Mit dem Transrapid durch Shanghai Reiseerfahrungen mit dem alten und dem neuen China

Wer als kirchlicher Mitarbeiter ins Land kommt, ist in China von vornherein verdächtig. Doch trotz der massiven Kontrolle und Überwachung lassen sich überraschende persönliche Erfahrungen machen. Schon nach zehn Tagen versteht man besser, was die Gesellschaft im Reich der Mitte antreibt.

In China musste ich öfter an meine schon lange verstorbene Großmutter denken: „Ordnung ist das halbe Leben“, war eine ihrer Weisheiten, die sie mir mit auf meinen Weg gab. In China schien mir Ordnung und Kontrolle fast das ganze öffentliche Leben auszumachen. Schon die Visumbeantragung machte mir klar, dass ich den Behörden als potentieller Störenfried galt. Gerade mal zehn Tage Aufenthaltszeit gewährte man mir – weil ich als Mitarbeiter einer ausländischen religiösen Macht unter Verdacht stand. Und die zehn Tage auch nur, nachdem ich und auch meine Kirche schriftlich zugesichert hatten, dass ich in keiner Weise missionarisch aktiv sein würde.

Die neue technologische Weltmacht

Am Flughafen in Shanghai orientierte ich mich zielstrebig in Richtung „Maglev“, auf die Fahrt mit „unserem“ Transrapid war ich richtig gespannt. Zahlreiche Ordnungskräfte in Uniformen wiesen mir mit heftigen Hand- und Armbewegungen an, wo ich mich anzustellen hatte. Auf dem Bahnsteig des Hochgeschwindigkeitszuges aus Deutschland kam ich mit einem Chinesen ins Gespräch. Er fragte mich scheinheilig: „Der fährt doch auch bei euch, oder?“ Was er mir durch die Blume sagen wollte: Ihr habt ihn gebaut, aber nicht auf die Schiene gebracht; ihr seid gescheitert, wir Chinesen haben das geschafft; ihr im Westen seid die alte Weltmacht – wir sind die neue.

Zwei Minuten vor Abfahrt schloss der Zug, wer zu spät kam, blieb draußen. Auf die Minute geht es los. Die Beschleunigung bis 150 Stundenkilometer kannte ich vom ICE, 250 auch noch, dann 300 – wir flogen an den Fahrzeugen auf der Autobahn vorbei. Ich stellte mich in den Gang, um das heftige Vibrieren des ganzen Zuges bei 431 km/h zu erleben – halb so schnell wie ein Flugzeug. Er legte sich in die Kurve wie die Alpina-Bahn auf dem Bremer Freimarkt.

Pfarrerin Dr. Annette Mehlhorn wagt sich an manchen Tagen nur mit Schutzmaske aus dem Hochhaus (Shanghai). Foto: Volker Keller

Vor dem Bahnhof zeigte ich einem Taxifahrer chinesische Schriftzeichen, die Adresse der Pfarrerin der deutschen-evangelischen Kirchengemeinde, meiner Gastgeberin. Er tippte die Straße in seinen Bordcomputer ein und fuhr mich mit starker Beschleunigung und ganz leise durch den Großstadtverkehr. Sein Auto steht für Zukunft, für die Zukunft des Elektromotors. In keinem anderen Land der Welt habe ich so viele E-Fahrzeuge gesehen, kein einziges Moped hat noch einen Verbrennungsmotor. China ist Spitze – und Diesel-Deutschland? Eine technologische Großmacht im Abgang.

Ordnung und Sicherheit gehen über alles

Der deutsche MAN-Ingenieur, der regelmäßig die Gottesdienste in der Kirche All Saints besucht, lässt sich beeindrucken vom Schwung, vom Optimismus der Chinesen. Er fühlt sich in China wie früher zu Hause in der DDR: In der Kirche hängt an einer antiken Säule eine Kamera. In ihrer Predigt zeigte Annette Mehlhorn auf den „Großen Bruder“, der mit sehe und mithöre, sie meinte den kommunistischen Staat.

Überall in der Stadt blickt man in Kameras und in Kontrollpupillen unzählbarer Polizisten und Wachmänner. Den normalen Chinesen scheint das nicht zu stören. Ordnung und Sicherheit gehen ihm über alles, die Störung der öffentlichen Ordnung empfindet er als bedrohlich. Staatsphilosoph Konfuzius lehrt nichts anderes: Gesellschaftliche Harmonie entsteht dann, wenn jeder seine Stellung und seine Pflichten in einer hierarchischen Ordnung einhält, wenn sich der Sohn dem Vater, der Angestellte dem Chef und der Bürger dem Staat unterordnet. Als ich fast zu spät zu meiner gebuchten Rundfahrt auf dem Shanghaier Stadtfluss kam, wollte ich eine mir sinnlos erscheinende Absperrung umgehen, um schneller aufs Schiff zu kommen – und löste Turbulenzen beim Personal aus und erntete misstrauische Blicke der Einheimischen. Schon klar: Ordnung ist das halbe Leben oder sogar noch mehr.

Im Visier chinesischer Frauen

Nach meiner kleinen Kreuzfahrt auf dem Huangpu, es ging vorbei an den Wolkenkratzern des Weltfinanzzentrums im Viertel Pudong, verbrachte ich den Abend am Bund, auf der Bummelpromenade am Flussufer. Mir wurde schnell bewusst, dass ein einzelner Mann für Chinesinnen einsam erscheinen muss und ihrer Meinung nach dringend Hilfe braucht. Im besten Englisch sprach mich eine höfliche, gut aussehende Dame in konservativer Kleidung an. Ich freute mich über ihr Interesse an meinem Herkunftsland und über meine Lebenseinstellung.

Von der circa 30-jährigen Frau mit langen schwarzen Haaren erfuhr ich, wie hart das Leben in der Stadt sei. Um die Miete bezahlen zu können, bräuchte man zwei Jobs. Und wenn die alten Eltern dann noch krank würden und eine teure Behandlung nötig wäre, ginge das an die Grenze der Belastbarkeit. Aber es würde ja alles von Jahr zu Jahr besser, der Wohlstand wachse. Da tauchte er wieder auf, der Optimismus. Und dann erfuhr ich, was sie als zweiten Job machte – sie bot mir eine Massage an. Ich lehnte ab – was sie nicht verstand: „Du bist doch allein, das ist doch nicht schön.“ Auch die zweite, dritte, vierte gepflegte Dame verstand nicht, dass ich gerne allein fremde Städte erkunde. Verbotene Prostitution unter den Augen der Polizei? Bei Ausländern gilt die Ordnung nicht, wehe aber ein chinesischer Mann wird unsittlich angesprochen.

„Von Jahr zu Jahr wird alles besser…“

Die Pfarrerin erzählte mir von mancher gerissenen jungen chinesischen Frau, angestellt in einer deutschen Firma, die sich zum Ziel setzt, ihren Chef rumzukriegen. Weniger aus Liebe: Gelingt es ihr, hat sie ausgesorgt und kann ihre Eltern versorgen. Annette Mehlhorn hat schon einige deutsche Familien in solcher Lage begleitet. „Wären wir bloß nie nach Shanghai gegangen“, resignierte eine von ihrem Mann verlassene Ehefrau.

Mitlaufen, mitfließen, wegschauen

Von der Promenade ging ich durch die Nankingstraße mit vielen teuren Geschäften. Die Ohren taten mir bald weh, weil Polizisten mit ihren grellen Trillerpfeifen die Fußgänger auf den überfüllten Bürgersteigen leiteten. Wehe, einer trat auf die Straße. Einfach mitlaufen, mitfließen, anders ging es gar nicht, keinen Widerstand leisten, keine Abweichung von der Ordnung. Genau das lehrte ja auch der zweite große Philosoph Chinas, Laotse: „Geh nicht gegen die natürliche Ordnung der Dinge an, vergeude keine Kraft! Sieh, das Wasser, es schlängelt sich an den Hindernissen vorbei. Es will nicht aufwärts fließen, sondern nutzt den Schwung des abschüssigen Weges.“

Religion hat keinen hohen Stellenwert für Chinesen. Manche bitte den Happy Buddha um Glück (Foto: Volker Keller).

Ohne große Anstrengung erreichte ich die tief unten liegende Metrostation. Alle drei Minuten raste ein Zug in den Bahnhof, einen Sitzplatz bekam ich trotzdem nie – so voll war er. Auf einmal fiel ein Mann um und war ohnmächtig. Alle Mitfahrenden wichen zu Seite, guckten verdutzt ohne Anstalten zu machen, etwas zu tun. Der Mann rappelte sich aus eigener Kraft wieder auf. Als Deutscher schimpfte ich in mich hinein und beklage Gleichgültigkeit. Aber so einfach lässt sich das Phänomen nicht erklären. In ihren Vorbereitungskursen lernen Mitarbeiter deutscher Firmen, die nach China gehen sollen, dass sie auf keinen Fall Hilfe leisten sollen. Dadurch würden sie nämlich in eine Art verwandtschaftliche Beziehung zum Verunglückten treten und der dürfte nach chinesischem Recht Ansprüche auf weitergehende Unterstützung erheben – auf Geld für seine ärztliche Behandlung zum Beispiel. Also schön weggucken oder einfach die Augen zumachen, als ob man schliefe und nichts mitbekäme. So wie die Chinesen, die überall in der Stadt in tiefen Kurzschlaf fallen, sogar im Café eine Mutter mit Kind.

Verunglückten Menschen auf keinen Fall Hilfe leisten.

Ein anderer Schnellzug sollte mich in guten vier Stunden nach Peking, in die Hauptstadt bringen. Nach zahlreichen Pass- und Gepäckkontrollen wie an einem Flughafen bestieg ich den Fuxing. Auf die Minute fuhr er los und kam pünktlich an. Unzählige Hinweise durch Lautsprecher bestimmten, was während der Fahrt zu tun und zu lassen war. Sorgsam mit der Waggoneinrichtung umzugehen, war einer. Da sollte mal jemand wagen, seine Füße mit dreckigen Schuhen auf das Sitzpolster zu stellen…

Wie wird die Zukunft schmecken?

in der berühmten Esstraße im Viertel Wafuying/Peking gibt es Köstlichkeiten am Spieß, hier vor dem Frittieren (Foto: Volker Keller).

Mein Hotel bezog ich im Stadtteil Wangfujing, nicht weit entfernt von der berühmten Straße der Leckereien. Man geht durch ein buntes Tor und augenblicklich überfällt den Besucher Appetit. Ich fragte mich, was ich denn probieren wollte. Vielleicht die aufgespießten Käfer, die noch zappelten. Ein Koch deutete mir an, dass sie ja nicht roh gegessen werden müssten, sondern frittiert würden. So eine Art chinesische Pommes könnte man sagen. Oder doch eher die knusprigen Skorpione? Oder die Heuschrecken, Maden oder Würmer?

Ich entschied mich für die Heuschrecken und bestellte eine kleine Portion. Von Experten aus meinem Land wusste ich, wie eiweißhaltig Heuschrecken sind und dass sie Hauptbestandteil der Ernährung der Zukunft werden könnten. Wie wird die Zukunft also schmecken? Eine kleine Unsicherheit verzögerte den ersten Biss, aber dann knackte es schon zwischen den Zähnen. Ich hatte Heuschrecke in Chili bestellt und schmeckte eigentlich nur Schärfe. Dschungelcamp mitten in der Stadt – China ist anders.

Die Wiedergeburt des alten Reiches

Gegenüber dem riesigen Kaiserpalast in der Verbotenen Stadt mit seinen angeblich 999 Gebäuden wirkt der Buckingham Palast wie der Dienstsitz eines Ortsvorstehers. Wer den Palast besucht, bekommt einen Eindruck von der vergangenen Größe Chinas und versteht, was Präsident Xi antreibt – die Wiedergeburt des Reichs in der Mitte der Welt.

Die Leistung dieses Landes erscheint nahezu unüberbietbar. Seit 1978, in nur vierzig Jahren, hat China eine Entwicklung vom Entwicklungsland zum Industrie- und Hochtechnologieland vollbracht, nimmt heute den Rang der größten Handelsnation der Welt ein. Die Kommunistische Partei hält mit Überwachung und Strenge die 1,4 Milliarden Menschen in 55 Volksgruppen (Han, Tibeter, Mongolen, Uiguren…) zusammen – Rebellion würde den Aufschwung gefährden.

„Den Wind fangen“

Am frühen Morgen machte ich mich auf in den nächstgelegenen Stadtpark, um das traditionelle China zu erleben. Es herrschte schon eifriger Betrieb. Ich beobachtete eine Gruppe älterer Männer und Frauen und versuchte mich dann selbst in Qi Gong. Ein Chinese kam zu mir und wies mir höflich einen Platz zwischen den Anderen an. Er nahm meine Hand und führte sie in einem weiten Bogen hoch und oben von rechts nach links und wieder runter – „den Wind fangen“. Dazu sollte ich tief ein- und ausatmen. Ich fand mich eingeordnet – in Reihe und Glied. Wir bewegten uns alle gleich – was für ein harmonisches Bild. Machte ich etwas falsch, amüsierten sie sich über mich. Der Große Bruder schaute nicht zu – dort jedenfalls nicht.

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