Die Juden sind „nur“ die ersten Opfer des Antisemitismus Geschichte, Hintergründe und Ausprägungen eines Verschwörungsmythos

Wer den Antisemitismus verstehen und sich gegen ihn wehren will, muss mit dem Semitismus vertraut sein. Dieser ist keine Umschreibung einer „Rasse“ oder eine bestimmte Ethnie, sondern Grundlage einer demokratischen Zivilisation der Bildung und Freiheit. Diese steht auf dem Spiel beim Angriff der Antisemiten.

Zu den großen Problemen der Antisemitismus-Diskussionen gehört, dass der positive Begriff „Semitismus“ selten richtig verstanden wird. Immer noch halten sich sprachwissenschaftliche und rassistische Vorurteile aus dem 19. Jahrhundert, wonach es sich bei „Semiten“ um Angehörige einer besonders „inflexiblen“ Sprachgruppe oder gar um Angehörige einer „Rasse“ aus Juden und Arabern handele. Beides ist aus religionswissenschaftlicher wie auch theologischer Sicht überholter, pseudo-wissenschaftlicher und letztlich sogar gefährlicher Quatsch.

Sem begründete als erster ein Lehrhaus und bedient sich der Alphabetschrift

Gerade auch nach den jüdischen Auslegungen schon im Talmud wird der Noah-Sohn Sem (hebräisch Schem = Name) in besonderer und spezifischer Weise gewürdigt: Er gilt als der erste Begründer eines Lehrhauses, in dem erstmals in Alphabetschrift gelehrt und gerichtet worden sei. Inhaltlich habe Sem dabei den Noachidischen Bund, symbolisiert im Regenbogen, gelehrt und entsprechend alle Interessierten unterrichtet – völlig unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Stand.

Hinter dieser mythologischen Verdichtung stehen historisch weitreichende Prozesse. So finden wir das früheste, sogenannte proto-semitische Alphabet um etwa 1700 v.Chr. im Gebiet des heutigen Sinai, bis heute benannt nach den ersten beiden hebräischen Buchstaben Aleph und Beth. Aus dem komplexeren Ägyptisch hervorgegangen, begann mit der Alphabetisierung der beispiellose Siegeszug einer einfach zu lernenden Schriftform, die durch Papyrus, Pergament und schließlich Papier immer größere Teile der Bevölkerung einzubinden vermochte.

Semitisches Judentum: die erste Schriftreligion

Das Judentum als erste „semitische“ Religion wurde so auch zur ersten Religion auf Basis einer Schrift und ganz konkret Schriftrolle, die ohne Götterbilder und notfalls auch ganz ohne Tempel und Schlachtopfer bestehen konnte. Bis heute erfolgen Konversionen ins Judentum – wiederum völlig unabhängig von der ethnischen Herkunft – durch das Erlernen der Schriften, und wird ein Kind durch das Lesen der Thora in dem Ritus der Bar Mitzwa (Jungen) und Bat Mitzwa (Mädchen) zum Erwachsenen.

Dass der 12-jährige Sohn eines Zimmermanns so gut lesen und schreiben kann, dass er in Jerusalem mit Schriftgelehrten zu diskutieren vermag, gehört zu den zu wenig beachteten Schlüsselstellen im Leben Jesu: In keiner anderen damaligen Kultur war denkbar, was im Judentum bereits Praxis geworden war. Und wenn der gleiche Jesus also lehrt, dass an der Schrift „kein Jota“ geändert werden dürfe, so verweist er auf den kleinsten, hebräischen Buchstaben jot. Heute gilt eine Thorarolle im Judentum nur als koscher und rituell verwendbar, wenn sie ohne jede Abweichung 304.805 handgeschriebene Buchstaben enthält. Eine Synagoge wird nicht „geweiht“, sondern durch den Einzug der Schriftrolle zur Beth Knesset, zum Haus der Versammlung.

Der Semitismus ist ein nicht-rassistisches Mythen-und Mediensystem.

Verstehen wir den Semitismus also richtig als ausdrücklich nicht-rassistisches Medien- und Mythensystem aus Alphabetisierung und Gottesbünden, so wird schlagartig auch das Wesen des Antisemitismus verstehbar: Hier treten – schon eindrucksvoll verdichtet im Pharao des 2. Buches Mose sowie in der Person des Haman im Buch Esther – die Feindesrede und der Verschwörungsglauben gegen das Judentum an: Jüdinnen und Juden hielten auf Basis eigener Gesetze so seltsam zueinander, seien so kinderreich (töteten weder Mädchen noch ungewollte Jungen), verbündeten sich mit fremden, ausländischen Mächten und tendierten zum Reichtum. Antisemitismus ist vieles, aber kreativ war er nie: Die toxische Mischung aus Neid, Angstlust und schließlich mörderischem Hass zieht sich seitdem durch die Geschichte und drang auch in Christentum und Islam sowie in Marxismus und Nationalismus ein.

Der „pathologische Dualismus“ antisemitischer Mythologien

Während semitische Religiosität auf Bildung, Rechtsstaatlichkeit, Welt- und Gottesvertrauen setzt, lehren Antisemiten seit jeher die vermeintliche Vorherrschaft bösartiger Verschwörer, die Wirtschaft, Einkommen und Rechtsprechung manipulierten und an allen Übeln schuldig wären. Anstelle eines – philosophisch durchaus anspruchsvollen – Monismus tritt im Antisemitismus ein verführerischer „pathologischer Dualismus“ (Jonathan Sacks): „Wir“ sind die absolut Guten, „die“ Juden und Mitverschwörer sind die absolut Bösen und ansonsten gibt es nur noch naive Schlafschafe. Komplizierter ist die Psychologie des Antisemitismus gar nicht – und sie vermag auch zu erklären, warum Antisemiten immer, ausnahmslos immer, ein Problem mit Geschichte haben. Denn in der realen Welt gab es eben niemals absolut gute oder absolut böse Menschengruppen, weswegen Antisemiten immer wieder mit Verfälschung, Verleugnung und Verdrängung historischer Fakten arbeiten. Ehrliche Schulbücher, Dokumentationen und Gedenkstätten – auch, aber keinesfalls nur zu den NS-Verbrechen – werden daher von Antisemitinnen und Antisemiten immer attackiert werden.

Verschwörungsmythen sind nicht falsifizierbar

Ob jemand die Gefahren des Antisemitismus zu erfassen vermag, lässt sich auch daran festmachen, ob noch der veraltete Begriff der „Verschwörungstheorie“ verwendet wird. Theorien sind wissenschaftlich überprüfbare und also grundsätzlich widerlegbare Erklärungen. Und eine Verschwörungstheorie – sagen wir: zu Manipulationen an Verbrennungsmotoren – kann also durch Medien, Justiz und parlamentarische Untersuchungsausschüsse überprüft, aufgedeckt und geahndet werden.

Doch Erzählungen, wonach Juden „die Banken“ kontrollierten, die ganze Bundesrepublik eine jüdisch kontrollierte Täuschung sei oder Kemal Atatürk als heimlicher Dönme-Jude zur Zerstörung des Islam agiert habe, schließen Überprüfbarkeit von vornherein aus. Denn Gegenargumente gegen diese Deutungen gelten wiederum als „Teil“ der Verschwörung! Wir haben es im Antisemitismus nicht mit Verschwörungstheorien zu tun, sondern mit Verschwörungsmythen, die gezielt verbreitet und bekräftigt werden, um das Weltbild des pathologischen Dualismus aufrecht zu erhalten.

Der antisemitische Mythenfundus ermöglicht Antisemitismus ohne Juden

Das sachrichtige Verständnis sowohl von Semitismus wie Antisemitismus erlaubt es auch, die Gefahren etwa von Epidemien, wirtschaftlichen und politischen Krisen zu erfassen: Wo etablierte Systeme zusammenbrechen, wo das Vertrauen in die herkömmlich gebildeten Schichten erschüttert wird, öffnen sich unmittelbar Nachfrage-Räume für Verschwörungsverkünder. Und diese werden selten eine Weltverschwörung der Brasilianer oder Sikhs verkünden, sondern sich stets aus dem bereits etablierten, eben antisemitischen Mythenfundus bedienen. Deshalb eskaliert Antisemitismus auch unabhängig vom Verhalten von Jüdinnen und Juden und sogar in Gesellschaften, in denen es gar keine jüdischen Gemeinden mehr gibt (z.B. Irak) oder nie gab (z.B. Japan).

Innovative Medien als Transportmittel des Antisemitismus

Ebenso wird deutlich, warum auch die Einführung neuer Medien immer wieder mit massiven Verrohungs- und Radikalisierungsschüben einherging: So gehört eben leider auch der „Hexenhammer“ von 1486 zu den ersten Bestsellern des Buchdrucks, in dem vor allem Frauen vorgeworfen wurde, sich mit Juden und Teufeln im „Hexensabbat“ zu verbünden. Ebenso stürzten sich Antisemiten und Rassisten auf die neuen Möglichkeiten von Radio und Film – und vermochten gerade auch in Deutschland damit das Medien- und Politiksystem zu zerschlagen. Adolf Hitlers Hetzschrift Mein Kampf widmet sich exzessiv Medienthemen von der Wirkung populistischer Reden, von Flugblättern und Film bis zur Verdammung von demokratischen Journalisten und Schriftstellern als „Tintenrittern“, deren Vernichtung bereits angekündigt wurde.

Mit dem Internet hat der Antisemitismus ein ideales Verbreitungsmedium gefunden.

Der Aufbau des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ab 1945 war eine direkte Reaktion darauf – der auch heute wieder nicht zufällig mit „Lügenpresse“-Verschwörungsvorwürfen angegangen wird. Denn mit dem Aufkommen des Internets und vor allem der so genannten „sozialen Medien“ haben eben auch wieder Antisemitismus und Rassismus ideale, sogar globale Verbreitungsmedien gefunden. So führt die Werbefinanzierung von Portalen wie Facebook, Twitter und YouTube dazu, dass die Algorithmen Aufmerksamkeit erheischende, emotionalisierende Inhalte hochspielen und sachlichere, deeskalierende Inhalte verbergen. Gegen Videos, die etwa die Anschläge des 11. September 2001 als jüdisch-amerikanischen „Insider-Job“ darstellen oder Texte, die den selbsternannten „Islamischen Staat“ als Filiale des israelischen Geheimdienstes Mossad präsentieren, haben seriösere Dokumentationen kaum noch eine Chance. Und wer erst einmal in eine entsprechende Filterblase eingetaucht ist und dabei in Facebook-Gruppen, Discord-Clans und WhatsApp-Chats soziale Bestätigung erfährt, kann und wird sich digital weiter radikalisieren.

Antisemitismus bedroht nicht nur Jüdinnen und Juden

Und damit wird auch deutlich, warum Antisemitismus immer auch, aber niemals nur Jüdinnen und Juden bedroht. Verschwörungsmythen werden niemals „satt“, sondern auf immer weitere „Mitverschwörer“ ausgedehnt. So verkündeten die Nationalsozialisten, dass Roma und Sinti Teil des jüdischen Plans zur „Durchrassung“ Deutschlands wären. Ganz ebenso raunen heutige Rechtsextreme vom europäischen „Bevölkerungsaustausch“ durch George Soros, Musliminnen und Afrikaner. Der „Islamische Staat“ verkündete, einen weiteren Genozid rechtfertigend, dass die Eziden (Jesiden) Teil der jüdisch-teuflischen Weltverschwörung und am Untergang des Osmanischen Kalifates direkt beteiligt gewesen wären. Und als es dem Attentäter von Halle nicht gelang, an Jom Kippur in die Synagoge einzudringen, richtete er seine im Netz organisierte Waffe und seine livestreamende Helmkamera eben auf völlig unbeteiligte Passanten.

Rabbi Jonathan Sacks (Großbritannien) formulierte es prägnant: „Antisemitismus beginnt immer bei Juden, aber er endet nie bei ihnen.“ Dieser Hass richtet sich direkt gegen die semitischen Grundlagen unserer demokratischen Zivilisation wie Bildung, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit zur Vielfalt. Und er war niemals wirklich überwunden, wird aber derzeit auch noch digital befeuert. Es liegt jetzt an uns allen, wie stark er wieder werden wird.

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