Dogmatische Imaginationen Einbildungskraft als konstruktives Organ der Theologie

Theologie und Fantasie stehen keineswegs im Widerspruch zueinander. Denn alles dogmatische Nachdenken lebt nicht nur von ursprünglich bildlichen Vorstellungen des religiösen Bewusstseins, es bedarf vielmehr selbst einer zwar rationalisierenden, aber nicht minder konstruktiven und kreativen Einbildungskraft.

Bildlichkeit vor Vernunft

Die Frage nach ›Imagination und Bildlichkeit in der Theologie‹ betrifft keineswegs nur vereinzelte Aspekte der kirchlichen Lehre (wie z.B. Gleichnisse) und gelebten Frömmigkeitspraxis oder -kultur (wie z.B. religiöse Symbole oder christliche Kunst), sondern das Ganze ihrer lebensweltlichen und anthropologischen Verwurzelung. Denn wenn Theologie im elementarsten und weitesten Sinne aus einer dem Glauben selbst innewohnenden Denkbewegung hervorgeht, dann schöpfen Glaubende und Glaubensgelehrte aus derselben unerschöpflichen Quelle. Dem Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996) zufolge nährt sich das abstrahierende und reflektierende Denken überhaupt von einem ›Substrat‹ an bildlichen Vorstellungen, die sich niemals restlos auf einen adäquaten Begriff bringen lassen. Vielmehr denken wir immer nur uneinholbar dem hinterher, was unsere Fantasie präreflexiv ins Bild gesetzt hat. Nichts anderes hatte bereits der Theologe Friedrich Schleiermacher (1768–1834) im Sinn, wenn er in seinen Reden über die Religion konstatiert, dass die Fantasie ›das Ursprünglichste und Höchste im Menschen‹ sei – und ›alles außer ihr nur Reflexion über sie‹.

Das weitergegebene ›Bild Christi‹

Hatte es die philosophisch-theologische Tradition vor allem der Vernunft beigemessen, das Höchste im Menschen und insofern Kennzeichen seiner Gottebenbildlichkeit zu sein, wird hier – ganz buchstäblich – die Bildlichkeit als Grund und Grenze menschlicher Rationalität geltend gemacht. Worauf könnte und sollte das Nachdenken der Theologie sich auch sonst beziehen, wenn nicht auf bildliche Vorstellungen, in denen das religiöse Bewusstsein sozusagen von Haus aus lebt? Entsprechend versteht Schleiermacher die dogmatischen Sätze seiner Glaubenslehre generell als sekundäre begriffliche Erklärungen ursprünglich bildlicher Ausdrücke. Demnach ist die kirchliche Lehrbildung überhaupt nichts anderes als eine Fortschreibung der (selbst schon theologisch reflektierenden) neutestamentlichen Schriften, die ungeachtet ihrer literarischen Form und zeitlichen Abständigkeit einen anfänglich glaubenserregenden ›Totaleindruck‹ der Person Jesu von Nazareth voraussetzen, den sie zuerst bei denen hinterlassen hat, in deren Lebenskreis sie getreten ist, und der als von ihnen weitergegebenes ›Bild Christi‹ den innersten und wesentlichen Kern des christlichen Bewusstseins ausmacht. Nicht ohne Grund deklariert Schleiermacher Joh 1,14 als ›Grundtext‹ der gesamten Dogmatik: »Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit«.

›Anschauliche Darstellung‹ des fleischgewordenen Logos

Damit wird über den für eine evangelische Dogmatik konstitutiven Schriftbezug hinaus ein bildlich vermittelter Christusbezug der Schrift zugrunde gelegt, dem in hermeneutischer und methodischer Hinsicht Rechnung getragen wird:

a) Den offenbarungstheoretischen Bezugspunkt der christlichen Glaubenslehre stellt jenes gleichsam in die biblischen Texte – insbesondere die Evangelien – eingegangene und in der christlichen Gemeinde – prototypisch im Abendmahl – vergegenwärtigte Bild Christi dar, das sich den Lesenden innerlich ebenso vor Augen stellt wie den Hörenden der Einsetzungsworte: »Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn« (Lk 24, 31), heißt es von den Emmausjüngern, die den Fremden allererst im Spiegel der Abschiedshandlung und -worte Jesu als auferstandenen Christus zu sehen vermögen.

b) Sodann gibt jener personale Gesamteindruck vor, dass das dogmatische Lehrstück von der Person Christi sich nicht in abstrakte Begrifflichkeiten (wie die ›Zwei-Naturen-Lehre‹ der Alten Kirche) flüchten darf, sondern eine möglichst ›anschauliche Darstellung‹ des fleischgewordenen Logos, d.h. der im Leben Jesu sichtbar gewordenen Einheit von göttlicher und menschlicher Natur zu versuchen habe. Denn theologisch denkbar ist eben nur, was auch vorstellbar ist.

Christliche Fantasie

Sofern also der bildliche oder auch symbolische Ausdruck als originäre ›Sprachform‹ des religiösen Glaubens anerkannt wird, sind damit Konsequenzen für die Vorgehensweise der Theologie ebenso verbunden wie für das Selbstverständnis derer, die sie betreiben. Was Paul Tillich (1886–1965) dementsprechend in der Einleitung seiner Systematischen Theologie als ›theologischen Zirkel‹ kritisch einzuholen sucht, fällt allerdings durchaus nicht konsequent genug aus. So geht er im christologischen Teil ebenfalls davon aus, dass Jesus den Jüngern – und durch sie allen späteren Generationen – sein Bild ›eingeprägt‹ habe, welches somit ein Kontinuum zwischen seiner historischen Person und dem Christus des Glaubens herstellt. Wenn damit zugleich eine ›analogia imaginis‹ als Möglichkeitsbedingung theologischer Rede überhaupt geltend gemacht wird, müsste auch der theologische als ein genuin ›imaginativer Zirkel‹ konfiguriert werden. Und aus diesem könnte freilich auch der Theologe Tillich nicht heraustreten, um die christliche Bilderwelt auf das zurückzuführen, was durch sie ›eigentlich‹ symbolisiert wird. Denn so wären die bildlichen Vorstellungen selbst sekundäre Veranschaulichungen von an sich identifizier- und bestimmbaren rationalen Sachverhalten, nur eben keine unhintergehbaren Erzeugnisse einer vor- oder auch unbegrifflich bildenden ›christlichen Fantasie‹.

Theologisch denkbar ist nur, was auch vorstellbar ist.

Dass es eine solche überhaupt gibt, erfährt man allerdings auch in Schleiermachers Glaubenslehre eher beiläufig dort, wo sie naturgemäß an ihre Grenzen kommt: beim Bilden eschatologischer Vorstellungen jenseits von Raum und Zeit. Gerade weil diese gleichsam ›christlich bestimmte‹ Einbildungskraft hier zudem als konstruktives Organ kirchlicher Lehrbildung erörtert wird, hätte man doch gerne ebenso erfahren, wie es damit generell im Spannungsfeld von Glauben und Wissen bzw. Offenbarung und Vernunft bestellt ist.

Heuristische Fiktionen

Es mag mit dem Ausdruck ›Einbildungskraft‹ als solchem zusammenhängen, dass ihre Profilierung als konstruktives Medium der Theologie dem Eingeständnis gleichkäme, es sei am Ende doch alles nur ›eingebildet‹. Dabei ist es nur konsequent, dass eine vernunftgemäße Explikation ursprünglich bildlicher Vorstellungen selbst wiederum einer – wenngleich rationalisierenden – Einbildungskraft bedarf, die diese gerade nicht (wie bei Kant) auf einen eigentlich rationalen oder moralischen Kern hin auslegt, sondern kombiniert, restrukturiert, reformiert, transformiert oder auch inszeniert.

Alles nur eingebildet?

Man braucht nur die komplexen Konstellationen und spekulativen Szenarien – anders gesagt: heuristischen Fiktionen – heranzuziehen, anhand derer etwa Anselm von Canterbury seine Satisfaktionslehre, Schleiermacher jene Zwei-Naturen-Lehre oder Eberhard Jüngel die Trinitätslehre dogmatisch zu plausibilisieren oder reformulieren sucht, um sich die enorme Leistung einer überaus kreativen Fantasie vor Augen zu führen. Und das ist der Sache mitnichten abträglich, wenn man genau darin die ursprünglichste und höchste Begabung des Gott entsprechenden Menschen erkennt, der seinen Schöpfer nicht anders als imaginieren und inszenieren kann – und sich eben dabei als ebenbildliches Geschöpf reflektiert: als (göttlichen) Künstler (hier wie dort).

Theologie auf den Flügeln der Einbildungskraft

Dadurch würde die Theologie den gegenwärtigen bildwissenschaftlichen Bestrebungen zuallererst auf der Ebene einer ›Bild-Anthropologie‹ (Hans Belting) nachkommen, die den Menschen als genuinen ›Ort der Bilder‹ oder ›homo pictor‹ (Hans Jonas) auffasst, um die bildliche Repräsentation als das ursprünglichste Spezifikum des Menschseins zu profilieren. Aber sie täte dies aus dem eigenen Interesse und Ansinnen ihrer dogmatischen Lehrbildung heraus im Rahmen einer originären Spielart von Imagination und Bildlichkeit als religiöse Lebens- und theologische Reflexionsform – gleichsam auf den Flügeln der Einbildungskraft, über die hinaus sich im Menschen ohnehin nichts Höheres vorstellen lässt.

Literaturempfehlung

Markus Firchow: Das freie Spiel der Bilder. Vernunft und Fantasie bei Schleiermacher (MThSt 133), Leipzig 2023.

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