Respekt in der Familie Eine neue Chance für einen alten Begriff?

Haben Eltern als Respektspersonen ausgedient? Viele möchten lieber die Freunde ihrer Kinder sein. Richtig verstanden ist Respekt in der Erziehung jedoch ein unverzichtbarer Wert.

Wer braucht heute noch Respekt, Autorität? Die Begriffe gehören doch in eine andere Zeit! Heute kommen wir ohne sie aus. Polizisten? – machen uns keine Angst mehr. Sanitäter oder Feuerwehrleute? – nerven einfach nur, wenn wir nicht schnell genug weiterkommen. Vor Lehrern aufstehen? – die haben uns schon gar nichts zu sagen. Politiker? – bleibt mir mit denen vom Hals! Und Eltern? – die sind doch heute sowieso die besten Freunde ihrer Kinder. Respekt hat ausgedient, ist überflüssig geworden!

Hmmm, ist das vielleicht etwas kurz gedacht? Wie könnte das Wörtchen auch heute noch bedeutsam sein, vielleicht in einer verwandelten, neuen Gestalt? Das, worum es geht, lässt sich ja nicht „semantisch entsorgen“: die Form, in der Menschen miteinander in Beziehung treten. Das Bedeutungsfeld des Begriffs hat sich über Zeit hinweg geändert, doch ganz so sinnleer ist es nicht. Schauen wir uns das Spannungsfeld anhand drei kleiner Geschichten an.

Drei Beispiele

Zunächst ein Blick ins 19. Jahrhundert  – eine 1862 geborene Frau namens Rose schreibt in ihrem Lebensbericht: „Bei Tisch durfte ohne Erlaubnis nicht gesprochen werden, aber man konnte sich melden. Dann rührte Vater eine riesige Tischglocke und rief: ›Rose hat das Wort‹. Aber quasseln war verboten. Kurzfassen, die Parole. Nach Tisch setzte sich Vater in seinen Urväterstuhl und wir Geschwister traten an. Kopf hoch, Blick geradeaus, Hände an die Hosennaht. ›Also, du kamst rein!‹, das war Vaters stehende Redensart. Und man musste kurz und knapp über die Erlebnisse in der Schule berichten.“ (Eisenhardt, zit. nach Haim Omer, Arist von Schlippe: Autorität durch Beziehung. Göttingen, 2004, S. 19).

Die zweite Geschichte spielt in der Gegenwart. Ein Kollege fragt mich wegen folgender Situation um Rat: Sein vierjähriger Sohn hat einen Fremdkörper im Auge, die Lage ist kritisch, das Augenlicht in Gefahr. Er muss dringend augenärztlich untersucht werden. Doch der Sohn verweigert sich, der Arzt darf ihn nicht anfassen, geschweige denn sich dem Auge nähern. Vater und Arzt sind ratlos, der Arzt auch verärgert: ›Das kann ja wohl so nicht angehen!‹ Nach vielen Verhandlungen gestattet der Sohn, dass der Vater sein Auge untersuchen und der Arzt hinter diesem über die Schulter blicken darf. Ein Vorgang, der etwa zehn Minuten gedauert hätte, hält beide Erwachsenen und das Kind etwa anderthalb Stunden auf. Alle Beteiligten sind am Ende erschöpft und gestresst.

Und eine dritte Erzählung: Der amerikanische Autor Jonathan Haidt beschreibt in einem Buch eine längere Taxifahrt. Es ergibt sich ein Gespräch mit dem arabischen Fahrer, der gerade Vater geworden ist. Auf die Frage, ob er, der Fahrer, plane, sich dauerhaft mit seiner Familie in den USA niederzulassen, antwortet dieser entrüstet, man werde selbstverständlich nach Jordanien zurückgehen: „…because I never want to hear my son say ›fuck you‹ to me!“ (Jonathan Haidt: The righteous mind. (Der rechtschaffene Geist). London/New York, 2012, S. 165).

Drei Momentaufnahmen, die das Thema Respekt zwischen Eltern und Kindern behandeln, in ihnen spiegeln sich sehr unterschiedliche Bilder davon, was Familienbeziehungen ausmacht. In der ersten Geschichte begegnet es uns in einem traditionellen Verständnis. Die Beziehung ist hierarchisch, es gibt eine klare Aufteilung in „oben“ und „unten“, eine starre Ordnung, doch sie gibt auch Sicherheit: jeder weiß, was zu tun ist, weiß, was der Respekt gebietet. Wie anders sieht es in der nächsten Episode aus, der Vater ist auf sympathische Weise unsicher im Umgang mit dem kleinen Menschen, liebevoll, aber auch ängstlich bemüht, keinerlei Zwang anzuwenden. Viele werden sich gut in seine Lage versetzen können, zwischen der Achtung vor der Integrität des Sohnes, der Sorge, ihn seelisch zu schädigen und der Notwendigkeit der Untersuchung. Und schließlich weist der Taxifahrer auf das Risiko einer Kultur hin, in der alle ordnenden Standards verlorengegangen sind.

„Unterm Strich zähl‘ ich!“

Der Kulturwandel, in dem wir stehen, spiegelt sich im Thema Respekt. Autoritäten, an die man im 19. Jahrhundert noch unverrückbar glaubte, haben die Welt im Verlauf des 20. Jahrhunderts in schlimme Katastrophen und ins Chaos gestürzt. Und bis heute erreichen uns Nachrichten vom Versagen mächtiger Respektspersonen in Kirche, Wirtschaft, Schulen und anderen Institutionen. Da verwundert es nicht, dass das Vertrauen in moralische Grundpfeiler der Gesellschaft erschüttert ist.

Zugleich ist in einer von unmittelbarer Not befreiten Demokratie das Gefühl persönlicher Freiheit und Wichtigkeit gewachsen, haben sich die Erwartungen der jederzeitigen Verfügbarkeit von Gütern und Dienstleistungen zu Ansprüchen gesteigert. Der Blick von einem Ganzen, dem man verpflichtet ist und das im Gegenzug Sicherheit und Schutz gibt, verändert sich – „unterm Strich zähl‘ ich“. Die eigenen Ansprüche daran, wie die Dinge zu sein haben, werden als so selbstverständlich empfunden, dass man nicht nur zu jedem gesellschaftlichen Aspekt eine Meinung hat, sondern diese auch laut kundtut. Anfangs kaum merklich, inzwischen immer deutlicher, entwickelt sich, befeuert durch die Digitalisierung, eine Kultur der Aufregung und Empörung, der Empfindlichkeit und des Beleidigtseins (vgl. Caroline Fourest: Generation beleidigt. Berlin, 2020) – Anlässe gibt es genug. Der respektlose Umgang mit anderen Menschen, seien es Politiker, Prominente oder Gleichgestellte, wird zur Regel.

Instabilitäten und Unsicherheiten

Die „Loser-Geste“ (= Versager) und das Zungerausstrecken ist ein deutliches Zeichen für Ablehnung, auch gegenüber Lehrer*innen. (Foto: Victoria Borodinova, Pixabay.de, CC0)

Wie eine Pendelbewegung spiegeln die drei Geschichten drei Facetten des Themas. Natürlich ist die Liberalisierung gesellschaftlicher Felder, wie wir sie seit Jahrzehnten erleben, alles andere als zu beklagen. Auch wer heute besorgt darauf schaut, wie weit das Pendel in die andere Richtung ausschlägt, dürfte nicht davon träumen, ein starres Verhältnis von „oben und unten“ wieder herzustellen. Doch: ›Die Freiheit, die die Moderne mit der einen Hand gibt, nimmt sie mit der anderen wieder‹, sagt ein Bonmot. Eine liberalere Sicht bringt auch ein Vakuum mit sich. Strukturen gehen verloren, die für Stabilität und Ordnung gesorgt haben. Elternschaft wird schwieriger, die Rollen sind weniger klar definiert.

Spätestens seit Psychologie und Pädagogik die Wohnzimmer erreicht haben, steht die elterliche Verantwortung für das seelische Wohl und Wehe der Kinder im Vordergrund. Sprach man in den 1970er Jahren noch von „sozialer Reversibilität“: ›Sprich so mit deinem Kind, wie du selbst angesprochen werden möchtest!‹, wollen heute vielfach Eltern eher Freunde ihrer Kinder sein. Sie sehen sich vielfach unter dem Druck, alles richtig machen, die Kinder körperlich und seelisch optimieren und vor jeder Frustration und Entbehrung schützen zu müssen. Unmerklich haben sich die Akzente verschoben: Standen früher die Eltern als Respektspersonen im Zentrum, stehen dort heute oft die Kinder mit ihren Bedürfnissen und Wünschen.Foto

Zwischen Liebe und Macht

Wie kann eine gute Balance aussehen? In Intimbeziehungen muss ein besonderes Verhältnis immer wieder neu austariert werden: das von Liebe und Macht. Auch wenn wir unhinterfragbare Macht heute kritisch sehen, begegnet uns das Thema auf vielen Ebenen unseres Lebens und auf besondere Weise in der Familie. Irgendwann gibt es eine/einen, der oder die „nein“ sagt, etwas nicht erlaubt, Schulaufgaben und geputzte Zähne kontrolliert, ein Kind ins Bett schickt oder den Fernseher ausschaltet. Denn ein Laissez-faire, auch das weiß jeder, ist ebenfalls gefährlich.

Zwischen Liebe und Macht, zwischen herzlicher Bezogenheit und strukturierender Ordnung, bewegt sich das menschliche Leben. Kinder wachsen in Situationen ungleicher Machtverteilung auf, die zugleich durch – im günstigen Regelfall – liebevolle Beziehungsstrukturen geprägt sind. Sie lernen, sich darin zu bewegen und zu verhandeln. Sie machen die Erfahrung, dass sie das eine Mal noch eine halbe Stunde Spielzeit vor dem Schlafengehen heraushandeln können, ein anderes Mal nicht. Im günstigen Fall machen sie so eine Erfahrung, die nach der Schweizer Pädagogin Ruth Cohn gut auf das Leben vorbereitet: „Ich bin nicht allmächtig, ich bin nicht ohnmächtig!“

Überzeugen und einladen statt anordnen und kommandieren

Im Medium der Macht bewegt sich Respekt in einem anderen Bedeutungshorizont als im Medium der Bezogenheit und Liebe. Während die Macht von der einseitigen Verfügbarkeit des anderen ausgeht, weiß die Logik der Bezogenheit um die Unverfügbarkeit alles Lebendigen (vgl. Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Frankfurt, 2020). Zugleich verabschiedet sie sich jedoch nicht von der Idee, über Beharrlichkeit, Freundlichkeit und, ja, manchmal auch über Strenge, Einfluss zu nehmen. Familien stehen vor der Aufgabe, sich dieser Paradoxie zu stellen, die Balance dieser einander widersprechenden Qualitäten immer wieder neu zu suchen. Viel mehr als früher müssen die Bedürfnisse, muss das Recht auf selbstbestimmte Räume von Kindern und genauso von Eltern immer wieder neu ausgehandelt, manchmal auch verteidigt werden. Bezogenheit bedeutet nicht, jedes Verhalten des anderen hinzunehmen, es gibt Grenzen der Selbstbestimmung!

Das traditionelle Verständnis war einseitig: der eine bekommt Respekt, der andere erweist ihn. Manchmal fahren sich auch heute noch Familien – oft auch Ehen – in diesem Verständnis fest und wundern sich, wo die Liebe geblieben ist. Doch schon früher wussten Familien, wie man von dem Code des einen Mediums in den des anderen wechseln kann. Frauen, Müttern gelang es dabei immer schon besser, Machtthemen in den Kontext von Beziehung zu stellen, einzuladen, zu überzeugen statt anzuordnen und zu kommandieren. Sie sind Expertinnen für „Mehrsprachigkeit“, von ihnen können wir lernen, Respekt neu zu verstehen. Statt machtvoller Durchsetzung geht es in diesem neuen Bild um elterliche Präsenz und Beharrlichkeit. Manchmal braucht das Aushandeln Zeit, wie die zweite Geschichte zeigt, auch wenn  sie wohl nicht ideal verlaufen ist. Aber vielleicht ist es auch gerade das: Wenn man einen eigenen Weg sucht, ist das Ergebnis oft alles andere als glatt und gerade.

Respekt im Medium der Bezogenheit

Wenn wir lernen, Respekt im Rahmen des Mediums Bezogenheit zu verstehen, wird er zu einem Beziehungsbegriff, nicht mehr etwas, das einseitig vom anderen gefordert wird, sondern „zweiseitig“, eine Einladung zur Beziehung, zwar nicht auf Augenhöhe, aber gleichwertig. Es geht nicht mehr um fraglose Unterordnung, sondern darum, die „radikale Unverfügbarkeit“ des anderen anzuerkennen, von der Hartmut Rosa spricht. Respekt ist dann nicht mehr etwas, das erbracht werden muss, ehe man in Beziehung miteinander tritt, sondern er ist Beziehung – auch wenn damit, auch das zeigen die Geschichten, nicht alles einfacher wird. Aber darum geht es auch gar nicht.

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