseherin in Auschwitz, kann zwar ihre Schuld nicht ungeschehen machen. Aber der Roman wirft die Frage auf, inwieweit sie durch Verurteilung und Strafe, durch Einsicht und Reue, oder durch ihre Selbsttötung am Ende des Romans moralische Sühne leisten kann. Auch wenn es sich dabei nicht unbedingt um eine Sühne im christlichen Sinn handelt, ist ohne das theologische Konzept der Sühne dieser Aspekt des Romans nicht zu verstehen.

2. Die Suche nach Gerechtigkeit

Wie an den bisherigen Beispielen bereits gezeigt, ist auch das Streben nach Gerechtigkeit ein Kernthema des Kriminalromans. So stellt sich in Krimis nicht selten die Frage, inwieweit menschliche Justiz tatsächlich in der Lage ist, Gerechtigkeit herzustellen. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, fällt das Urteil dabei oft ganz anders aus als von der Richterbank. Und aus der Sicht einer göttlichen Gerechtigkeit erscheint der Fall vielleicht nochmals in einem anderen Licht.

Am prominentesten wird die Frage nach Gerechtigkeit in Gerichtskrimis verhandelt. Denn darin wird ein begangenes Verbrechen vor den Augen der Leserschaft rekonstruiert und einer juristischen, nicht selten aber auch einer moralischen und sogar einer metaphysischen Bewertung unterzogen. Das zeigt sich nicht nur in den bereits erwähnten Kriminalfällen, von denen Ferdinand von Schirach erzählt, sondern beispielsweise auch in dem 1997 erschienene Roman Die Hauswaffe der südafrikanischen Literatur-Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer. Gegenstand des Romans ist die Mordtat des jungen Duncan Lindgard. Er hat seinen Mitbewohner Carl erschossen, nachdem er diesen mit seiner Freundin in flagranti ertappt hatte. Die im Zuge der Gerichtsverhandlung zu klärende Frage nach der Schuld ist im Roman allerdings nicht auf den Täter begrenzt. Sie bezieht vielmehr sein familiäres und gesellschaftliches Umfeld mit ein. Beispielhaft dafür steht die titelgebende „Hauswaffe“ – eine Pistole, die zum Schutz gegen Einbrecher ungesichert in der Wohnung des Opfers lag. Durch sie ist die scheinbar private Gewalttat in den von Gewalt geprägten Alltag im Südafrika der 90er-Jahre eingebettet. Unter Berücksichtigung mildernder Umstände lässt der Richter am Ende des Prozesses „ein gewisses Maß an Gnade walten“ (S. 341) und verurteilt den Angeklagten am Ende zu sieben Jahren Gefängnis, nach Einschätzung seines Verteidigers das „denkbar mildeste Urteil“ (S. 342).

Das Wort „Gnade“ ist ein Hinweis darauf, dass bei der Urteilsfindung die Frage der Gerechtigkeit nicht nur aus einer juristischen und moralischen Perspektive, sondern auch vor einem theologischen Hintergrund beleuchtet wird. So erscheint der vorsitzende Richter dem Vater des Täters auch schon während der Verhandlung wie ein „Stellvertreter des Gottes der Gerechtigkeit“ (S. 325), ja, als eine „Richter-Gottheit“ (S. 306). Im Gerichtsgebäude, das im Roman als „weltliche Kathedrale“ eingeführt wird, findet somit nicht nur ein juristischer Prozess, sondern auch eine Verhandlung über Gerechtigkeit überhaupt statt. Nach biblischem Verständnis ist Gott der gerechte Richter, der unabhängig von allen menschlichen Verurteilungen seine Urteile fällt und damit Gerechtigkeit in einem Sinne herstellt, wie sie von Menschen nicht zu schaffen ist. In der Perspektive von Duncans Vater wird die Szene im Gerichtssaal mit dem „gnädigen“ Urteil auf diese transzendente Wirklichkeit hin durchsichtig.

Allerdings – und das darf nicht übersehen werden: Gordimers Roman liefert diese Sichtweise als Interpretation aus dem Blickwinkel eines Protagonisten und stellt sie im gleichen Atemzug auch wieder in Frage: Denn für Duncans Vater ist der Gerichtsprozess, den er verfolgt, zugleich eine Inszenierung, die aufgeführt wird wie „ein Drama“ (S. 316), eine „Theateraufführung“ (S. 298). Folglich kann man in dem gnädigen Richter am Ende nicht nur einen Vorschein göttlicher Gerechtigkeit sehen, sondern auch einen bloßen „deus ex machina“, also das plötzliche Auftauchen einer rettenden Theater-Gottheit, das sich nicht einer metaphysischen Macht, sondern nur einer ausgefeilten Romanmaschinerie verdankt.

3. Der Kampf zwischen Gut und Böse

Das dritte große Thema, das Bibel und Krimi verbindet, ist der Kampf zwischen Gut und Böse, im Fall des Krimis: der Kampf eines „guten“ Ermittlers gegen das „böse“ Verbrechen. Dieser Antagonismus verweist auf einen metaphysischen Kampf, wie er in vielen religiösen Narrativen zu finden ist. In der Bibel findet er auf einer kosmischen Ebene statt: Der Satan tritt als Gegenspieler Gottes auf, der die Menschen zur Sünde verleitet. In der Offenbarung des Johannes wird dieser Kampf am Ende des Neuen Testaments auf die Spitze getrieben: Die apokalyptischen Visionen erzählen von einem letzten Gefecht zwischen Christus und dem Antichristen, zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis. In gewissem Sinne ist dies der ultimative Krimi: Es geht um das größte aller Verbrechen – die Rebellion gegen Gott – und das endgültige Gericht, das alles in eine ewige Ordnung bringt. Die biblische Erzählung ist dabei radikaler als viele Krimis, weil es nicht nur um individuelle Schuld geht, sondern um die Grundsatzfrage: Wird das Gute siegen?

Ähnlich drastisch tobt der Kampf zwischen Gut und Böse in Volker Kutschers Krimiserie um den Kommissar Gereon Rath im Berlin der 30er Jahre. Die Verfilmung der Bücher trägt nicht zufällig den Titel Babylon Berlin. Dies stellt Berlin in einer Reihe mit dem biblischen „Sündenbabel“, der antiken Stadt Babylon, die in der Offenbarung des Johannes auch die „Hure Babylon“ genannt wird. „Dieses Berlin ist ein Moloch; Sünde, Korruption und Gewalt lauern, wie im Mythos um die biblische Stadt, hinter jeder Ecke“, deutet Jens Balkenborg in seiner Filmrezension die biblische Anspielung (Jens Balkenborg: Babylon Berlin: Tanz auf dem Vulkan. In: epd Film, 4. Oktober 2017). In dieser Situation steht die Berliner Polizei der Berliner Unterwelt wie in einem kosmischen Kampf gegenüber. Noch deutlicher zeichnet sich das Böse aber von Band zu Band der Romanreihe in Gestalt des heraufziehenden Nationalsozialismus ab. Recht und Gerechtigkeit, die im Romanzyklus durch die Preußische Polizei und das Preußische Justizwesen verkörpert werden (so ambivalent auch deren Protagonist Gereon Rath als einzelne Person erscheint), werden dadurch immer mehr geschwächt. Hier spielt sich ebenfalls ein fast apokalyptischer Kampf zwischen Gut und Böse auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ab.

In einigen Kriminalromanen wird der Kampf zwischen Gut und Böse auf einzelne Protagonisten zugespitzt, wie z.B. mit Sherlock Holmes und seinem Gegenspieler Moriarty in den Erzählungen von Arthur Conan Doyle. In der deutschsprachigen Literatur ist dafür der Roman Der Richter und sein Henker (1952) von Friedrich Dürrenmatt ein besonders gutes Beispiel. In diesem Klassiker des modernen Krimis treffen wir den sterbenskranken Kommissar Bärlach, der den Verbrecher Gastmann zur Strecke bringen will. Er wird vorgestellt als Polizist, den „das Böse immer wieder in seinen Bann gezogen“ hat, als „das große Rätsel, das zu lösen ihn immer wieder aufs Neue verlockte“. Sein Antagonist Gastmann hingegen verkörpert den Typus des skrupellosen Spielers, der das Böse nicht aus einer bestimmten Absicht, sondern aus einer zufälligen Laune und intellektueller Arroganz heraus verübt: In einer mehr als vierzig Jahre zurückliegenden Nacht hat er in mephistophelischer Manier Bärlach eine Wette angeboten – nämlich dass er in der Lage sei, „Verbrechen zu begehen, die nicht erkannt werden können“. Seither verübt er immer kühnere, wildere, blasphemischere Untaten, ohne dass Bärlach ihm diese nachweisen könnte. Diese langjährige Rivalität zwischen den beiden Hauptpersonen wird im Laufe der Romanhandlung mehr und mehr symbolisch aufgeladen. Gastmann erscheint als der „Teufel in Menschengestalt“, während Bärlach zum titelgebenden „Richter“ wird, der als Kämpfer für die Idee der Gerechtigkeit seinen Gegner zur Rechenschaft ziehen will. Aber auch er überschreitet moralische Grenzen, indem er einen anderen Polizisten als „Henker“ missbraucht und Gastmann am Ende ironischerweise für ein Verbrechen büßten lässt, das dieser gar nicht begangen hat.

Dürrenmatt inszeniert in seinem Roman somit nun nicht nur die Macht des Bösen, sondern stellt auch in Frage, ob das Böse durch menschliche Gerechtigkeit tatsächlich besiegt werden kann. Der Konflikt zwischen moralischem Gesetz und Nihilismus wird in der Auseinandersetzung der beiden Protagonisten so symbolisiert, dass darin der große „übermenschliche“ Kampf zwischen Gut und Böse durchscheint.

Conclusio

Die Beispiele haben gezeigt, dass Kriminalgeschichten bis zum heutigen Tage vielfach von biblischen Motiven durchzogen sind, ob es sich dabei nun um bewusste Anspielungen oder unbewusst übernommene Traditionen handelt. Auch wenn diese von einer immer „bibelferneren“ Leserschaft nicht mehr durchgehend erkannt werden, bleiben sie gleichwohl prägend. So scheint in der Kriminalliteratur unserer Tage das biblische Erbe weiterhin durch.

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