Unser Fenster in die Zukunft Zur Rolle von Fantasie in Bildung und Wissenschaft

Klassischerweise gilt (zu viel) Fantasie dem Erwerb von Wissen nicht unbedingt als zuträglich. Die Kognitionswissenschaft hat aber längst gezeigt, dass gerade die Fantasie eine wichtige Rolle beim Lernen, für das Lösen von Problemen und die persönliche Entwicklung spielt.

Der Fantasie haftet zuweilen ein negativer Beigeschmack an. Dieser reicht von zu wenig Realitätsbezug, dem Festhalten an fiktiven Inhalten bis hin zu psychopathologischen Zuschreibungen. Diese Sichtweise wird der Fantasie nicht gerecht. Unsere Fantasie ist nicht der Gegenspieler der Realität, der uns wie ein böser Dämon vom Weg der Erkenntnis abbringen will oder falsche Schlüsse ziehen lässt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Fantasie bezieht sich auf die Realität, hilft uns, diese besser zu verstehen, und gibt uns Möglichkeiten der Mitgestaltung.

Kinder und ihre Fantasiespiele

Nehmen wir uns ein Beispiel am kindlichen Fantasiespiel. Es kann vorkommen, dass eine Gruppe spielfreudiger Kinder damit angibt, heute Nachmittag eine Zeitmaschine bauen zu wollen. Diese Spielereien mögen aus Sicht der Eltern absolut naiv und zu Recht fern jeglicher Realität erscheinen. Als unsinnige Zeitverschwendung sollte man sie dennoch nicht abtun. Fantasiespiele stärken die Beharrlichkeit, das Festhalten an Zielen und die Motivation. Darin liegt ihre eigentliche Funktion und bei Kindern spielt die Realitätsnähe des Zieles ohnehin nicht die entscheidende Rolle. Aufgaben mit Beharrlichkeit anzugehen, selbst wenn ihre Umsetzung und Zielerreichung unsicher und anstrengend sind, ist ein maßgeblicher Erfolgsfaktor.

Im angelsächsischen Sprachraum hat sich in diesem Zusammenhang der Begriff „Grit“ eingeprägt. Thomas Edison (1847–1931), der Erfinder der Glühbirne, hatte Grit. Er hat unzählige Experimente durchgeführt und nach jedem Scheitern nicht etwa aufgegeben, sondern mit ungebrochener Entschlossenheit und Leidenschaft weitergeforscht. Natürlich reicht Fantasie allein für den wissenschaftlichen Erfolg nicht aus, aber die Fantasie ist unser Fenster in die Zukunft. Mit ihrer Hilfe können wir Ziele anvisieren und im Kopf verschiedene Lösungswege ausprobieren. Und das Erkennen von Optionen in der Zukunft ist wiederum motivierend für das Verhalten im Jetzt. Man weiß, wofür man sich anstrengt. Die Fantasie beflügelt die Entschlossenheit und Beharrlichkeit.

Kontrafaktisches Denken

Ein wesentliches Charakteristikum der Fantasie ist das kontrafaktische Denken. Was würde passieren, wenn man sich anders als geplant entscheidet? Alternative Szenarien zu durchdenken, macht unsere Fantasie zu einem evolutionären Jackpot, der zur Vormachtstellung des Menschen geführt hat. Dazu gehört auch die Vorwegnahme künftiger eigener Bedürfnisse. In der Fantasie können wir mögliche zukünftige Szenarien entwickeln, die wir in Gedanken vergleichen können, und je nach Ergebnis entscheiden wir uns für die eine oder andere Option. Kraft unserer kognitiven Fähigkeiten verfügen wir über einen mentalen Zeitstrahl, auf dem wir uns in Gedanken in die Zukunft projizieren können. Menschen sind in der Lage, Motivlagen vorwegzunehmen, die sie in der Zukunft haben werden, obschon sie in der momentanen Lebenslage nicht akut sind.

Im Durchdenken alternativer Szenarien wird die Fantasie zu einem evolutionären Jackpot.

Dazu gehören mit Sicherheit Karriereplanung und Bildung. Wo will ich in zwanzig Jahren beruflich stehen? Welche Ausbildung brauche ich, damit ich später im Berufsleben gewisse Funktionen ausüben kann? Die Antwort auf solche Fragen zieht nach sich, bereits heute in ein Projekt zu investieren, das erst in vielen Jahren Früchte tragen wird. Zudem ist das anvisierte Ziel in mancher Hinsicht nicht stabil und kann sich über die Zeit verändern. In welcher Branche werde ich Fuß fassen? Wie wird sich diese Branche in den nächsten Jahren verändern? Welches Profil gibt mir die besten Chancen? Fragen dieser Art zeichnen sich dadurch aus, dass das Ziel zwar weit in der Zukunft liegt, aber sie beschäftigen uns dennoch so, damit wir heute Vorkehrungen treffen und Informationen einholen, die die Erreichung des Ziels später begünstigen (z.B. eine Zwischenprüfung erfolgreich absolvieren).

Grundlagenwissen und Problemlösekompetenz

Ausbildung heißt nach wie vor Wissensaneignung. Und das geht nicht ohne intellektuelle Anstrengung, obschon die Lernformate heute flexibler sind und somit individuelle Faktoren beim Lernen berücksichtigt werden können. Fundierte Kenntnisse der Grundlagen und Forschungsmethoden sind jedoch in jeder Disziplin wichtig und keinesfalls überholt, obschon in Leitbildern von Universitäten Schlagworte wie Inter- und Transdisziplinarität dominieren. Erst wenn man die Grundlagen der eigenen Disziplin beherrscht, kann man sinnvoll über anspruchsvolle Anwendungen nachdenken oder über die Grenzen der eigenen Disziplin hinausgehen. Ansonsten läuft man Gefahr, dass man sich zwar mitunter eloquent zu Problemen äußern kann, aber damit noch lange nicht über die Kompetenz verfügt, die es braucht, um sich aktiv an der Problemlösung zu beteiligen.

Wer heute ein Studium absolviert, muss nach Abschluss Probleme lösen können, die man heute noch nicht oder nur wenig kennt. Neben analytischem Denken und dem Grundlagenwissen werden innovative Lösungsansätze eine entscheidende Rolle spielen. Dabei gilt es von vorherigen Herangehensweisen Abstand zu nehmen, die unsere Gedanken in vorgespurte Bahnen lenken. Starke Fixierungen auf gewohnte Denkmuster müssen überwunden werden, damit neue Lösungen eine Chance bekommen. So war die Entdeckung der ringförmigen Benzolstruktur durch den Chemiker August Kekulé ein enormer Durchbruch in der organischen Chemie, indem die vorherrschenden Sichtweisen auf eindrückliche Weise verdrängt wurden (u.a. ging man von einer linearen Verkettung der Kohlenstoffatome aus). Hier hat sich eine neue Sichtweise durchgesetzt. Heutige Ausbildungsprogramme täten gut daran, wenn sie die Schulung von Problemlösekompetenzen in ihr Curriculum aufnähmen. Die Studierenden von heute werden Probleme von morgen lösen müssen. Auch sie werden vollkommen neue Sichtweisen und Lösungswege einbringen und dazu benötigen sie ihre Fantasie.

Exploration vs. Exploitation

In diesem Zusammenhang soll auf die Unterscheidung von „Exploration“ und „Exploitation“ hingewiesen werden. Exploration kann ohne Fantasie nicht stattfinden. Es geht darum, neues, bislang unbekanntes Terrain zu erschließen, neue Lösungen zu suchen, um Innovationen und Erfindungen. Die Fähigkeit, bestehendes Wissen zu kombinieren und auf neue Zusammenhänge anzuwenden, ist bei der Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen entscheidend. Dazu gehören zum Beispiel die Entwicklung neuer energiespeichernder Systeme, die Einführung nachhaltiger Praktiken zu einem effizienteren Energieverbrauch, die Verbesserung von Diagnose und Behandlungsmethoden von Krebserkrankungen oder eine Digitalisierung, die zum Wohl der Menschheit genutzt wird. Solche Herausforderungen können nur durch das Zusammenwirken verschiedener Disziplinen bewältigt werden, die gemeinsam wissenschaftlich explorieren.

Praktische Kompetenzen verfehlen ihr Ziel, wenn völlig neue Probleme auftauchen.

Exploration schafft neues Wissen. Bei der Exploitation geht es hingegen darum, den aktuellen Stand des Wissens konsequent zu nutzen, anzuwenden und mittels kleinerer Verfeinerungen zu optimieren. Exploitation führt nicht zu entscheidenden Erweiterungen. Praxisorientierte Studiengänge wollen in der Regel genau das. Es geht ihnen um die Vermittlung von Anwendungskompetenzen. Für sie steht Exploitation im Vordergrund und praktisches Wissen erfreut sich einer starken Nachfrage.

Fantasie geht über Erfahrung

Praktische Kompetenzen verfehlen ihr Ziel allerdings dann, wenn völlig neue Probleme auftauchen, für die keines der bewährten Rezepte zu funktionieren scheint. Dann ist eine Problemlösekompetenz gefragt, die über das Erfahrungswissen hinausgeht. Erfahrungswissen ist wertvoll, aber begrenzt. Und wenn die Grenzen erreicht sind, kann Erfahrungswissen nicht mehr weiterhelfen. Dann müssen die zugrunde liegenden Zusammenhänge und Mechanismen in Betracht gezogen werden, unkonventionelle Ideen müssen verfolgt werden, oder es muss sogar neues Wissen geschaffen werden, weil es noch gar nicht existiert. Hier kommen wieder die Grundlagen zum Zuge. Ohne sie reduziert sich die Problemlösekompetenz auf begrenztes Anwendungswissen. Die Fantasie spielt dabei eine große Rolle und hilft, den Raum der Ideen zu explorieren, neue Hypothesen zu generieren und bestehendes Wissen zu verknüpfen. So entsteht neues Wissen, ohne vorher die entsprechenden Erfahrungen gemacht zu haben.

Die anderen verstehen

Fantasie dient nicht nur dazu, seine eigenen Bedürfnisse zu reflektieren, sondern auch diejenigen anderer Personen. So dient das eingangs erwähnte kindliche Fantasiespiel auch dazu, die Gefühlslage anderer Personen miteinzubeziehen, und unterstützt somit das soziale-emotionale Lernen. Unsere Fähigkeit, im Kopf Szenarien zu simulieren, ist unser kognitives Kapital, und wir sollten dieses Werkzeug sinnvoll einsetzen. Es geht darum, eine ausgewogene Balance zu finden zwischen Informationen, die wir vorfinden, und dem, was wir annehmen. In Letzteres fließt die Fantasie mit ein. Sie ist es, die uns flexibel auf Herausforderungen reagieren lässt und uns Freiheit im Denken verleiht.

Literaturempfehlung

Fred Mast: Black Mamba oder die Macht der Imagination. Wie unser Gehirn die Wirklichkeit bestimmt. Herder Verlag, Freiburg, 2020.

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