Fantasie für den Frieden? 3 plus 7 Fragen an Margot Käßmann

„Nichts ist besser geworden.“– Die beliebte Bestsellerautorin Margot Käßmann über pragmatischen Pazifismus, Spiritualität und »soft skills« in der Politik.

Manchmal ist eine Gestalt so prägend, dass auffällt, wenn sie bei einem Ereignis nicht dabei ist. So beim Kirchentag 2023 in Nürnberg: Viele Diskussionen drehten sich anschließend darum, dass Margot Käßmann nicht vor Ort war. Die frühere EKD-Ratsvorsitzende wird meist als bekannteste Theologin der Gegenwart vorgestellt – was wohl auch zutrifft.

Jedenfalls so bekannt, dass überlegt wird, eine Generation nach ihr zu nennen. Gäbe es diese Generation Käßmann, wäre sie gekennzeichnet durch: Diskussionsfreude, hohes gesellschaftliches Engagement sowie die Bereitschaft, sich auch heftigem Widerspruch auszusetzen. Dass das auf viele Teilnehmer bei Kirchentagen zutrifft, ist kein Geheimnis. Friedensethik ist dabei ein wichtiges, aber keineswegs das einzige Thema – so wenig man Margot Käßmann oder Kirchentagen vorhalten kann, monothematisch unterwegs zu sein. Beide Institutionen sind vielseitige Anregerinnen, die immer wieder gesellschaftliche Debatten angestoßen und der Zivilgesellschaft damit keinen geringen Dienst erwiesen haben.

Wie bei dem Käßmann-Satz „Nichts ist gut in Afghanistan“ geht es oft um Krieg und Frieden  (beim Abzug des Militärs 2021 klangen viele Statements wie eine Bestätigung dieser Einschätzung), aber auch um andere Fragen nach Gerechtigkeit, und nicht zuletzt um eine alltagstaugliche Theologie. Auch wenn man nicht in allen Punkten übereinstimmt, ist stets eine inhaltlich weiterführende Diskussion des Für und Wider intendiert. Also eine Einübung in Diskussionskultur. Der „Typ Käßmann“ ist bereit, ein Argument auch einmal von einer zweiten Seite aus zu betrachten, sich gedanklich und real in soziale Brennpunkte und echte Krisengebiete zu begeben und ggf. auch schon für Mini-Fortschritte beachtliche eigene Lebenszeit einzusetzen. Mitbürger und Akteure, wie sie sich jeder Kommunalpolitiker wünscht. Kein Wunder, dass gerade Staatskanzleien in Zeiten schwindender Bindekräfte gut zu schätzen wissen, was sie an „Groß-Events“ wie den Kirchentagen haben. Und an Theologinnen wie Margot Käßmann, die sich auch in einer ernsten Situation den zupackenden Elan und den Humor, einmal über sich selbst zu lachen, nicht nehmen lassen wollen.

Zivilgesellschaft & Alltags-Theologie

Dabei ist ihr durchaus bewusst, in manchen Fragen eher Minderheitspositionen innerhalb der Kirche zu vertreten. Es mangelt nicht an Kritikern. Der Vorwurf einer Lifestyle-Theologie ist in der Wortwahl noch einer der harmloseren. Verteidiger machen geltend, dass eben dadurch möglich wird, dass ihr „viele zuhören“. Aber dass ihr alle alles unreflektiert nachplappern, würde sie gewiss selbst nicht wollen (Motto: Selber denken! Und folglich: Selber glauben). Margot Käßmann ist Bestsellerautorin. Auf der Website margotkaessmann.de sind an die 70 lieferbare Bücher zu finden. Darunter eines zum großen Vorbild Martin Luther King, eines zu Müttern in der Bibel sowie: Die schönsten Kinderlieder, oder über Vergebung und die Kraft des Neuanfangs (bene!-Verlag 2023). Mit ihren Publikationen hält sie klassische evangelische Leitbegriffe in der Öffentlichkeit lebendig wie Besonnenheit, Mut und Zuversicht.

Kirche soll „das Fenster zum Himmel offen halten“, wie ihre Nachfolgerin im EKD-Amt Annette Kurschus dazu passend formuliert. Als vielgelesene Theologin inkl. Sensorium für Gesellschaftspolitik trägt Margot Käßmann dazu bei. Manche witzeln: Margot Käßmann sei der evangelische Anselm Grün, nur ohne Bart. Was jedenfalls allein diese beiden Namen eindrucksvoll belegen: Dass es viel Nachfrage nach theologischer Alltagsermunterung in Deutschland gibt.

Das spiegelt auch der Kirchentag. Seit Jahren ist der Trend bemerkbar, dass wieder eine Sensibilität für Spiritualität und Theologie neben die politischen Themen tritt. Sichtbares Zeichen sind die kerzenerleuchteten geistlichen Tagesabschlüsse auf gut gefüllten großen Plätzen, wie jetzt dem Nürnberger Hauptmarkt, manche nennen es Rückkehr zum Kerngeschäft. (Dass er in Zeiten, in denen die Veranstaltungsbranche mit großen Schwierigkeiten kämpft, rund 70.000 Teilnehmer zählte – auf Katholikentagen sind im Schnitt 40.000 –, ist eine hohe Beteiligung!)

Dazu fügt sich eine weitere Seite Margot Käßmanns, die weniger bekannt ist: Ihre Konzertlesungen z.B. mit dem Altmeister der Flötenmusik, Hans-Jürgen Hufeisen, oder mit Konstantin Wecker, dem Altmeister des gesellschaftskritischen Liedes, von dem auch überliefert ist, dass er stimmungsvolle Interpretationen von Bach-Chorälen zu geben imstande ist.

1. Frau Käßmann, Ihrem einer Predigt entnommenen Satz zu Afghanistan haben später viele zugestimmt. Gibt es Chancen, dass Ihren Aussagen zur Ukraine das genauso ergeht?

Erst einmal: Ich bin abgrundtief traurig über die Situation in Afghanistan heute. Nichts ist besser geworden…

Wie wir die jetzige Lage mit Blick auf die Ukraine beurteilen werden, kann niemand vorhersagen. Mir ist wichtig, die eigene Position immer wieder auch in Frage zu stellen. Ich selbst habe mich als Pazifistin klar gegen Waffenlieferungen geäußert. Denn ich sehe in immer noch mehr Waffen keine Lösung, sondern eine Eskalation. Aber selbstverständlich ist mir bewusst, dass ich durch eine solche Haltung schuldig werden kann an Menschen, die sich Waffen zur Verteidigung wünschen. Es wäre gut, wenn auch diejenigen, die so absolut überzeugt argumentieren, dass nur Waffen und immer noch mehr Waffen der richtige Weg sind, diese Zweifel auch einmal zulassen würden. Mir fehlen in der jetzigen Debatte neben all den Militärexperten die Diplomatieexperten. Es muss doch zuallererst darum gehen, die Waffen zum Schweigen zu bringen.

1.1. Wie könnte eine Fantasie für den Frieden in der Ukraine aussehen?

Wie ein Frieden für die Ukraine aussieht, muss ausgehandelt werden. Voraussetzung dafür aber ist ein Waffenstillstand. Derzeit wird ständig gesagt, der „Blutzoll“ müsse erhöht werden für eine gute Verhandlungsposition, ein klarer Sieg müsse her. Wenn ich an die vielen Kreuze bzw. Gräber der jungen Männer in der Region um Verdun denke, finde ich das nicht haltbar.

Meine persönliche Hoffnung ist, dass die Idee von einem Europa der Regionen, die mit der Gorbatschow-Ära entwickelt wurde, langfristig zur Umsetzung kommt. Dann geht es nicht darum, ob eine Region wie etwa Elsass-Lothringen deutsch oder französisch ist, sondern es ist eine Region in Europa. Letztes Jahr war ich zum Urlaub in Masuren. Das war mal polnisch, schwedisch, deutsch, sogar Napoleon war dort. Heute ist es polnisch. Aber es könnte einfach als Masuren eine Region in Europa sein. Dafür muss aber der Nationalismus in den Hintergrund treten.

1.2. Gibt es zwischen Radikal-Pazifismus und feurigem Militarismus gar keine Zwischenpositionen?

Auf jeden Fall. Es gibt etwa, wie der Philosoph Olaf Müller sagt, einen pragmatischen Pazifismus. Und es gibt diejenigen, die Waffenlieferungen befürworten, aber darauf drängen, dass immer der Exit einer militärischen Operation im Blick bleibt. Pazifismus kann auch niemand von jemand anderem fordern. Diese Haltung ist eine ganz persönliche Entscheidung. Allein von den Erfahrungen meiner Eltern im Zweiten Weltkrieg her, aber auch aus meinem christlichen Glauben heraus bin ich Pazifistin. Aber ich respektiere, wenn jemand eine andere Überzeugung hat. Jeder und jede muss das mit dem eigenen Gewissen in Einklang bringen.

1.3. Relativierende Aussagen zu einer Ukraine-Politik, die nur auf die militärische Karte setzt, kommen von vielen Seiten, zum Beispiel von Jürgen Habermas, dem Journalisten Heribert Prantl, bis zum Vatikan mit dem Papst an der Spitze. Eine illustre Aufzählung, in der man sich eigentlich gerne genannt sehen könnte?

Es geht nicht darum, in „illustrer Runde“ zu sein. Ich verstehe die Argumente der drei genannten auch nicht als relativierend, sie leuchten mir schlicht ein. Jürgen Habermas zeigt auf, dass wir mit unseren Waffenlieferungen auch mit in der Verantwortung stehen. Außenministerin Baerbock hat gesagt: „Unsere Waffen schützen Leben.“ Aber sie töten halt auch. Heribert Prantl erklärt, Verhandlungen könnten auch herbeiverhandelt werden. Und schließlich setzt der Papst auf Vermittlung, statt auf Konfrontation. Angesichts des Verhaltens von Patriarch Kyrill, der die Position von Wladimir Putin schrecklicherweise religiös legitimiert, ist das ein Balanceakt. Aber wer, wenn nicht der Papst sollte ihn wagen? Und ich sage das als Lutheranerin…

2. Kurzfristig waren Sie für das Amt als Bundespräsidentin im Gespräch.

Das ist schon einige Jahre her. Es ist eine Ehre, wenn die eigene Person für dieses Amt überhaupt im weitesten Sinne in Betracht kommt. Aber ich bin weder Politikerin noch Diplomatin.

2.1. Wird die Stimme der Theologie in der Politik zu wenig gehört?

Es gibt in Deutschland noch immer viele gute Kontakte zwischen Politik und Kirchen. Da sind Hintergrundgespräche, gegenseitige Einladungen und auch Anhörungen zu brisanten ethischen Themen wie etwa der Sterbehilfe. Wenn es aber um Entscheidungen geht, sind mir die so genannten „soft skills“ zu wenig vertreten. Nehmen wir die Coronakrise. An den Tischen, an denen tiefgreifende Entscheidungen getroffen wurden, waren Virologen und Wirtschaftsvertreter präsent. Wo aber waren die Experten der Familienverbände? Wo die Expertinnen aus Diakonie und Caritas, die Altenheime und Kitas repräsentieren? Die Realität von Familien, Kindern und Alten wurde viel zu wenig wahrgenommen.

2.2. Eigentlich ist Religion weltweit ja eher auf dem Vormarsch als im Rückzug begriffen, oder?

Das ist weltweit in der Tat so. Und es gilt auch für die lutherischen Kirchen. In Tansania und Äthiopien wachsen sie am schnellsten, in Deutschland bzw. Westeuropa werden sie zunehmend kleiner. Dennoch könnten die europäischen Kirchen eine wichtige Rolle spielen, weil sie gelernt haben, Aufklärung und Religion zu verbinden. Mir macht Sorge, dass in vielen Kirchen, aber auch in Islam und Judentum, Hinduismus und Buddhismus Fundamentalisten vermehrt Einfluss gewinnen. Fundamentalismus aber lebt von Abgrenzung, für ihn gibt es nur eine Wahrheit. In einer friedlichen Welt müssen gläubige Menschen respektieren, dass andere mit anderer oder ohne Religion leben. Deshalb trägt der Dialog der Religionen effektiv zum Frieden bei.

3. Würden Sie „In der Mitte des Lebens” oder „Erziehen als Herausforderung” als Ihre einflussreichste Buchveröffentlichung bezeichnen?

Was den Einfluss betrifft, kann ich das nicht einschätzen. Aber „In der Mitte des Lebens“ war von den Auflagen her bei weitem mein erfolgreichstes. Noch heute sagen mir Frauen, dass ich ihr Lebensgefühl in dieser Phase getroffen habe und das in Verbindung mit ihrem christlichen Glauben.

3.1. Haben Sie eine Erklärung, warum es vor allem spirituelle, alltagstheologische Themen sind, mit denen Sie zur Bestsellerautorin wurden?

Ich denke, es gibt schlicht eine Sehnsucht nach Sinn, Halt, Spiritualität. Bei Lesungen sagen mir Anwesende manchmal: Ihr Buch hat mich durch eine tiefe Krise getragen. Oder: Als mein Mann starb, habe ich Trost gefunden in Ihren Worten. Oder: Sie ahnen gar nicht, wie sehr Sie mich gestärkt haben, als ich eine Scheidung durchleben musste. Diese ganz persönlichen Fragen werden allzu oft kleingeredet, weggebügelt. Aber sie bewegen jeden und jede, die eine Krise durchleben. Und ich bin überzeugt, meine Glaubenstradition kann da Halt und Orientierung geben, auch für Menschen, die sich der Kirche oder traditionellen Ritualen entfremdet haben.

3.2. Mit Ihren Lesungen und Vorträgen haben Sie 2016 „gefühlt” bis auf zwei Filialen in Haselünne sämtliche Volksbanken Deutschlands gefüllt. Kommen ab 2024 auch endlich die Sparkassen zum Zuge?

Das ist interessant, denn die Volksbankenreihe kam durch eine Vorlesung in Bochum zustande, bei der ein Mitarbeiter der Volksbank Dortmund war und mich zu einem Vortrag eingeladen hat. Anschließend entstand ein „Volksbanken-Schneeballeffekt“. Ich habe die Vorträge gern gehalten, weil mich die Genossenschaftsidee von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch überzeugt. Da sind aus christlicher Überzeugung Banken nicht dem Kapital und dem Gewinn verpflichtet, sondern dem Gemeinwohl. Wenn mich eine Sparkasse einladen mag, gern. Denn auch bei ihnen zielt die Bankentätigkeit ja nicht auf Profit, sondern da ist klares gesellschaftliches Engagement angesagt.

Das Interview führte Manfred Schütz Anfang Juli 2023 auf schriftlichem Weg.

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1 Gedanke zu „<span class="entry-title-primary">Fantasie für den Frieden?</span> <span class="entry-subtitle">3 plus 7 Fragen an Margot Käßmann</span>“

  1. MAN/FRAU muss ja nicht in allem mit Frau Käßmann übereinstimmen- ihrem BekennerInnen- Mut tut es keinen Abbruch. Nach Bischof i.R. Bedford-Strohm und weit abgeschlagen der derzeitigen EKD-Vorsitzenden sehe ich niemanden, der/die sich in die gegenwärtigen Diskussionen einmischt, geschweige denn sie initiiert. Daher können wir ihr nur dankbar sein.

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