Zwischen Gurkentruppe und Schwarzbrot-Frömmigkeit Welche Gestalt braucht der Protestantismus heute?

Als Gottes geliebte Gurkentruppe bezeichnete Pastorin Sandra Bils beim Abschlussgottesdienst des Kirchentages 2019 die versammelten Gläubigen. Doch was kann so eine Gurkentruppe ausrichten? Welche Verantwortung bringt der Glaube mit sich?

Der Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm erhält Morddrohungen. Dass die Drohungen über das Internet erfolgen, ist für manche besonders schlimm und ein weiteres Anzeichen für die Enthemmung öffentlicher Debatten im Netz sowie Anlass für eine engmaschigere Kontrolle. Oder eben nicht so schlimm, weil es ja tagtäglich und Menschen in den unterschiedlichsten Positionen widerfährt und für manche online eben nicht so bedrohlich ist wie eine Briefbombe.

„Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“

Grund für die Morddrohungen ist, dass der EKD-Ratsvorsitzende gemeinsam mit vielen anderen kirchlichen Partnern und zivilgesellschaftlichen Organisationen ein Rettungsschiff für Geflüchtete unterstützt: Die kirchliche Initiative United4Rescue geht auf eine Petition auf dem letzten Evangelischen Kirchentag in Dortmund zurück. „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“, konstatierte Pastorin Sandra Bils dort in ihrer Abschlusspredigt und erzeugte damit neben Gänsehaut bei vielen Menschen auch eine Menge Mut, dieser Beschwörung Taten folgen zu lassen.

Eine Tradition des Kirchentags, die besonders in den 1960er Jahren ihren Höhepunkt erlebt hatte, wurde 2019 wieder aktuell: War es damals der Aufruf „Kauft keine Früchte der Apartheid!“ und damit die Forderung an den Kirchentag, seine Konten bei der Deutschen Bank aufzulösen, die als Unterstützerin des südafrikanischen Regimes galt, so ist es heute der dringende Appell an die christliche Gemeinschaft, den Lippenbekenntnissen von Nächstenliebe und Barmherzigkeit Handlungen folgen zu lassen. Und zwar gemeinschaftlich. Als – ja was eigentlich? Als Kirche? Als Christinnen und Christen?

Es gäbe da noch eine Kategorie zur Beschreibung derjenigen Ebene, in der der christliche Glaube gesellschaftliche Gestalt annimmt und damit sichtbar wird – und angreifbarerer als irgendwo sonst: Es ist ein öffentlicher Protestantismus, der hier gepredigt, gefordert und schließlich auch angegriffen wird. Der Protestantismus geht weder in den ihm eng verbundenen kirchlichen Institutionen auf, noch lässt er sich auf den individuellen Glauben von Christinnen und Christen reduzieren. Der Protestantismus ist vielgestaltig, speist sich aus Denktraditionen, Sprachbildern und Leitfiguren, aber ganz besonders nimmt er in gesellschaftlichen Debatten Gestalt an. Doch welche Gestalt? Welche Gestalt braucht der Protestantismus in der Gegenwart und welchen Erwartungen entspricht er damit?

Protestantische Netzwerke als Stütze der Gesellschaft

Als ich im Rahmen meiner Forschungen zum Protestantismus in der Nachkriegszeit versucht habe, einen Überblick über die Menschen zu bekommen, die damals im Bereich der Evangelischen Kirche aktiv waren, war ich überrascht, wie schnell ich gemeinsame Verbindungen unter ihnen erkannt habe. Viele von den Laien und Theologen (ja, es waren größtenteils Männer die hier im Vordergrund standen) entstammten gemeinsamen Jugendbewegungen und -gruppierungen, hatten zusammen studiert oder hatten dieselben Vorbilder. Nicht wenige unter ihnen nutzten die Chance, nach dem Krieg gemeinsame Projekte zu initiieren: Der Kirchentag, die Evangelischen Studentengemeinden und die Evangelischen Akademien (in deren Tradition ja auch die Herausgeber der evangelischen aspekte stehen). Eberhard Müller, württembergischer Pfarrer, der hannoversche Bischof Hanns Lilje und der ökumenisch geprägte Laie aus Pommern Reinold von Thadden-Trieglaff hatten schon jahrelang zusammengearbeitet, immer mit dem Ziel, den christlichen Glauben als Stütze der Gesellschaft zu etablieren.

Auf Tagungen in den bald deutschlandweit gegründeten Akademien, in Arbeitsgruppen auf dem Kirchentag, in den Kammern der EKD – überall war dieses „Netzwerk“ aktiv. Neben dem hier beschriebenen protestantischen Netzwerk gab es selbstverständlich noch viele andere. Was ihnen aber allen gemeinsam war: Sie etablierten eigene Orte und Formate, förderten eigene Denktraditionen und unterstützten sich darin, sich Gehör vor einer breiteren Öffentlichkeit zu verschaffen.

Forum und Faktor

Auch wenn insbesondere die Akademien sich gerne als „Forum“ für gesellschaftliche Debatten verstanden wissen wollten, so muss doch festgehalten werden, dass protestantische Akteure immer auch einen eigenen Gestaltungsbeitrag zu den öffentlichen Debatten leisten wollten – eben ein „Faktor“ sein wollten. Sie positionierten sich durchaus, etwa indem sie ihre Vernetzungen zu Politikern und politischen Gruppierungen nutzten, um Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen.

Eberhard Müllers Anliegen etwa, die Bundesrepublik ideologisch enger an den Westen anzuschließen, um sich der seiner Ansicht bedrohlichen und zerstörerischen Gefahr des Sozialismus im Osten klar entgegenzustellen, korrelierte mit seinem politischen Einsatz für die Wiederbewaffnung Deutschlands. Die sogenannte „Ohne-mich-Bewegung“ pazifistisch eingestellter Pfarrer und Laien in der Evangelischen Kirche kritisierte er deswegen scharf – auch öffentlich. Wenngleich sich der Protestantismus der Nachkriegszeit immer auf einer Ellipse zwischen den beiden Polen „Forum“ und „Faktor“ bewegte, so können bestimmte Netzwerke eben nicht eindeutig einem bestimmten Pol zugeordnet werden. Vielmehr gestalteten sich die unterschiedlichen protestantischen Beiträge auf mehreren Ebenen und in changierenden Mischungsverhältnissen: Wer es als Aufgabe des Protestantismus begriff, ein Forum für Debatten zur Verfügung zu stellen, vermochte darin trotzdem eine eigene Position zu vertreten. Gleichzeitig konnte die Forderung einer klaren Positionierung in gesellschaftlichen Debatten durchaus auf einer gefestigten fachlichen Expertise beruhen, etwa was wirtschaftliche Themen wie die Mitbestimmung in Betrieben anbelangte. Die Positionierung zu einem strittigen politischen Thema war durchaus nicht gleichbedeutend mit theologisch einfacher Beweisführung, sondern oft das Resultat wissenschaftlich fundierter fachlicher Auseinandersetzung.

Millionenpublikum und Massenbewegung

Wahrscheinlich hat der Protestantismus im Nachkriegsdeutschland seinen Einfluss zugleich unter- und überschätzt: Er hat wohl unterschätzt, wie viele Menschen von der Massenbewegung des Kirchentags beeinflusst worden sind. Er hat unterschätzt, dass prominente öffentliche Intellektuelle wie Richard von Weizsäcker und Marion Gräfin von Dönhoff durchaus als „ProtestantInnen“ wahrgenommen worden sind und dadurch zu Identifikationsfiguren des öffentlichen Protestantismus und der evangelischen Kirche wurden. Auch die zahlreichen spirituellen Beiträge in der Form des „Wort zum Sonntag“ oder der Psalmübertragungen des „Kirchentag-Stars“ Jörg Zink haben ein Millionenpublikum erreicht – auch das waren protestantische Gestaltungsbeiträge.

Gleichzeitig hat der Protestantismus seinen möglichen Einfluss überschätzt: Vielen Laien und Theologen, die sich für den Wiederaufbau der evangelischen Kirche eingesetzt haben, lag es besonders am Herzen, zum einen die Kirche als relevanten gesellschaftlichen Ort wieder in das Bewusstsein der Menschen zu holen und zum anderen Menschen dabei zu unterstützen, den christlichen Glauben als Möglichkeit der Orientierung für ihre innere Gestimmtheit in Betracht zu ziehen. Doch beides ist dem Protestantismus nur teilweise gelungen – in bestimmten Milieus, in festen Formen wie auf den Kirchentagen und immer wieder auch in seinen Kirchengemeinden, wo z.B. Jugendliche eine geistige Heimat finden – nicht aber in den Milieus, die weniger intellektuell geprägt sind, die gleichzeitig aber den gesellschaftlichen Umbrüchen weitaus ausgelieferter zu sein scheinen und denen es an Räumen zur Selbstreflexion und zur Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Deutungsmustern zu fehlen scheint.

Protestantismus als öffentliche Gestalt individuellen Glaubens

Genau das aber ist meines Erachtens die genuine Aufgabe eines öffentlichen Protestantismus: Als öffentliche Gestalt individuellen Glaubens und persönlicher Selbstdeutung kann der öffentliche Protestantismus Sprachbilder, Deutungsmöglichkeiten und theologisch begründete Interpretationsleistungen gesellschaftlicher Entwicklungen anbieten und damit einen Beitrag zur Entwicklung einer Diskurskultur leisten, die Pluralisierung und Individualisierung als zwei Seiten derselben Medaille ernst zu nehmen vermag.

Gestaltungsmacht und -verantwortung

Was ich mir angesichts der aktuellen Lage zwischen Rettungsschiffen, Worten der EKD, Sonntagspredigten zum Klimaschutz von den Kanzeln und wachsenden Kirchenaustrittszahlen vom deutschen Protestantismus wünschen würde? Ich wünsche mir, dass er sich seiner eigenen Gestaltungsmacht und -verantwortung auf realistische Art und Weise bewusst wird. Dass er seine eigene Pluralität zwischen Kirchentagsfrömmigkeit und akademischer Theoriebildung wertzuschätzen vermag und nicht einebnen will. Dass er sichtbar wird und bleibt und zwar nicht nur an den ihm bislang vertrauten Orten: Ich wünsche mir Protestantinnen, die in der Brigitte zur Debatte um den Bluttest bei Trisomie 21 Stellung nehmen, Journalisten, die mit Kirchenvorstehern über ihren Glauben und ihr Engagement für den Klimaschutz sprechen und Pfarrerinnen an Mittelschulen, die es schaffen, verständlich, konkret und authentisch von ihrem Glauben zu erzählen. Ich wünsche mir kurzweilige einminütige Interviews mit evangelischen Bischöfinnen im Privatradio mit Popmusik, die sachlich richtig, unvoreingenommen und barrierefrei davon erzählen, was es mit dem kirchlichen Engagement für Entwicklungspolitik, Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit auf sich hat. Ich wünsche mir einen pluralen, sichtbaren und verständlichen Protestantismus, der mit noch viel weniger Fremdwörtern auskommt als ich in diesem Text, um zu formulieren, was es bedeutet, evangelisch zu sein.

Lektüretipps:

Sabrina Hoppe: Der Protestantismus als Forum und Faktor. Mohr Siebeck, 2019; www.sinnundgeschmackblog.wordpress.com (Sabrina Hoppes Blog)

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