Gottvertrauen in Dilemma-Tagen Theologische Annäherungen an das Corona-Virus

Seit Wochen ist die Corona-Krise das alles beherrschende Thema. Mit dem folgenden Beitrag stellen wir diesem Heft bewusst eine theologische Annäherung voran. Andererseits wollen wir uns davon nicht völlig dominieren lassen: Auch in Corona-Zeiten bleiben andere Themen dieses Heftes wichtig.

Dieser Text entsteht am 26. April 2020. Das muss man bei diesem Thema dazu sagen, denn es entwickelt sich täglich weiter. Im Moment freuen sich aktive Christen, dass sie im Mai wieder Gottesdienste feiern können. Die Bedingungen dafür werden viele allerdings ernüchtern: Keinerlei Körperkontakt, einzeln eintreten, Gesichtskontrolle am Eingang, Kranke bleiben draußen, Anweisung an festgelegte Plätze, einen pro zehn Quadratmeter, Mundschutz für alle und kein Gesang, kein Friedengruß, Abendmahl-Hostien mit Handschuhen und Zange, kein Kelch. So erobert nun das, was im Alltag schon fast eingeübt ist, auch die Kirchen: diese merkwürdige Mischung aus Misstrauen gegeneinander und Sehnsucht nach Miteinander. Ob da die schnell entwickelten Ersatzfeiern in den Medien nicht sogar schöner sind?

Corona-Dialektik: Vereinzele dich, um der Gemeinschaft willen

Die Ansage in Corona-Zeiten lautet: Vereinzelung, wo immer es geht. Ein christliches Kernanliegen ist aber, Menschen zusammenzubringen. Ein schönes Kinderlied bringt es auf den Punkt: „Einsam bist du klein, aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein.“ Nun ist richtig: Einsam bist du groß, einsam sind wir Anwalt des Lebendigen. Die Corona-Dialektik lautet: Vereinzele dich um der Gemeinschaft willen. Dialektik ist nicht einfach. Das zeigt sich schon sprachlich: Was neudeutsch als social distancing bezeichnet wird, meint eigentlich physical distancing, um der sozialen Nähe willen.

Die Corona-Dialektik gilt auch im Großen. Länder schotten sich zwar gegeneinander ab. Aber das Corona-Virus schafft zugleich eine weltweite Pandemie-Gemeinschaft. In China stecken sich ein paar Menschen an Wildtieren an (wenn das denn so stimmt), und ein paar Monate später erstirbt in Europa das gesellschaftliche Leben, während die Weltwirtschaft auf Talfahrt geht! Deutlicher geht es nicht: Wir leben in einer Welt, wir sind eine globale Schicksalsgemeinschaft. Unwillkürlich denkt man an das Bild des Apostels Paulus von dem einen Leib mit seinen vielen Gliedern (1. Korinther 12). Ob das künftig helfen wird, auch die globalen ökologischen Gefahren zu bannen? Wenn man in einem gemeinsamen Kraftakt Ansteckungskurven unter einen kritischen Grenzwert drücken kann, dann geht das doch auch bei der CO2-Belastung der Luft.

Schales Pathos

Globale Schicksalsgemeinschaft – ist das womöglich schon zu pathetisch? Der Ruf nach der großen Solidarität hat auch einen schalen, ideologie-verdächtigen Beigeschmack. Denn natürlich erleben diese Zeit nicht alle gleich. Quarantäne gestaltet sich schöner im Haus im Grünen als in einer engen Etagenwohnung. In Deutschland ist besser überleben als in den USA oder Tansania. Mit einer Festanstellung in einer öffentlichen Institution lässt sich leichter home-officen als in der Selbstständigkeit ohne Verdienst. Und eine reduzierte Dividende ist immer noch besser als Kurzarbeit. Denkt man Solidarität intergenerativ weiter, muss man die junge Generation bedauern, die die horrenden Schulden, die jetzt gemacht werden, abzutragen hat.

Manches Pathos ist aber echt und berechtigt: Zur neuen Schicksalsgemeinschaft gehört das DANKE-Sagen bei denen, die die Hauptlast und das Hauptrisiko tragen. In der Not zeigen viele ihr gutes Herz durch Hilfsbereitschaft und Einfühlungsvermögen. Für die einen sind das jetzt selbstverständliche Zeugnisse ihrer Humanität, für andere der Nächstenliebe als Zeugnis ihres Glaubens. Diesen Haltungen steht der rigorose Egoismus entgegen, der sich im peinlichen Horten von Klopapier und mancher Gedankenlosigkeit zeigt. Auch diese Krise beleuchtet das Panoptikum des Menschlichen.

„So Gott will und wir leben“

Das Corona-Jahr 2020 schreibt sich für immer in unzählige Biografien hinein: Pläne, die zum Teil langfristig und bedeutsam sind, fallen in sich zusammen. Urlaube, Geburtstagsfeiern, Taufen, Hochzeiten, Konfirmationen und sogar Beerdigungen fallen aus. Das meiste davon ist unwiederbringlich verloren. Sportturniere und Volksfeste werden abgesagt. Geschäftsabschlüsse platzen, Jobs gehen verloren, Existenzen fallen in sich zusammen. Für die heute Lebenden ist das ein bislang ungekannter Kontrollverlust. Das Leben ist nicht so sicher, wie es scheint. Wir leben von Voraussetzungen, die wir selbst nicht schaffen können. Die aktuelle Situation bietet die Chance, besser zu verstehen, wie sich die Menschen früher gefühlt haben müssen. Sie hatten ja mit noch viel mehr Gefahren und Unwägbarkeiten zu rechnen. Ihnen stellte sich deshalb auch die Frage nach Gott anders, vielleicht intensiver, jedenfalls existenzieller. Der Glaube an Gott bannt die Gefahren zwar nicht, aber zumindest ist er ein Strohhalm, ein Anknüpfungspunkt für Hoffnung. Das haben früher viele Menschen mit drei Buchstaben ausgedrückt. Unter ihre Pläne setzen sie „s.c.J.“. Diese Abkürzung steht für sub conditione Jacobea. Zu Deutsch: Unter der Bedingung des Jakobus. Das scJ geht auf den biblischen Brief des Jakobus zurück. Der warnt vor Selbstsicherheit beim Pläne-Schmieden und schließt die seinigen ab mit der Bemerkung: „So Gott will und wir leben“ (Jakobus 4,15) – eine demütige Einschränkung aller Pläne. Vielleicht erlebt sie nun eine Renaissance und mit ihr auch die Einsicht in die Unverfügbarkeit Gottes sowie in die Fragilität menschlicher Existenz.

Drei alte Bekannte

Das Corona-Virus ist zwar neu, aktiviert aber alte theologische Bekannte. Dazu gehört die Frage: Ist das Corona-Virus Gottes Werk? Wie verhalten sich in einer grausamen Welt Gottes Allmacht und Liebe zueinander? Auf diese Frage haben schon vor und nach Martin Luther viele Theologen keine wirklich schlüssige Antwort gefunden. Luther sprach poetisch von der dunklen Seite Gottes, die er nicht verstehe. Er empfahl, umso intensiver die Liebe Gottes herbei zu beten. Das Corona-Virus mag neu sein. Die Erfahrungen, dass das Leben voller Gefahren steckt und dass Gott im Kern ein Geheimnis bleibt, sind es nicht. Dies trifft auch auf die Schöpfung als Gottes Werk zu: Sie ist nicht nur wunderbar, wie manche romantisch verklären, sondern auch grausam. Und das nicht nur in Pandemie-Zeiten, sondern in ihrem Wesen und damit ständig.

Will uns Gott mit dem Virus etwas sagen?

Ein weiterer alter Bekannter ist das Bedürfnis, der Pandemie einen Sinn zu geben. Das führt zur Frage: Will uns Gott mit dem Virus etwas sagen? Etwa eine Zeit der Bewährung? Chance zur Läuterung? Strafe für Verfehlungen? Wendepunkt für einen bewussteren, ökologischeren Lebensstil? Solche Deutungen kann ich als persönliche Rezeption des Geschehens hinnehmen, nicht aber als objektivierte Ansage an die ganze Welt. Wenn es gut geht, können Opfer von schlimmen Erfahrungen daraus für sich einen Sinn finden. Aber eine Katastrophe hat in sich erst einmal keinen Sinn. Richtig schlimm wird es, wenn den Opfern von außen ein vermeintlicher Sinn abgefordert wird: Was hast du falsch gemacht? Lass dir dein Elend zum Guten dienen!

Ein dritter alter Bekannter ist die ethische Abwägung, bei der man sich immer die Hände schmutzig macht. Lange wurde sie bezüglich Corona nicht offen diskutiert. Da hieß es immer: Der Schutz von Menschenleben steht an vorderster Stelle. Die Wahrheit ist: Es muss abgewogen werden zwischen Infektions- und Todesrisiko, ökonomischen, psychologischen, sozialen, freiheitlichen und juristischen Schäden, die sich auch massiv auf das Leben von Menschen auswirken – bis hin zu Todesfällen. Dietrich Bonhoeffer hat dieses Dilemma am Beispiel des NS-Staates unvergleichlich reflektiert. In dieser Situation gab es für ihn keinen untadeligen Weg, nur ein Abwägen zwischen Schuld und Sünde. So entschied er sich mutig und voller Hingabe in Gottes Barmherzigkeit für den Weg, den er vor seinem Gewissen und vor Gott für verantwortbarer hielt: den Versuch des Tyrannenmords. In diesem Sinne ist beim Corona-Virus allen Verantwortlichen zu wünschen, dass ihnen dieses Dilemma bewusst ist und sie in der Prüfung ihres Gewissens und im Vertrauen auf Gottes Gnade abwägen und handeln können. Die Debatte darum ist offener geworden und das ist angemessen.

Glauben, Vernunft und Verantwortung

Nicht neu ist auch, dass sich religiöse Fundamentalisten aller Couleur blamieren: Orthodoxe Juden missachten Präventionsansagen des Staates und infizieren sich in großer Zahl. Evangelikale behaupten, echte Christen würden nicht krank. Orthodoxe Hardliner meinen, das Corona-Virus wegbeten oder austreiben zu können. Gott ist und bleibt auch für diese Gläubigen unverfügbar. Schon Luther wusste über die Einheit von Glauben, Vernunft und Verantwortung Besseres zu sagen. In seiner Schrift zur Bewältigung der Pest „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“ von 1527 schreibt er – modern transkribiert: „Denke also: Der Feind hat uns durch Gottes Verhängnis Gift und tödliches Geschmeiß hereingeschickt, so will ich bitten zu Gott, dass er uns gnädig sei und werde. Danach will ich auch räuchern, die Luft helfen zu fegen, Arznei geben und nehmen, meiden Stadt und Person“.

Bedeutung der analogen Welt, der Geschöpflichkeit

Abstand halten, Kontakt vermeiden, alleine bleiben – zum Glück gibt es Medien, Computer. Damit kann man seine Zeit verbringen. Damit kann man Kontakt halten – mit der Welt und mit seinen Lieben. Gut, dass es das gibt. Aber es ist nicht genug. Corona macht neu bewusst, wie wichtig neben den virtuellen Weiten die analoge Wirklichkeit ist. Wir brauchen Nähe: Händeschütteln, jemanden umarmen, küssen, auf die Schulter tippen. Dies gibt es in der digitalen Welt nicht, sondern nur in der analogen Welt. Diese Welt voller haptischer Erlebnisse macht uns unsere Geschöpflichkeit neu bewusst. Wir sind Geschöpfe, Geschöpfe Gottes.

Dazu gehört auch das Neuerleben des eigenen Körpers: Bedroht, hoffentlich stark. Bei Infektion macht sich darin der Feind breit. Man muss die Viren im eigenen Körper dulden. Das macht den eigenen Körper fremd und rückt ihn zugleich in den Fokus. Man erfährt den Wert des eigenen Körpers als Träger des Lebens intensiver. Körper-Seele-Geist sind eine Einheit.

Materialität im Abendmahl

Den Aspekt der Materialität trägt das Abendmahl in die liturgische Praxis ein. In den Elementen Brot und Wein, aber auch beim Händehalten im gemeinsamen Segenskreis gehen Haptik und Spiritualität ineinander über. Vor diesem Hintergrund ist auch die Corona-Dialektik von Nähe und Distanz ein alter Bekannter. Die Angst vor Ansteckung prägte schon vor Jahrzehnten die Debatten um Gemeinschafts- und Einzelkelch. Gemeinschaft ist ohne Risiko eben nicht zu haben – auch nicht die des Heiligen Geistes.

Nun stellt sich die Frage erneut und zugleich auch neu. Was bedeutet die Materialität des Abendmahls im digitalen Zeitalter? Unter dem Eindruck der Corona-Beschränkungen haben die Leitenden Geistlichen betont, dass das volle Evangelium auch im Wort zu erfahren ist – auch via Medien. Der Verzicht auf den realen Gottesdienstbesuch und auf das Abendmahl schmälere also nicht die Gottesnähe. Was spricht also genau dagegen, Menschen via Medien zur Teilnahme am Gottesdienst und am Abendmahl einzuladen oder ihnen gar zu zeigen, wie sie auch alleine zuhause das Erinnerungsmahl an die Erlösungstat Jesu Christi feiern können? Das mag einem fremd vorkommen. Aber die jungen Digital Natives definieren Realität und Virtualität, Materialität und Gemeinschaft längst anders als die Altvorderen.

Lehrstunde auch für die Kirchen

Der Schock ging tief: Ein Osterfest ohne Feiern! Das setzte in der Kirche einen vorher nicht für möglich zu haltenden Kreativschub frei. Bislang hatte sie ehern auf den personalen Direktkontakt gesetzt. Nur wenige Ausnahmen zeigten großes Interesse an digitalen Medien. Nun gingen viele in die elektronischen Medien, andere hängten Predigten an öffentliche Zäune und Wäscheleinen. Termine wurden zu Videokonferenzen. So kam auch in der Kirche der enorme Modernisierungsschub ins Digitale an. Auch hier gilt, was in anderen Bereichen der Gesellschaft geschieht: Corona beschleunigt Entwicklungen, die ohnehin schon im Gange waren. Die Zukunft der Kirchen wird wohl digitaler sein. Ärzte, Therapeutinnen, der Einzelhandel, Musiker – alle gehen ins Netz. Die Kirche auch. Das nagt allerdings an ihrer Struktur. Das Internet überspringt mühelos alte Parochialstrukturen, landeskirchliche und konfessionelle Grenzen sowie zeitliche Fixierungen – Online-Gottesdienste können immer und überall verfügbar sein. Muss es überall an jedem Sonntag Gottesdienste geben, auch wenn nur wenige kommen? Bislang durfte man das nicht in Frage stellen. Nun haben wir erlebt: Es geht. Es geht auch anders.

Nichtstun als Sinnverlust und Chance

(Viel-) Beschäftigte wünschen sich oft, morgens einfach zuhause bleiben zu können, statt zur Arbeit zu fahren. Das wird für viele, die unter Quarantäne stehen, jetzt wahr. Betroffene merken dabei aber schnell, wie wichtig es ist, eine Arbeit zu haben, einen Grund zu haben das Haus zu verlassen, Kolleg*innen zu treffen und etwas Sinnvolles zu tun. Man spürt dabei an sich selbst: Arbeitslos sein ist nicht Freihaben, sondern Sich-nutzlos-Fühlen. Doch das plötzliche Mehr-Zeit-Haben eröffnet auch die Chance sich anders zu erleben, sich mit etwas zu beschäftigen, was bislang zu kurz kam. Eine Chance zu geistlicher Besinnung und intensiver zu leben.

Gottvertrauen im freien Fall

Mehr freie Zeit – das ist alles andere als beschaulich. Wenn oben kurz von der Weltwirtschaft die Rede war, so klingt das nach einem abstrakten, fernen Irgendwas. Doch zu dieser Weltwirtschaft gehören auch die Gaststätten an der Ecke, Unternehmensberater*innen, Handelsvertreter*innen, Fitness- und Nagelstudios und viele mehr, die nun nichts verdienen können, aber weiterhin ihre Miete zahlen müssen. Unser Wirtschaftssystem ist auf die Perfektionierung des Normalfalls ausgelegt. Wie kommt es mit einer solchen Ausnahmesituation zurecht? Ich bin gespannt. Mir scheint: Gerade fährt eine hochkomplexe Welt mit verbundenen Augen auf Sicht. Woher da Zuversicht nehmen? Im freien Fall der Sicherheit steigt das Gottvertrauen sprunghaft an – hoffentlich. Glauben kann eine Quelle der Zuversicht sein. Davon berichten starke Bilder aus der Bibel. Manche hat man schon so oft gehört, dass man sie kaum noch hören konnte. Nun entfachen sie wieder die Kraft, die ihnen innewohnt:

Der HERR ist mein Hirte,
mir wird nichts mangeln.
Er weidet mich auf einer grünen Aue
und führet mich zum frischen Wasser.
Er erquicket meine Seele.
Er führet mich auf rechter Straße
um seines Namens willen.
Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück;
denn du bist bei mir,
dein Stecken und Stab trösten mich.
(Psalm 23)

Ausblick: Wird alles ganz anders?

Fahren wir gerade nur durch einen finsteren Corona-Tunnel, dessen Licht am Ende uns wieder das alte Normal zurückbringt? Oder verändert Corona die Welt für immer? Manche behaupten das: Weniger materialistisch, achtsamer, ökologischer, spiritueller. Diese Hoffnungen haben fast schon die Qualität einer Umkehr, wie sie Johannes der Täufer forderte und in seiner Nachfolge auch Jesus predigte: „Kehrt um und glaubt an das Evangelium?“ Schön wäre das. Doch Corona ist nicht die erste und wird wohl auch nicht die letzte Pandemie sein. So scheint mir die gegenwärtige Zeit mit Corona nicht mehr zu sein als eine, wenn auch besondere, Phase der Menschheitsgeschichte, deren Normalität sich ohnehin andauernd verändert. Insofern: Ja, Corona verändert etwas. Den Menschen selbst aber wohl eher nicht. Man darf gespannt sein.

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