Was ist und wer verdient Respekt?

Der Freiburger Soziologe Albert Scherr antwortet auf Fragen von Hermann Preßler.

Herr Professor Scherr, erinnern Sie sich daran, in welchen Alltagszusammenhängen Ihnen das Wort Respekt als Kind oder Jugendlicher begegnete und wie Sie sich dann fühlten?

Damals wurde über Respekt mit einem engen Bezug auf Hierarchien gesprochen: Von Kindern und Jugendlichen wurde erwartet, dass sie „Respektspersonen“ höflich, geradezu ehrfürchtig, fast unterwürdig begegnen. Persönlich habe ich diesbezüglich Ohnmacht und Angst, manchmal auch Wut und Hass, so auf ungerechte und prügelnde Lehrer, empfunden; als Jugendlicher dann zunehmend den Mut, mich zu Wehr zu setzen. Respekt sollte keineswegs als Unterordnung aufgrund einer Angst vor Sanktionen missverstanden werden.

Welcher Mensch fällt Ihnen ein, von dem Sie sagen, dass er Ihnen Respekt eingeflößt hat?

Zunächst möchte in darauf hinweisen, dass jede und jeder Anspruch auf Respekt hat, der andere respektiert. Respekt ist in diesem Sinne die Achtung, die wir uns gegenseitig als Menschen entgegenbringen, die eigenverantwortlich ihr Leben meistern, ohne andere auszubeuten, auszunutzen, zu demütigen oder zu missbrauchen.

Eine der Persönlichkeiten, die bei mir außergewöhnlich Respekt ausgelöst haben, war mein akademischer Lehrer, Ernst Jouhy. Als überzeugter und glaubwürdiger Vertreter eines sozialistischen Humanismus konnte er in seinen Seminaren als 70-Jähriger über seine Aktivitäten in der sozialistischen Jugendbewegung der Weimarer Republik, seine Emigration nach Frankreich und sein Engagement in der französischen Resistance sowie seine pädagogische Arbeit seit den 1950er Jahren reflektiert berichten. Besonderen Respekt habe ich vor allen, die außergewöhnliche Lebensleistungen erbringen. Wir haben in den vergangenen Jahren zum Beispiel junge Flüchtlinge interviewt, denen es in beeindruckender Weise gelungen ist, sich trotz biografischer Erfahrungen mit dem Verlust von Angehörigen, Gewalt und Misshandlung und fehlender schulischer Bildung hier in Deutschland eine Zukunftsperspektive zu erarbeiten.

Respekt scheint eine Verhaltensweise zu sein, die sich vornehmlich im zwischenmenschlichen Bereich entfaltet. Psychologen oder Pädagogen setzen sich damit auseinander – warum Soziologen?

Soziologen haben sich von Anfang an nicht nur mit gesellschaftlichen Strukturen, sondern auch mit dem alltäglichen zwischenmenschlichen Zusammenleben befasst. Dabei ist die Thematik der gegenseitigen Anerkennung von Menschen als gleichwertige und gleichberechtigte von zentraler Bedeutung. Bereits G.W.F. Hegel hat den „Kampf um Anerkennung“ als eine zentrale Dimension sozialer Konflikte aufgezeigt. Und Marx hat daran anschließend die Überwindung sozialer Verhältnisse gefordert, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Für die Soziologie stellt sich damit von Anfang an ganz zentral die Frage, was die Bedingungen dafür sind, dass Menschen sich gegenseitig respektieren können.

We all require and want respect, man or woman, black or white. It’s our basic human right. (Aretha Franklin in ihrem Hit Respect)

Georg Simmel hat dazu in seiner 1908 veröffentlichten Soziologie angemerkt, dass die Maxime, einen „Menschen niemals als bloßes Mittel zu gebrauchen“, ein wichtiger Maßstab für die Beurteilung sozialer Verhältnisse ist. Betrachtet man die Frage nach Respekt in zwischenmenschlichen Verhältnissen soziologisch, dann zeigt sich, dass gegenseitige Anerkennung und Wertschätzung mit den gesellschaftlichen Ungleichheiten und den Maßstäben zusammenhängen, die der Bewertung von Menschen zugrunde liegen. Das heißt: Ungleichheit besteht nicht nur in einer ungleichen Verfügung über Geld und Macht, sondern auch in Ungleichheiten der Chancen, respektiert zu werden. Wer arm und ungebildet ist, muss in einer durch Ungleichheit geprägten Gesellschaft deshalb auch mit Missachtung und Herabwürdigung rechnen. Und das zeigt sich auch in den zwischenmenschlichen Begegnungen im Alltag.

Gibt es eine signifikante Respektlosigkeit und tragen klassische Respektsinstanzen wie Polizei, Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik, Pfarrer usw. durch ihr Verhalten mit dazu bei?

Die These, dass es eine grassierende Respektlosigkeit in unserer Gesellschaft gibt, ist durch die verfügbaren Daten nicht belegt. Dass niemand mehr selbstverständlich erwarten kann, als unhinterfragbare Autorität anerkannt zu werden, sondern davon überzeugen muss, dass er oder sie ihre Machtposition nicht missbraucht, ist ein zivilisatorischer und demokratischer Fortschritt, nicht Ausdruck von vermeintlichen Zerfallstendenzen. Ohne einen solchen Fortschritt wären Phänomene wie der sexuelle Missbrauch in den Kirchen oder rassistische Praktiken in der Polizei nie aufgedeckt worden.

Viele Menschen hat das Bild eines Randalierers in Stuttgart, der einem knienden Polizisten in den Rücken springt, sehr verstört. Ist es geradezu ein ikonografisches Bild respektloser Verhältnisse?

Eine ersthafte Aufklärung dazu, was die Vorgeschichte der Stuttgarter Ereignisse ist, findet nicht statt. Bis heute liegt die Zuständigkeit für eine Untersuchung des Geschehens allein bei der Polizei. Soziologen, Psychologen und Sozialarbeiter sind bislang nicht beauftragt worden, sich damit informiert zu befassen. Und selbstverständlich gibt es keine Rechtfertigung für die Gewalt, die in diesem medial weit verbreiteten Bild deutlich wird. Aber wir müssen trotzdem genauer betrachten, was es zum Ausdruck bringt.

Eine mögliche Sichtweise ist: Kurz nach der Ermordung von George Floyd sieht ein junger Mann einen Polizisten, der auf einem jungen Mann kniet, und greift den Polizisten an, um jemandem zu helfen, der aus seiner Sicht ein mögliches Opfer von Polizeigewalt ist. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass die Polizei von einem Teil der Jugendlichen in Deutschland als Institution erlebt wird, von der sie häufig und in unfairer Weise kontrolliert werden, weil sie das „falsche Aussehen“ haben und deshalb als verdächtig gelten. Das kann dazu führen, dass nicht mehr allzu klar zwischen rassistischer Polizeigewalt in den USA und dem Vorgehen der deutschen Polizei unterschieden wird. So betrachtet wäre das Bild Ausdruck einer falschen Handlung, der ein Missverständnis der Situation, aber auch ein respektables Motiv zu Grunde liegt: Der Täter wollte jemandem helfen, von dem er annahm, dass er Opfer exzessiver polizeilicher Gewalt wird. Wir wissen, dass ein Teil der Jugendlichen dieses Bild genauso gedeutet hat. Was den Täter selbst veranlasst hat, ist unbekannt. Um ein ikonografisches Bild handelt es sich jedoch definitiv nicht, denn es war ein ganz und gar singuläres Ereignis.

Aber singulär ist das nicht, dass Polizisten verletzt, Lehrerinnen despektierlich behandelt und selbst Rettungssanitäter aggressiv angegangen werden…

Massive Gewalt gegen Polizisten, bei der es zu Körperverletzungen kommt, ist tatsächlich selten – wenn, dann handelt es sich um Gewalt unter dem Einfluss von Drogen und Alkohol, Taten aus dem kriminellen Milieu oder um politisch motivierte Gewalt, die von kleinen Gruppierungen ausgeht. Klammert man besondere Ereignisse wie den G-20 Gipfel aus, dann ist das Niveau der Straftaten gegen Polizisten seit vielen Jahren recht konstant. Zudem: Es wäre zu untersuchen, in welchen Schulen Lehrer*innen sich nicht respektiert sehen, und in welchen das Lehrer*innen-Schüler*innen-Verhältnis sich positiv darstellt. Generalisierung bringen uns nicht weiter.

Besonders unter jungen Erwachsenen kann man oft hören, zum Beispiel in konfliktträchtigen Situationen, dass sie „Respekt“ einklagen, auch untereinander. Wie ist das zu verstehen?

Respekt einzufordern, bedeutet unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen, dass niemand das Recht hat, auf jemand anderen herabzusehen, anderen verächtlich oder herabsetzend zu begegnen. Wenn Respekt eingefordert wird, ist dies häufig eine Reaktion auf Erfahrungen mit Missachtung und Diskriminierung, eine Form der Selbstbehauptung und Selbstverteidigung gegen Abwertung und Demütigung. Wer häufig solchen Erfahrungen ausgesetzt ist, wird dünnhäutig und tendiert ggf. zu aggressiver Einforderung von Respekt.

Unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen kann ein Mensch Selbstrespekt lernen, welche erschweren ihm dies?

Die zentrale Quelle des Selbstrespekts ist die Erfahrung von Beachtung und Wertschätzung durch Andere. Menschen sind zur Aufrechterhaltung von Selbstrespekt darauf angewiesen, immer wieder Anerkennung zu erleben. Das aber ist prekär, denn die zentrale gesellschaftliche Botschaft heißt, dass wir uns Respekt immer wieder erneut durch Leistung und Erfolg verdienen müssen, dass es nicht genügt, einfach nur sein Leben zu leben, um respektiert zu werden. Daraus entsteht eine tiefgreifende Angst vor dem Verlust von Anerkennung, wenn wir nicht mehr sicher sein können, den gesellschaftlichen Leistungs- und Erfolgserwartungen gerecht werden zu können.

Wie verhält man sich anderen gegenüber dennoch respektvoll, mit denen man in einer sehr grundsätzlichen Weise nicht mehr übereinstimmt?

Indem man ihnen zutraut, dass sie ebenso gute, prinzipiell verstehbare Gründe für ihre Überzeugungen haben, wie man selbst. Die Grenze des Respektablen ist dann erreicht, wenn der Grundsatz der gleichen Würde jedes Individuums abgelehnt wird. Wer diesen Grundsatz negiert, kann nicht erwarten, respektiert zu werden, weil er selbst andere nicht als gleichwertige Menschen anerkennt.

Albert Schweitzer, eine mir als Heranwachsendem vermittelte „Respektsperson“, hat eine Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ begründet. Ist die Vermittlung ethischer Werte nicht eine große Quelle des Respekts?

Werte können dann, und nur dann wirksam vermittelt werden, wenn sie eine Resonanz in den Erfahrungen finden, wenn sie in uns etwas zum Schwingen bringen. Dann kann die Vermittlung von Werten auch ein Bewusstsein für die Bedeutung von Respekt stärken. Und diejenigen, die Werte vermitteln, müssen persönlich glaubwürdig sein.

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