Muss Recht und Redlichkeit erst untergehen? Reformation und Kapitalismus - 3 Plus 7 Fragen an Ulrich Duchrow

Mit 95 Thesen gegen die Herrschaft der Finanzmärkte will ein Autorenbündnis die Diskussion um die Weltwirtschaftsordnung neu entfachen. Der Heidelberger Sozialethiker Ulrich Duchrow im Interview über Zwang zum Wachstum, Systemkritik und Datenkapitalismus.

Theologie ist Konfliktwissenschaft. Weil das so ist, kann nicht verwundern, wenn in Kirche und Gesellschaft, auch in Staaten und der Wirtschaft, selbst an Stammtischen und in Redaktionen über deren Aussagen gerungen wird. Manchmal sogar zustimmend. Manchmal auch nur in Übereinstimmung mit Teilwahrheiten.

Am 23. April 2017 fand ein bemerkenswertes Ereignis vor der Schlosskirche in Wittenberg statt. Begleitet von Lutherliedern, vorgetragen durch Barbara Thalheim, wurden 95 Thesen an die Tür einer deutschen Bankfiliale angebracht. Ein breites Bündnis von Unterzeichnern hat sich zusammengetan, das von Frieder Otto Wolf, Präsident des Humanistischen Verbandes Deutschland, über den Theologen Eugen Drewermann, den Schauspieler Peter Sodann bis zum Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow reicht. Das Ankleben der bewusst schlichten DIN-A4-Zettel übernahm medienwirksam Gregor Gysi (Die Linke). Die 95 Thesen gegen das Bankenwesen verlangen eine Umgestaltung des Finanzkapitalismus.

Eine Luther-Linke-Alliance?

„Das Finanzsystem ist außer Kontrolle“, steht da zu lesen (These 8). Menschen brauchen wie zu Luthers Zeiten wieder eine Hoffnung und realistische Zuversicht (These 91 und 92). Demokratische Politik soll wieder Kontrolle über Märkte und Akteure erhalten (These 54). „Die acht reichsten Männer der Erde besitzen ebenso viel wie die 3,6 Milliarden der armen Hälfte der Menschheit. Eine Umkehr, eine Reformation ist nötig“ (aus These 1).

Das Papier schildert nach den Eingangsthesen den analysierten Status quo, benennt Prinzipien für eine Neuordnung (das Finanzsystem soll der Realwirtschaft und Gesellschaft dienen) und leitet daraus einige Schlüsselreformen ab. Dazu zählen: eine Schuldenbremse, die Reglementierung von Schattenbanken, Kapitalverkehrskontrollen, u.a.m.

Ist das die Ankündigung einer Luther-Linke-Alliance? Wer weiß? Sicher jedenfalls der Beginn eines neuen Luther-Linke-Diskurses, der seit jeher ja schon dadurch existiert, dass sich Karl Marx im Kapital eingehend auf Luther bezieht.

Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden

Einer der Mitverfasser des Papiers ist Ulrich Duchrow. Er ist schon seit Jahrzehnten als Kritiker einer neoliberalen Wirtschaft profiliert. Eine Arbeit zur Gesellschaftstheorie des Reformators markierte den Anfang der akademischen Laufbahn. 2017 erschien: Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden (VSA Verlag / Publik-Forum, Hamburg u. Frankfurt/Main 2017). In dieser Flugschrift bietet Duchrow eine überraschend einleuchtende Parallelisierung von Marx und Luther. Auf knapp zehn Seiten (S. 36ff) erhält man nebenbei ein exzellentes Summary lutherischer Eckpunkte zu konkreten Wirtschaftsfragen. Luther wendet sich u.a. gegen:

  • Termingeschäfte
  • Spekulatives Ausnutzen von Knappheit in einer Notlage
  • Monopolbildung durch künstliche Verknappung
  • Dumpingpreise
  • Leerverkäufe
  • Kartellbildung

Liest man Luthers Vorschläge mit den Augen des 20./21. Jahrhunderts, wird schnell klar: Das sind die Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Denn Luther bläut die Sozialverantwortung der damaligen Territorialherren für ihre Bürger ein, unterstützt regulatorische Eingriffe des Staates in die Wirtschaft, und dringt gleichzeitig auf eine gerechte Gestaltung des „offenen freien Markts“.

Andererseits fragt man sich, inwieweit Luther, der ansonsten viel vom gesparten Pfennig hält, im Papier als Gewährsmann gegen „Austerität“ (Sparpolitik des Staates) geradestehen muss? Doch jedenfalls ist mit diesem sowie anderen aktuellen Beiträgen z.B. von W. Stierle, H. Bedford-Strohm, T. Jähnichen und mehreren Beitragsreihen der Stiftung Sozialer Protestantismus eine wichtige wirtschaftsethische Komponente für die Feier jeden Reformationstages in den Blick gerückt: Die Reformation bietet auch in dieser Hinsicht einen guten Denk- und Feiertags-Anlass.

1. Herr Professor Duchrow, „Finanzmärkte sind ein öffentliches Gut“, heißt es in den 95 Thesen zum Bankenwesen. Warum ist das so?

Es geht hier um eine der zentralen Fehlentwicklungen der Geldwirtschaft. Geld ist einerseits ein unverzichtbares Instrument in einer arbeitsteiligen Gesellschaft – als Tausch- und Zahlungsmittel zum Beispiel. Schon in der Antike wird aber aus dem Instrument ein Zweck gemacht: aus Geld soll mehr Geld gemacht werden – z.B. durch Zins. Seit dem Mittelalter im Frühkapitalismus wird daraus ein Zwang, ein Mechanismus gemacht: aus Geld muss mehr Geld werden. Das nennt man Kapital, zunächst Kaufmanns- und Wucherkapital, dann Industriekapital.

Das Finanzsystem ist außer Kontrolle.

Im heutigen Finanzkapitalismus wird dieser Wachstumszwang auf die Spitze getrieben durch spekulative Finanzinstrumente. Das fördert der Staat einerseits durch Deregulierung und Liberalisierung der privaten Gewinne, andererseits durch Sozialisierung der Verluste des privaten Kapitals wie in der letzten Finanzkrise. So sind die Finanzmärkte bereits öffentlich – aber im Interesse des privaten Kapitals, nicht der Mehrheit der Menschen und der Erde. Der Finanzkapitalismus treibt die Renditeforderungen in die Höhe, so dass die Realwirtschaft gezwungen wird, an Arbeits- und Umweltkosten zu sparen.

Schon in der Antike reagierten Religionen und Philosophie kritisch mit Zinsverboten usw. Heute muss Geld- und Finanzsystem öffentliches Gut in dem Sinn werden, dass der Staat es sozial-ökologisch reguliert, damit der vom Kapital erzeugte Wachstumszwang nicht mehr die Erde zerstört und die Gesellschaft spaltet.

1.1 Luther forderte „Man müsste dem Fugger und dergleichen Gesellschaft einen Zaum ins Maul legen“ (These 51) und wandte sich gegen Monopolbildung oder Preisdumping am Markt.

Luther geht sogar noch weiter. Im Großen Katechismus bei der Auslegung von „Du sollst nicht stehlen“ nennt er die länderübergreifenden Bank- und Handelsgesellschaften wie die Fugger (die Vorläufer der heutigen transnationalen Banken und Konzerne) „Erzdiebe“. Er sieht in dem entstehenden frühkapitalistischen Marktsystem insgesamt ein Raubsystem:

Denn es sol nicht allein gestolen heissen, das man kasten und taschen reumet, sondern umb sich greiffen auff den marckt… wo man hantieret, gelt umb wahre oder arbeit nimpt und gibt… Summa das ist das gemeinste handwerck und die groste zunfft auff erden, und wenn man die welt itzt durch alle stende ansihet, so ist sie nicht anders denn ein grosser, weitter stall vol grosser diebe.”

1.2 Einer der jüngsten Versuche zur systemischen Regulierung von Wirtschaftsprozessen ist die „Soziale Marktwirtschaft“ – mit oder ohne Erfolg?

Die Soziale Marktwirtschaft nach dem Krieg beruhte auf mehreren historischen Bedingungen: 1. in der damaligen „fordistischen“ Wirtschaft brauchte das Kapital hohe Löhne, um die Massenproduktion abzusetzen. Dadurch hatten auch die Gewerkschaften starke Verhandlungsmacht. 2. Durch den Konkurrenzdruck der sozialistischen Länder durfte der Kapitalismus nicht zu unsozial erscheinen. 3. Maximales Wachstum war möglich, damals bis zu 7%.

Alle diese historischen Bedingungen gibt es seit den 1980er Jahren nicht mehr. Unter den neoliberalen Bedingungen seither ist die sog. „Neue soziale Marktwirtschaft“ eine bewusste Irreführung, weil es sich faktisch um eine „Sozialabbau-Marktwirtschaft“ handelt.

2. Bitte erklären Sie uns, wie nach Ihrer Analyse Staatsverschuldung, EZB-Politik und der Vorrang gewählter Regierungen gegenüber der Finanzwirtschaft zusammenhängen.

Der erste Grund für Staatsverschuldung hat nichts mit der EZB zu tun, sondern mit falscher Steuer- und Ausgabenpolitik. Hätten wir noch wie nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent progressive Steuern (also mit steigendem Reichtum mehr Steuern) inklusive Steuern auf Kapitalerträge, ermöglicht durch Kapitalverkehrskontrollen, gäbe es einen Grund weniger für Staatsverschuldung.

Heute liegt fast die gesamte Steuerlast auf der Arbeit statt auf Kapital und Naturverbrauch und außerdem wird durch die Deregulierung der Finanzmärkte die Steuervermeidung in Steuerparadiesen usw. befördert. Bei der Ausgabenpolitik ist es vor allem die Rüstung, die irrsinnige Gelder verschlingt, aber auch Subventionen aller Art.

Die EZB kommt zusätzlich ins Spiel, weil sie die monetaristische Geldpolitik der Bundesbank (und auch der US-Notenbank nach 1979) übernommen hat. Dadurch wird den Finanzmärkten freie Hand gelassen, ihre Renditeforderungen hochzuschrauben (und Steuervermeidung zu treiben), während den Bevölkerungen Spar- und Austeritätspolitikprogramme aufgezwungen werden. Gewählte Regierungen müssten demgegenüber durch Regulierung der Finanzmärkte gemeinwohlorientierte Politik betreiben.

2.1 Die 95 Thesen gegen das Bankenwesen wenden sich gegen die „Herrschaft der Finanzmärkte“. Zu den Unterzeichnern gehören Persönlichkeiten wie Christoph Butterwegge, Rudolf Hickel, Gregor Gysi. Wie ist die Kooperation denn zustande gekommen? Ist eine weitere Zusammenarbeit geplant?

Die Initiatoren sind André und Micha Brie, sodann Peter Wahl. Sie haben Personen angesprochen, von denen sie annahmen, diese hätten zu den Fragen etwas zu sagen – mich z.B., weil ich das internationale Projekt „Die Reformation radikalisieren“ koordiniert habe. Ob sie Weiterarbeit planen, ist mir unbekannt. Ich habe weitergearbeitet mit der Flugschrift „Mit Luther, Marx und Papst den Kapitalismus überwinden“.

2.2 Die Fugger konnten seinerzeit Kaiser Karl V. erpressen und so ein Gesetz gegen Monopolbildung verhindern. Gegen solches „Netzwerken“ war also schon damals kein Kraut gewachsen?

Dem Fugger und dergleichen einen Zaum ins Maul legen.

In „Von Kaufshandlung und Wucher“ fordert Luther strenge Gesetze der Obrigkeit gegen die „Gesellschaften“, sieht aber, dass die politischen Institutionen „Kopf und Teil dran“ haben, d.h. die Fürsten sieht er als „der Diebe Gesellen“. Darum fordert er, die Bank- und Handelsgesellschaften zu boykottieren und sie als Speerspitze des frühkapitalistischen Systems abzuschaffen: „Darumb darff niemant fragen, wie er muge mit guetem gewissen ynn den gesellschafften seyn. Keyn ander rad ist Denn: Las Abe, Da wird nicht anders aus. Sollen die gesellschafften bleyben, so mus recht und redlickeyt untergehen. Soll recht und redlickeyt bleyben, so mussen die gesellschafften unter gehen.”

2.3 Verändert sich die Situation eigentlich grundsätzlich durch den neuen Datenkapitalismus?

Nein, sie verschärft sich. Sie erzeugt noch mehr Druck auf die Arbeitenden. Die einzige positive Perspektive ist das Aufkommen der „Commons“ in diesem Bereich, das sind Gemeinschaftsgüter und -dienstleistungen wie z.B. freie Betriebssysteme (Linux), Softwareprogramme (Open Office, Thunderbird usw.). Denn dadurch wird der Druck auf Privatisierung der Grundversorgungsgüter und -dienstleistungen wie Wasser, Energie, Transport, Gesundheit, Bildung und eben informationelle Infrastrukturen gebrochen. Dieser Druck entsteht, weil das viele überschüssige Kapital verzweifelt nach profitablen Anlagemöglichkeiten sucht.

3. Wie lässt sich den Wirtschaftseliten verständlich machen, dass es nicht zu deren Nachteil, sondern zu einem gedeihlichen Wirtschaften für sämtliche Beteiligten führt, wenn dem Finanzkapitalismus Zügel angelegt und verbindliche Spielregeln vereinbart werden?

Gar nicht – weil betriebswirtschaftlich nur die Rendite zählt. Außerdem müssen nicht nur dem Finanzkapital Zügel angelegt werden, sondern der Kapitalismus als solcher muss überwunden werden. Denn, wie gesagt, Kapital ist dadurch definiert, dass es wachsen muss. Das erzeugt den Wachstumszwang der Wirtschaft. Dieser zerstört aber die zukünftigen natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit.

Diese Überwindung des Kapitalismus wird aber nur möglich sein, wenn wachsende Zahlen von Menschen unter dem Eindruck zunehmender Katastrophen bereit werden, Druck auf die Politik ausüben, die langfristigen Interessen der Menschheit über die kurzfristigen Interessen des Kapitals zu stellen – und außerdem verstehen lernen, dass nicht ein Maximum, sondern ein Optimum die höchste Lebensqualität bietet.

3.1 Wenn es unrealistisch scheint, dass großflächig die individuelle Gewinnsucht besserer Einsicht weicht, wäre nicht vielleicht doch ein (optimierter) Ansatz wie die Soziale Marktwirtschaft als Regelwerk zielführend, um wenigstens „im Reich des Zwanges“ eine Verbesserung zu erreichen?

Wie bereits gesagt, sind die historischen Bedingungen für die klassische Soziale Marktwirtschaft, die auch diesen Namen verdient, nicht mehr gegeben. Insbesondere maximales Wachstum ist aus ökologischen Gründen, vor allem wegen der Klimakatastrophe nicht mehr möglich. Deshalb kann nur die Überwindung des Kapitalismus helfen. Denn der Wachstumszwang wird dadurch erzeugt, dass Kapital gerade nicht einfach Geld bedeutet, sondern Vermögen, das investiert werden muss, um mehr Geld zu erwirtschaften. Freilich wird die Postwachstumswirtschaft nicht von heute auf morgen erreicht werden können. Darum sind auch soziale Verbesserungen im kapitalistischen System zu begrüßen.

3.2 Könnte es also sein, dass es – theologisch gesprochen – vor neuen Verhältnissen zuerst „neue Menschen“ braucht?

Hier kann es nicht um erst-dann gehen, sondern nur um ein gleichzeitig. Eine solidarische und kooperative Wirtschaft erfordert und bildet solidarische und kooperative Menschen. Eigentlich müssten Menschen mit Vernunft begreifen, dass leben und arbeiten in guten zwischenmenschlichen Beziehungen viel attraktiver ist als der Krieg aller gegen alle, wie ihn der Kapitalismus braucht und fördert. Aber die ideologische Macht des herrschenden Systems sitzt tief in den Menschen drin und ist zur Gewohnheit geworden. Darum wird das Lernen vermutlich nur über die Erfahrung von Katastrophen fortschreiten, die unvermeidlich sind, wenn das imperial kapitalistische System weiterhin in Geltung bleibt. Aber man kann sich auch aus der geistlichen Kraft des Evangeliums und durch praktische Erfahrung aus diesen Zwängen befreien (lassen), wie wir in einem interdisziplinären Team von Psychologen und Theologen gezeigt haben.

Zum Weiterlesen

Duchrow/R. Bianchi/R. Krüger/V. Petracca: Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung, VSA Verlag / Publik-Forum, Hamburg/Oberursel 2006, 512 S.

Das Interview führte Manfred Schütz auf schriftlichem Weg. Ausgangspunkt waren zunächst drei Fragen, auf die verabredungsgemäß weitere sieben folgten.

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