Mehr Narrenfreiheit Bibel und Bild

Zu dieser Botschaft bekenne ich mich offen und ohne mich zu schämen, denn das Evangelium ist die Kraft Gottes, die jedem, der glaubt, Rettung bringt. (Römer 1,16)

Wochentags schleicht er heimlich durch unseren Stadtteil und klebt kryptische Botschaften an Verkehrsschilder. Aber samstags, da outet er sich. Zur besten Einkaufszeit radelt unser Stadteilprophet mit seinem Kofferradio auf den Wochenmarkt, fängt an zu predigen und schwenkt ein Plakat. „Jesus ist der Retter“, steht darauf. Sein lautes Bekenntnis verhallt ohne Interesse und Zustimmung. Die meisten wenden sich ab. Manche tippen sich an die Stirn. Und die warm eingepackten Marktleute wundern sich eher über seine nackten Füße im Winter als über seine frommen Worte am falschen Ort, zu falscher Zeit und mit überholten Mitteln.

Wer sich als Christin oder Christ zu erkennen gibt, erntet auch ohne solch einen ausgefallenen Auftritt immer mal wieder Augenrollen oder mitleidiges Lächeln. Weil Glaube als unzeitgemäß gilt und die Kirche als Verein von Lebensfremden? Oder weil man ihrem Personal nicht mehr vertraut? Damit möchten viele besser nicht mehr in Verbindung gebracht werden. So erkläre ich es mir, dass viele Interviewpartner im Radio oft bekräftigen, zwar die großen christlichen Feste noch zu feiern, aber keineswegs mehr religiös zu sein.

Auch auf Instagram arbeiten sich besonders junge Theologinnen und Theologen an dieser wachsenden Abwehr und Verachtung ab. Ihre Taktik: Offensiv zeigen, dass sie selbst zur Zielgruppe gehören. Da wird im Studioklo geplaudert, höchst Privates erzählt oder die Tagesform des Katers zum Besten gegeben. Weil gemeinsame Vorlieben und Erfahrungen ja Vertrauen schaffen und jedem Bekenntnis voraus gehen müssen. Alte Medienregel: Bloß kein frommer Überfall! Die digitale Fangemeinde nickt per Click.

Bereits im Urchristentum war es heikel, manchmal sogar lebensgefährlich, vom Glauben zu erzählen. Damals war der Glaube an ein höheres Wesen zwar noch selbstverständlich, aber dieses Wesen hatte, bitte sehr, schön und stark zu sein. Einen als Verbrecher Gekreuzigten als Gott zu verehren, war absurd – Provokation oder Eselei. Sein Anblick, und sei es auch nur im Kopfkino, löste Fluchtreflexe, Ekel und Aggressionen aus. Der Apostel Paulus riskierte es trotzdem. Von Glaubensscham keine Spur. Weil er Jesu Kreuz umdeutete, nachdem ihm der Auferstandene erschienen war. Der da hing, war kein Gotteslästerer, sondern Gott selbst, der sich ganz und gar mit seinen Geschöpfen identifizierte. Selbst wenn sie litten oder schuldig geworden waren.

Auch Jesus deute um. Er schaute Paulus, den brutalen Christenverfolger, gütig an und erwählte ihn sogar zu seinem Werkzeug. Paulus sollte fortan Jesu „Influencer“ sein und seinen Namen in alle Welt tragen. Ob Jesu Wahl zielgruppengerecht war, spielte in diesem Moment keine Rolle. Jesus traute Paulus das mutige und freie Wort zu. Darauf kam es an.

Auch unser seltsamer Heiliger vom Wochenmarkt lebt schon lange in dieser Freiheit. Er wirkt erhaben darüber, was andere von ihm denken. Für seine Performance wird er wohl niemals Applaus bekommen. Aber seine mutige „Narrenfreiheit“ beeindruckt mich.

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