Es gibt ein Leben vor dem Tod Freude durch Empfangsbereitschaft

Das christliche Gegenkonzept zur Spaßgesellschaft wäre eine Gemeinschaft, in der sich Freude ereignet, eine Gemeinschaft, die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich Freude ereignen kann – selbst in einer als apokalyptisch empfundenen Welt.

„Es wird noch so böse werden auf Erden, dass man in allen Winkeln wird schreien: Oh Herr, komm mit dem Jüngsten Tage!“ Dieses Zitat stammt von Martin Luther aus einer seiner Tischreden. Es ist Ausdruck einer apokalyptischen Grundstimmung, Ausdruck einer Deutung der Gegenwart als einer apokalyptischen, wie sie auch Albrecht Dürer, ein Zeitgenosse Luthers, zur Darstellung bringt. Die vier apokalyptischen Reiter (Holzschnitt aus dem Jahr 1498) verkörpern den Tod als allgegenwärtiges und unabwendbares Schicksal, die wirtschaftliche Ungleichheit und die daraus resultierenden Hungersnöte, den Krieg als immerwährende Bedrohung und Erfahrung individueller wie sozialer Existenz, und schließlich Krankheit (voran die Pest) als stets lebensbedrohende Macht. Die vier Reiter galoppieren in geschlossener Formation; niemand – auch nicht der Kaiser – kann ihnen entrinnen. Als apokalyptisch gilt, was Zerstörung und Leiden über die Menschheit bringt und die Ordnungen der Welt so sehr erschüttert, dass menschliches Leben in absehbarer Zukunft als unmöglich erscheint.

Die „Enthüllung der Wirklichkeit im Untergang“

Das apokalyptische Weltbild ist biblisch fundiert. Sowohl Jesus als auch Paulus hatten apokalyptische Vorstellungen, das letzte biblische Buch – die Offenbarung des Johannes – gilt als Apokalypse. Vor diesem Hintergrund ist die biblische Verkündigung „in ihrem Kern auch eine Zeit-Botschaft, eine Botschaft vom Ende der Zeit. Alle biblischen Botschaften tragen einen Zeitvermerk, einen Endzeitvermerk“ (Johann B. Metz). Anspruch und Zuspruch Gottes ereignen sich in einem individuellen wie globalen Zeitfenster auf einem linearen, unumkehrbaren und endlichen Lebensweg. Das gibt ihnen einen unüberbietbaren Ernst. Insofern kann vom Apokalyptiker gesagt werden, dass er die jeweils gegenwärtige Wirklichkeit vor dem Horizont der begrenzten Zukunft wirklich ernst nimmt, indem er sie als katastrophal wahrnimmt und deshalb als inakzeptabel zur Sprache bringt. „Apokalyptik, so lässt sich zusammenfassen, ist Enthüllung der Wirklichkeit im Untergang“ (Ulrich H.J. Körtner). In diesem Sinne ist Apokalyptik ein existenzieller Ausdruck des Leidens und Mitleidens in und an dieser Welt. In diesem Sinne wünsche ich mir eine apokalyptisch orientierte Kirche, die nichts schönredet, sondern die „Wirklichkeit im Untergang“ enthüllt.

Die „gute Nachricht“ inmitten der Apokalypse

Die Apokalypse ist immer jetzt. Als geschichtliche Erfahrung jeweils leidender und mitleidender Menschen und Menschengruppen ist die Endzeit endlos. Aber es wird ein Ende geben, weil die Paradoxien und Ambivalenzen menschlichen Fortschritts unvermeidbar sind. Nahezu jeder technischen Innovation wohnt ein Gewalt- und Zerstörungspotential inne, das sich in der Regel verwirklicht, entfaltet und Menschen unter seine Herrschaft zwingt. Insofern ist die Geschichte der Menschheit ausweglos.

Nahezu alle biblischen Schriften sind inmitten oder vor dem Hintergrund sozialer Ungerechtigkeiten und gesellschaftlicher wie politischer Gewalterfahrungen entstanden. Die Pax Romana der neutestamentlichen Zeit gründete auf Kriegen, Gewaltherrschaft, wirtschaftlicher Ausbeutung und Sklaverei. Vor dem „leeren Grab“ Jesu kommt das Kreuz Jesu, vor Ostern der Karfreitag. Und der vom Tode Auferstandene bzw. Auferweckte bleibt der Gekreuzigte! „Alle christliche Botschaft erweckt notwendig Aberglauben, wenn aus irgendwelchen Gründen Jesu Kreuz in ihr zu kurz kommt“ (Ernst Käsemann). Das Gute der christlich interpretierten guten Nachricht Gottes ist, dass sie die katastrophale menschliche Grundsituation nicht verschweigt oder beschweigt, nicht verharmlost oder gar leugnet, sondern in sie hineinspricht, sie beleuchtet und ausleuchtet, und dass sie die Behauptung wagt, Gott selbst habe sich in diese Situation hineinbegeben, um inmitten der alten Schöpfung eine neue zu erschaffen. Christinnen und Christen wären dann als neue Geschöpfe die Verkörperung und der lebendige Ausdruck dieser neuen Schöpfung; sie wären neue Bilder Gottes inmitten einer sich selbst vernichtenden Menschheit.

Die „frohe Botschaft“ macht keinen Spaß

Im Jahr 1976 wurde der Prosaband Die wunderbaren Jahre des in der DDR lebenden Schriftstellers Reiner Kunze in der BRD veröffentlicht, worin er das politische System der DDR unmissverständlich kritisierte. 1977 folgten seine Ausbürgerung und Übersiedlung in die Bundesrepublik. In der gleichnamigen Verfilmung des betreffenden Werkes im Jahr 1979 findet sich ein bemerkenswerter Dialog zwischen zwei Jugendlichen und einem evangelischen Pfarrer. Seitens der Jugendlichen kommt die Frage auf, wozu man (angesichts der alltäglichen Gewalterfahrungen) überhaupt noch leben solle. Die Antwort des Pfarrers: „Wenn ich etwas nicht verhindern oder nicht verändern kann, weil es nicht in meiner Macht steht, es zu verhindern oder zu verändern, heißt das noch nicht, dass das Leben keinen Wert hat.“ Auf die anschließende Frage, worin dieser Wert bestehe, antwortet der Pfarrer nach einer Pause des Nachdenkens wiederum mit einer Frage: „In der Freude?“ Er fährt fort: „Und das Angebot der Freude ist unerschöpflich.“

Das Angebot der Freude ist unerschöpflich.

Bis heute habe ich keine bessere Antwort auf die Frage nach dem Wert (bzw. Sinn) des Lebens angesichts der Apokalypse gefunden. Schöpfungstheologisch kann gesagt werden, dass die von Menschen jeweils vorgefundene Welt sowohl in ihrer natürlichen Vielfalt als auch in der Vielfalt und Vielschichtigkeit menschlicher Kultur ein unerschöpfliches Potential bereithält, sich über etwas freuen zu können. Zudem haben die Ausdrucksformen der Freude (Staunen und Loben, Lächeln und Lachen, Musik, Gesang, Tanz) die Tendenz, Freude zu vermehren und zu verbreiten. Doch dazu bedarf es der Fähigkeit, Freude zu empfangen. Freude ist nicht machbar. Sie steht nicht zur Verfügung. Sie ist unverfügbar. Nach biblischem Verständnis sind die Zeiten der Freude Zeiten einer lebendigen Gottesbeziehung. Freude wird als Gabe Gottes erfahren und gewürdigt; sie gilt als eine Frucht des göttlichen Geistes. Negativ ausgedrückt: Ohne lebendige Gottesbeziehung gibt es keine Freude. Lebendig ist die Gottesbeziehung aber nur, wenn von der Seite des Menschen die Freude nicht als Ziel oder Nutzen der Gottesbeziehung, sondern Gott um seiner selbst willen gesucht wird.

Von dieser Erkenntnis aus eröffnet sich eine kreuzestheologische Perspektive auf das Phänomen der Freude. Freude ist nicht Spaß, auch wenn beide Phänomene sich einer genauen Definition entziehen und nicht immer eindeutig voneinander geschieden sind. Hilfreich erscheint mir die etymologische Ableitung des Wortes Spaß vom italienischen spasso: Zerstreuung, Zeitvertreib, Vergnügen. Unsere sogenannte Spaßgesellschaft verspricht und bietet genau das: Zerstreuung, Zeitvertreib, Vergnügen. Und zwar als Konsumgüter. Spaß kostet etwas. Spaß kostet Geld, das in der Regel erarbeitet werden muss. Spaß kostet natürliche Ressourcen, die endlich sind. Spaß gründet vielfach auf der Ausbeutung von Menschen. Nicht selten kostet Spaß Menschenleben. Wir leben in einer Realität, die der Medienwissenschaftler Neil Postman schon im Jahr 1985 beschrieben und auf den Punkt gebracht hat, als er sagte: „Wir amüsieren uns zu Tode.“ Die angedeuteten (globalen) Zusammenhänge sind hinreichend bekannt, Beispiele gibt es zuhauf. Nur Ignoranz oder Verdrängung kann sich ihnen entziehen, wobei systemimmanente Mechanismen der Ablenkung und Ausblendung das Ihre tun.

Vor diesem (apokalyptischen) Hintergrund deute ich das Kreuz Jesu auch als eine Anklage derjenigen individuellen wie gesellschaftlichen Lebensentwürfe, die auf Gewalt gründen. Es durchkreuzt den Spaß der Spaßgesellschaft, weil es ihn als gewalttätig entlarvt. Zudem bedeutet es eine Werteumkehr, weil es die Werte eines Erfolgsmenschentums infrage stellt, das sein Heil nicht nur in materieller Bedürfnisbefriedigung, sondern in steter Selbstoptimierung, im Messen und im Vergleichen sucht. Im Kreuz Jesu begegnet uns Gott als gescheiterter Mensch, als Verlierer, als Opfer. Gescheitert deshalb, weil er sich treu blieb. Hier muss alles christliche Denken, alle christliche Theologie, alle christliche Praxis ansetzen!

Das Kreuz Jesu durchkreuzt den Spaß der Spaßgesellschaft, weil es ihn als gewalttätig entlarvt.

Das christliche Gegenkonzept zur Spaßgesellschaft wäre eine Gemeinschaft, in der sich Freude ereignet, eine Gemeinschaft, die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich Freude ereignen kann. Freude erfahren Menschen dann, wenn sie vom Drang befreit sind, über Dinge und Lebendiges einschließlich sich selbst verfügen zu wollen, wenn sie bereit dazu und neugierig darauf sind, sich vom Angebot der Freude ansprechen zu lassen, ihre Sinne für dieses Angebot zu öffnen, kurz: empfangsbereit zu sein. Diese Empfangsbereitschaft ereignet sich in einer lebendigen Beziehung mit Gott, in der Gottsuchende das Kreuz Jesu nicht nur nicht ausblenden, sondern es aktiv in ihre Suche integrieren. Die Klicks und Likes der so genannten sozialen Netzwerke verhindern Erfahrungen von Freude ebenso wie die gewalttätigen Spaßkonzepte. Ausstieg aus diesen Konzepten und Widerstand gegen sie, soweit möglich – das wäre eine christliche Haltung!

Bedienen ist nicht dienen

Die drei monotheistischen Schriftreligionen waren und sind weitgehend Veranstaltungen zur Verhinderung von Freude. Versuche, Gott in Vorschriften und bürgerlicher Moral einzuhegen, sind die Regel; ihn zu instrumentalisieren ist vielerorts politischer Alltag. Das sowohl auf den reformatorischen Erkenntnissen als auch auf der europäischen Aufklärung gegründete evangelische Christentum könnte in dieser Situation ein Lichtblick sein. Könnte, ist es aber nicht. Ich nehme eine Kirche wahr, für die Gott kein existenzielles Thema zu sein scheint und die deshalb zunehmend das Spaßbedürfnis der Spaßgesellschaft bedient. Damit dient sie weder Gott noch den Menschen. Und das ist wahrlich apokalyptisch.

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