Plädoyer für eine Gesellschaft des Respekts

 Die SPD präsentierte ihren Kanzlerkandidaten als „unser Angebot an alle, die menschlich miteinander und mit Respekt vor einander leben wollen.“ Wir baten Olaf Scholz, seine „Leitidee einer Gesellschaft des Respekts“ zu skizzieren, in der das Individuum seiner Würde und Anerkennung gewiss sein kann.

Mein Leitbild ist eine Gesellschaft des Respekts. In unserer Sprache ist „Respekt“ ein schillernder Begriff. Kinder lernen, dass es „Respektspersonen“ gibt. Wenn jemand erwartet, „respektiert“ zu werden, will er, dass er als Individuum angesehen wird, als Gleicher unter Gleichen. Und dass niemand auf ihn herabschaut, weil der sich womöglich für stärker, reicher oder kulturell fortgeschrittener hält. Respekt steht im Alltagsgebrauch in enger Verbindung zu Begriffen wie Anerkennung und Würde.

In einer Gesellschaft des Respekts ist eine Politik des Respekts erforderlich. Sie spielt Identitätsfragen, eine Anti-Diskriminierungspolitik und die soziale Frage nicht gegeneinander aus. Sie ist liberal und sozial. Sie ist konsequent gegen Rassismus und gegen Sexismus. Und sie wendet sich gegen den „Klassismus“ in unserer Gesellschaft, die teils subtile, teils offen verhöhnende Verachtung vieler hart arbeitender Bürgerinnen und Bürger und ihrer Lebensweisen. Daher geht es für mich um Respekt und Anerkennung auf allen Ebenen.

 Große Transformationen erfordern tragfähige Kompromisse

Der Respekt kann nur erwachsen aus dem Miteinander, aus Kontakten und Gesprächen, die uns in die Lage versetzen, einander zu verstehen. Doch in jüngster Zeit sind uns mitunter die Orte für diese Verständigung abhandengekommen. In den Filterblasen und der Erregungsdemokratie der sozialen Netzwerke zumindest findet eine solche Verständigung leider kaum statt. Gleichzeitig wird der immer nötige politische Kompromiss zu oft als „faul“ denunziert.

In der aktuellen Corona-Pandemie führen wir die tägliche Debatte über die richtige Bewältigung der Krise. Und doch empfinden sich viele Gruppen, von Eltern bis zu Künstlerinnen und Künstlern, als zu wenig gehört. Der Eindruck des Nicht-Mehr-Sichtbarseins reicht noch weiter: Er betrifft jene, die sich im öffentlichen Diskurs gar nicht Mehr mehr repräsentiert fühlen. Eine sichtbare und respektvolle Darstellung der „Arbeiterklasse“ muss man in Deutschland in Literatur, Film und Wissenschaft eher mit der Lupe suchen.

Es ist etwas ins Rutschen geraten in unserer Welt

Seit den achtziger Jahren sind die reichen Industrienationen neu herausgefordert. Der Systemgegensatz fiel weg. Die Mittelschichten in den reichen Ländern wurden gespalten. Viele Industriearbeitsplätze und damit Berufsstolz und soziale Strukturen sind verloren gegangen. Einige Beschäftigte stiegen in die wachsenden Kreativ- und Wissensberufe auf, teils hochqualifiziert, oft aber als Solo-Selbstständige in wenig gesicherter Existenz. Andere fanden Arbeit eher im Bereich der Care- und Servicetätigkeiten, oft vergleichsweise niedrig entlohnt. Nach dem Mauerfall erlebten zudem viele Bürgerinnen und Bürger Ostdeutschlands eine rasante Entwertung ihrer Biografien und Berufe. Damals habe ich einige von ihnen kennengelernt, als ich als junger Anwalt Beschäftigte und Gewerkschaften im Osten vertreten habe. Sie kämpften zugleich für ihre Zukunft und die Sicherung ihrer Lebensleistung.

Von der globalen Warenproduktion profitieren heute einerseits alle: Eine Durchschnittsverdienerin kann heute mehr Konsumprodukte erwerben als 1980. Doch die Miete in einer Großstadt zu bezahlen, fällt vielen andererseits immer schwerer. Die Würde der Arbeit, der Stolz auf den Beruf und die Möglichkeit für alle, ein ganz normales Mittelschichtsleben zu führen – dieses Versprechen gilt nicht mehr ungebrochen für alle.

Die großen Transformationen unserer Zeit funktionieren aber nur, wenn wir aus Konflikten tragfähige Kompromisse schmieden. Wir brauchen solche Verständigungen im Großen wie im Kleinen. Oft wird gefordert, Politiker müssten wieder mehr zuhören. Das halte ich für eine Selbstverständlichkeit. Die eigentliche Herausforderung für die Politik besteht im Führen und Zusammenführen, also darin, politische Ziele über den Tag hinaus zu definieren, verschiedene Interessen und Wertvorstellungen fortschrittlich zu integrieren.

Eine Gesellschaft des Respekts braucht eine Politik des Respekts

Eine Politik des Respekts betrifft die materielle Wertschätzung und die Frage der Verteilung. In Deutschland verfügen wir durchaus über viele Instrumente, die Ungleichheit abzumildern. Wesentlich muss eine faire Entlohnung sein. In Zukunft sollte niemand weniger Lohn bekommen als zwölf Euro in der Stunde. Der neue US-Präsident fordert einen Mindestlohn von 15 Dollar. Bedenkt man, dass die regionalen wirtschaftlichen Disparitäten in den USA größer sind als in Deutschland und eher denen der Europäischen Union insgesamt entsprechen, versteht man, was für eine weitreichende Position Joe Biden formuliert. Der Mindestlohn sollte aber nur die Untergrenze sein. Auch darüber hinaus sind anständige Löhne erforderlich. Klug ausgehandelte Tarifverträge sollten nicht als überholtes Relikt aus der fernen Vergangenheit verstanden werden. Sie sind Ausdruck eines fairen Interessenausgleichs und ermöglichen auch den Unternehmen gleiche Wettbewerbsbedingungen. Und was die Vermögen betrifft: Glaubt man den verbesserten Forschungsdaten, die auch in den neuen Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung einfließen werden, dann verfügt das oberste Prozent der Gesellschaft über rund 30 Prozent des Nettogesamtvermögens. Das Grundgesetz sagt, Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Die Menschen müssen beteiligt, nicht vertröstet oder belehrt werden

Respekt gegenüber Arbeit geht jedoch über das Materielle hinaus. Es geht um Wertschätzung der produktiven Tätigkeit, darum, nicht das Gefühl zu haben, austauschbar zu sein. Neben der Wahrung von Arbeitnehmerrechten geht es mir vor allem darum, den Wert der Arbeit und den Stolz des Berufs in der aktuellen Modernisierung unserer Wirtschaft im Blick zu behalten. Dies bedeutet zum Beispiel, den Strukturwandel und die Klimapolitik nicht so anzugehen, dass man den Beschäftigten, die ihren konkreten Arbeitsplatz verlieren werden, mit dem lapidaren Hinweis gegenübertritt, dass irgendwo und irgendwann auch neue Jobs entstehen.

Mehr Wertschätzung fordert auch die Landwirtschaft gegenüber Politik und Gesellschaft (Foto: IlonaF, Pixabay.de, CC0)

Nur wenn qualifizierte Facharbeiterinnen und Facharbeiter die Perspektive haben, eine neue gute Beschäftigung zu finden, gewinnen wir sie als Unterstützer für die nötige Klimawende. Wir brauchen deshalb konkrete Zukunftsmissionen, die glaubhaft machen, dass auch in der künftigen Welt ein respektabler Platz für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und Berufstätigen vorhanden sein wird. Der Klimawandel und das Bemühen, ihn einzugrenzen, die Globalisierung, die digitale Transformation – all das findet statt. So oder so. Aber ob diese großen Entwicklungen unserer Zeit die gesellschaftliche Spaltung vertiefen oder überwinden, hängt maßgeblich davon ab, dass sie nicht mit Verlusterfahrungen verbunden werden, sondern Fortschritt und Verbesserungen für das eigene Leben ermöglichen.

Viel zu oft bestimmt die Herkunft den Lebensweg

Es ist eine gesamtstaatliche Aufgabe, für gute Kitas, Ganztagsschulen, eine gute Berufsausbildung und erstklassige Hochschulen zu sorgen. Eine Kindergrundsicherung kann einen besseren Start in das Leben ermöglichen.

Der Respekt vor verschiedenen Biografien und Lebensstilen gebietet außerdem, für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen zu sorgen. Dazu gehört für mich auch, dass Städte, die unser Land über viele Jahrzehnte zum Beispiel mit Kohle und Stahl zur wirtschaftlichen Blüte gebracht haben, inzwischen aber unter dem Strukturbruch finanziell leiden, unterstützt werden, damit sie wieder investieren und blühen können. Und wir müssen den Stadt-Land-Gegensatz überwinden. Gleichwertige Lebensverhältnisse setzen überall eine gut ausgebaute Infrastruktur voraus. Wer auf dem Land lebt und 50 Kilometer zur Arbeit fahren muss, dem hilft die Belehrung wenig, dass das Fahrrad das ökologischste Verkehrsmittel ist. Daher muss es ein gesamtstaatliches Ziel sein, überall intelligente neue öffentliche Verkehrsangebote zu entwickeln. Spätestens bis Ende des Jahrzehnts muss der Zugang zum Gigabit-Internet für alle Unternehmen und Haushalte verfügbar sein.

Für ein „Wir der Vielfältigkeit“

Und schließlich: Gemessen an der oft verklärten Nachkriegszeit sind wir inzwischen eine viel liberalere und respektvollere Gesellschaft. Wir haben viele staatliche und alltägliche Diskriminierungen von Frauen oder LGBTQ-Personen hinter uns gelassen, wenn auch bei Weitem noch nicht alle. Die „Ausländer“ oder „Gastarbeiter“ von einst sind für die meisten im Land längst Freunde oder Kolleginnen. Einer Gesellschaft des Respekts muss es egal sein, wen man liebt, woher man kommt und an welchen Gott man glaubt, oder ob man an keinen Gott glaubt. Eine Politik des Respekts muss dort handeln, wo Diskriminierungen fortbestehen und gleiche Würde und gleichen Rechte nicht gewahrt sind. Sie zieht eine klare Grenze, wenn etwa die Familienehre oder reaktionäre Verschwörungsmythen über demokratischen Werte und die Prinzipien unseres Grundgesetzes gestellt werden.

Eine Gesellschaft des Respekts ist eine Gesellschaft, in der fragmentierte „Identitäten“ nicht an die Stelle eines Wir der Vielfältigkeit treten. Das lässt sich zwar nicht verordnen durch eine Politik des Respekts. Sie schafft aber die notwendigen Voraussetzungen für mehr Zusammenhalt und gegenseitige Anerkennung. Und darauf kommt es an.

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