Sicherheitslogik und Friedenslogik gehören zusammen Herausforderungen für die Evangelische Friedensethik durch den Ukraine-Krieg

Kaum hatten die ersten russischen Panzer die Grenze zur Ukraine bzw. die Demarkationslinien in der Ukraine überschritten, schon wurden weitreichende Konsequenzen für die Sicherheitspolitik und auch die (evangelische) Friedensethik gefordert. Eine militärische Aggression in Europa schien so unvorstellbar, dass jetzt grundlegende Kategorien in Frage gestellt zu sein schienen.

Dabei wiederholte sich nur ein Handlungsmuster der russischen Politik unter der Führung von Präsident Putin, wie es spätestens seit dem Georgien-Krieg 2008 oder eigentlich schon ab 1999 als Putin als neu gekorener Ministerpräsident den zweiten Tschetschenienkrieg begann. Warum waren also alle überrascht?

Sicherheitspolitische Fehleinschätzung wider besseres Wissen

Der langjährige Vorsitzende der Kammer für Theologie der EKD, Christoph Markschies meinte dazu im Interview mit epd am 10. März: „Wir waren zu naiv und haben den zivilisatorischen Effekt der grausamen Geschichte des 20. Jahrhunderts überschätzt. Zudem müssen wir schmerzlich erkennen, dass wir die Bedrohung durch totalitär verfasste Staaten in Europa unterschätzt haben. Pazifismus ist an dieser Stelle keine Antwort.“

Die Frage, die sich unmittelbar aufdrängt, ist dann ja: Wer ist dieses „wir“? Wenn man in die einschlägigen Fachveröffentlichungen und auch in das Friedensethische Lesebuch der EKD schaut, dann finden sich dort lange vor dem militärischen Aufmarsch an der Grenze der Ukraine präzise Analysen, die zeigen, dass Russland unter Putin schon in den Nullerjahren begonnen hat, mit hybriden Mitteln einen Krieg gegen die Ukraine zu führen. Spätestens seit dem Frühjahr 2021 lagen sehr präzise Informationen der westlichen Geheimdienste, vor allem der englischen und amerikanischen, vor, die zeigten, dass die Verlegung der Truppen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auf eine geplante Offensive hinweisen.

Als erstes wird man feststellen müssen, dass daraus noch nicht folgt, dass die Friedensethik der EKD versagt hat, sondern dass viele Vertreter:innen der EKD auch noch zum Zeitpunkt der militärischen Aggression von einer völlig unrealistischen (sicherheits-)politischen Analyse ausgegangen waren – wie ja auch Teile der deutschen Politik. Aber ist das Naivität? Es wird noch zu klären sein, warum dies so geschehen ist, obwohl z.B. an der FEST (Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft e.V.) ein großes von der EKD finanziertes Projekt zum Gerechten Frieden durchgeführt wurde.

Wenn hier nun kollektive Naivität unterstellt wird, dann kann das dazu führen, dass man sagt, „wir haben uns ja alle geirrt“ und nicht mehr fragt, wie es dazu gekommen ist. Daher wäre in meiner Perspektive der erste Schritt zu fragen: Wie kam es zu dieser Fehleinschätzung und Marginalisierung der Positionen auch innerhalb der EKD, die eine realistischere Analyse vertreten haben?

Entfernung von den eigenen friedensethischen Grundlagen

Markschies folgert dann aus der nun gewonnenen Einsicht, dass die „Bedrohung durch totalitär verfasste Staaten in Europa unterschätzt“ wurde: „Pazifismus ist an dieser Stelle keine Antwort“. Das ist zwar absolut richtig, aber das ist ja auch nicht die friedensethische Position der EKD-Friedensdenkschrift von 2007. Diese postuliert zu Recht die „vorrangige Option für die Gewaltfreiheit“, schließt mit einer „Ethik der rechtserhaltenden Gewalt“ gerade zur Abwehr der Bedrohung von Menschen und zur Wahrung bzw. Schaffung von Rechtlichkeit die Anwendung militärischer Gewalt aber nicht aus, sondern legitimiert sie für diese Fälle ausdrücklich, wenn nicht die UN den notwendigen Schutz gewährleisten kann.

Diese Gegenüberstellung bei Markschies weist aber auf ein Problem hin, das insbesondere unmittelbar vor und in den ersten Tagen der russischen Aggression deutlich wurde: Bei den Stellungnahmen der Vertreter:innen der EKD wurde nicht immer deutlich, dass sie sich tatsächlich auf die Friedensdenkschrift bezogen. Es wirkte tatsächlich ein wenig wie ein persönlich präferierter Pazifismus (auch bei den sicherheitspolitischen Einschätzungen, die sich teilweise mit den normativ-ethischen Aussagen vermengten, ist nicht wirklich klar, auf welcher Grundlage diese fußen).

Das erste Ergebnis ist also, dass die Probleme der friedensethischen und friedenspolitischen Urteilsbildung im Vorfeld und zu Beginn der aktuellen militärischen Offensive im Ukraine-Krieg nicht den friedensethischen Kriterien der EKD-Denkschrift zuzurechnen sind, sondern auf einer falschen (sicherheits-)politischen Einschätzung der Situation und dem Umstand, dass die Kriterien der Denkschrift nicht klar angewendet wurden, beruhen. Dies heißt allerdings nicht, dass es nicht friedensethischen Klärungs- und Entwicklungsbedarf gebe.

Entwicklungsbedarf der evangelischen Friedensethik

Nicht ganz neu, aber jetzt neu dringlich ist die Kritik, dass in der Systematik der Denkschrift eine Überschätzung der Leistungsfähigkeit des internationalen Rechts und der Vereinten Nationen angelegt ist. In einer kantianischen Perspektive wird das internationale Recht in einer idealisierten Form dogmatisch deduziert und analog zu innerstaatlichem Recht entfaltet. Da aber den Vereinten Nationen von jeher das Gewaltmonopol fehlt und auch ein Gewaltermächtigungsmonopol nicht durchgesetzt werden konnte, wird so systematisch ausgeblendet, dass internationales Recht vor allem politisches Recht ist. Eine Einsicht, die auch bei deutschen Völkerrechtler:innen erst allmählich (wieder) ins Bewusstsein tritt. Da sich die evangelische Ethik hier aber als Ethik des internationalen Rechts versteht, ist in ihr gleichsam das systematische Tool schon angelegt, das eine Entwicklung des internationalen Rechts nach ethischen Kriterien als lex ferenda möglich macht.

Auch Notwehr und Nothilfe legitimieren militärische Gewalt.

Daraus folgt, dass auch die Kriteriologie zur Prüfung der Anwendung von militärischer Gewalt auf eine Situation hin weiter zu entwickeln ist, in der die Herausforderung nicht ausschließlich humanitär begründete Interventionen oder friedenserhaltende Maßnahmen der UN sind, sondern Notwehr und Nothilfe. Bei den Kriterien der rechtserhaltenden Gewalt der Denkschrift ist deutlich erkennbar die Frage von Auslandseinsätzen im Fokus. Jetzt gilt es die Kriterien und Verfahren stärker auf die klassischen Formen der Landes- und Bündnisverteidigung zu beziehen, also auf Situationen der Notwehr und der Nothilfe. Die Kriterien der Denkschrift sind der Tradition des Gerechten Krieges entnommen, wobei ausdrücklich diese Tradition in der Denkschrift – wie ich meine aus einem falschen Verständnis – abgelehnt wird. Gerade bei den wieder aktuellen friedensethischen Herausforderungen wird man nicht umhinkönnen, an die sehr ausdifferenzierte und positionell sehr unterschiedliche internationale Debatte, um die Kriterien des Just and Limited War anzuschließen. Da diese Kriterien über die Diskussion um die „Responsibility to Protect“ von den VN rezipiert wurden (u.a. A more secure world: our shared responsibility. Report of the High-level Panel on Threats, Challenges and Change A/59/565, 2004, §204) bietet sich hier ein guter Anknüpfungspunkt innerhalb der Systematik des internationalen Rechts.

Bei einer solchen Fortentwicklung wären insbesondere Formen der hybriden Kriegführung mit zu adressieren. Die mit ihr einhergehende intendierte Ambiguität stellt nicht nur eine militärtechnische, sondern auch ethische und rechtliche Herausforderung dar. Hier bietet es sich an, den von Christopher Daase vor einiger Zeit unterbreiteten Vorschlag aufzunehmen, nicht nur die Anwendung von Gewalt ethisch zu problematisieren, sondern generell die Rechtfertigung von Zwang in allen Formen in den Mittelpunkt zu stellen.

Die Friedensdenkschrift von 2007 hat sich von den Heidelberger Thesen verabschiedet, welche den Besitz von und die Abschreckung mit Atomwaffen als ethisch „noch“ legitimierbar bezeichnet hat. Da jegliche Fortschritte hin zu einer Weltfriedensordnung und hin zu einer Institutionalisierung gemeinsamer Sicherheit seit dem 24. Februar zerschossen werden, dürfte es notwendig sein, hier zu der Position der Heidelberger Thesen zurückzukehren, die Deutschland die Option der nuklearen Teilhabe und vollen Bündnisfähigkeit zumindest offenhält.

Militärische Ausrüstung für die Landesverteidigung

Schließlich wird es ganz aktuell darum gehen, die militärischen und sicherheitspolitischen Konsequenzen des Ukraine-Krieges auch friedensethisch und friedenspolitisch zu reflektieren. Dass mehr finanzielle Mittel notwendig sein werden, um allein die vorhandenen Streitkräfte einsatz- und damit verteidigungsfähig zu machen, ist inzwischen weitgehend Konsens. Allerdings brachte der Ukraine-Krieg in sicherheitspolitischer Hinsicht einige Überraschungen. Zum einen waren offensichtlich alle davon überrascht, dass trotz Modernisierung und hoher Feuerkraft die russischen Verbände wenig schlagkräftig waren. Der Rückstand an Ausrüstung, Technologie und operativen Fähigkeiten gegenüber erheblichen Teilen der westlichen Streitkräfte ist eklatant. Zum anderen ist ebenso frappierend, welche Widerstandskraft die ukrainische Selbstverteidigung trotz zahlen- und ausrüstungsmäßiger Unterlegenheit mit Hilfe der westlichen, vor allem amerikanischen und britischen, Aufklärung erreichte. Möglicherweise wird die Aufgabe der Landesverteidigung dann noch einmal ganz andere Ausrüstung und Verfahren benötigen als im Moment angenommen wird. Dass hier ein gründlicher, auch gesellschaftlicher Diskurs zur zukünftigen sicherheitspolitischen Ausrichtung Deutschlands geführt wird, wäre auch eine wichtige Aufgabe kirchlicher Friedensethik, für die dann entsprechende Ressourcen, etwa für die Evangelischen Akademien mit ihren Expert:innen zur Verfügung gestellt werden müssen.

Ohne Sicherheit kein Schalom

In diesem Artikel habe ich implizit dafür argumentiert, Sicherheitslogik und Friedenslogik zusammen zu setzen. Zu lange wurde gefordert, eine vermeintliche Sicherheitslogik durch eine alternative Friedenslogik zu ersetzen. Die derzeitige Situation scheint mir doch allerdings deutlich zu machen, dass ohne Sicherheit auch kein „positiver“ Friede im Sinne des Schalom möglich ist. Friedenslogik und Sicherheitslogik zusammen denken, heißt eben auch nicht, die Friedenslogik durch eine Sicherheitslogik zu ersetzen, aber Sicherheit als friedensethische Kategorie ernst zu nehmen und ethisch zu reflektieren. Dabei sind wiederum in der Denkschrift wichtige Ansätze schon vorhanden, indem dort ein erweiterter Sicherheitsbegriff, nämlich der der „menschlichen Sicherheit“ (human security) konzeptionell Verwendung findet.

Deshalb wird es auch nicht reichen, allein auf die militärische Sicherheit zu schauen. Es ist absolut notwendig, auch die Mittel der zivilen Konfliktbearbeitung zu entwickeln und dafür mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Sobald dies wieder möglich sein wird, müssen die Strukturen der OSZE und der UN wieder belebt bzw. andere ggf. rudimentäre Formen der institutionellen Kommunikation zur Friedenssicherung mit Russland (und ggf. China) etabliert werden, ohne dabei die Gerechtigkeitsfragen mit Blick auf den globalen Süden, den Klimawandel und die weiter grassierende Pandemie auszublenden, sondern sie gerade systematisch zusammenzudenken.

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Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen. Eine Denkschrift des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh, 2007.

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