Unterwegs zum Frieden Eine komplementäre Friedensethik ist biblisch und politisch gut begründet

Die Haltungen der Gewaltlosigkeit und der Wehrhaftigkeit sollten nicht nur in ihrer Gegensätzlichkeit, sondern auch in ihrer Vereinbarkeit analysiert werden. Eine immer wieder neu zu befriedende Welt braucht Pazifisten und Soldaten.

Der deutsche Protestantismus setzt in seiner Friedensethik eine internationale Zusammenarbeit in UNO und NATO voraus, die durch den Nationalpopulismus in Demokratien und den Imperialismus autoritärer Großmächte erodiert, aber nach wie vor unersetzlich ist. Deshalb sollte er seiner „komplementären Friedensethik“, wie sie in den Heidelberger Thesen 1959 formuliert wurde, treu bleiben. Danach sind für den Weg zum Frieden einander entgegengesetzte Haltungen notwendig: Gewaltlosigkeit als das deutlichere Zeichen, Verteidigungsbereitschaft als unverzichtbar zur Abschreckung, beides zusammen als Botschaft nach innen und außen: „Wir wollen den Frieden!“ Die komplementäre Friedensethik ließ Abschreckungsbefürworter und Pazifisten kooperieren. So wie in der Innenpolitik der Gegensatz von Regierungspartei und Opposition die Freiheit sichert, so stabilisiert der Gegensatz von Soldaten und Pazifisten in der Außenpolitik den Frieden.

Seit den Heidelberger Thesen hat sich die Situation verändert. Zwar wurde aus dem Gleichgewicht des atomaren Schreckens ein Gleichgewicht ohne Schrecken, aber es muss viel getan werden, um diesen Zustand zu erhalten. Seit 1945 gab es zwar keine offiziell erklärten zwischenstaatlichen Kriege, dafür vermehrt asymmetrische Kriege in instabilen Gebieten, in denen oft Großmächte ihre Konflikte stellvertretend austragen. Das verändert die Tätigkeit von Soldaten und Friedensarbeitern.

Das Ideal: Soldaten beenden Gefechte, Zivilisten entwickeln Versöhnung

Das „Komplementaritätsprinzip“ verbindet heute weniger militärische Abschreckung und Pazifismus, als militärische Friedenseinsätze und zivile Friedensarbeit. Soldaten beenden in Friedenseinsätzen Kämpfe und schaffen Raum für politische Verhandlungen, sind aber auf Dauer nur erfolgreich, wenn zivile Friedensarbeit den Frieden stabilisiert. Diese ist oft nur wirksam, wenn Konflikte militärisch eingedämmt werden. Zivile Entwicklungshilfe ist z.T. auf den Schutz „rechtsdurchsetzender Gewalt“ angewiesen. Hier zielt die Komplementarität von Verteidigungsbereitschaft und Pazifismus also nicht mehr darauf, Atomkriege zu vermeiden, sondern lokale Kriege einzuhegen, die sich andernfalls zu weltumfassenden Konflikten ausweiten können.

Eigentlich sollten in dieser Situation Befürworter des Militärdienstes und die Militärseelsorge leichter den Wert pazifistischer Friedensarbeit anerkennen und umgekehrt Pazifisten leichter die Notwendigkeit von Militäreinsätzen akzeptieren. Das Gegenteil ist z.T. der Fall. Wer militärische Verteidigungsbereitschaft für notwendig hält, beansprucht oft exklusiv für sich eine realitätsnahe „Verantwortungsethik“ und kritisiert mitunter Friedensarbeiter als realitätsferne „Gesinnungsethiker“, „Pazifisten und Spinner“. Der Einsatz von Soldaten in Friedenseinsätzen bestärkt Militärgeistliche z.T. darin, dass Vorbehalte gegenüber einer einsatzbereiten Armee überholt sind. Umgekehrt befürchten Pazifisten nicht ohne Grund eine schleichende Remilitarisierung der Politik durch sich häufende Militäreinsätze. Katalysator für diese Polarisierung war der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr, der mit Recht kontrovers beurteilt wird. Protestantischer Friedensethik fällt es schwer, heute beide Seiten komplementär zu vereinen. Beide entwickeln eine je eigene Binnenwelt von Überzeugungen und kommunizieren oft wenig miteinander.

Gottes Ziel einer kriegsfreien Welt und das menschliche Handeln in ihr

Unser Buch Militärseelsorge – das ungeliebte Kind protestantischer Friedensethik? macht den Versuch, die komplementäre Friedensethik des Protestantismus biblisch neu zu begründen und beide Seiten zusammenzuführen. Es vertritt die These, dass Teile einer komplementären Friedensethik in beiden Testamenten der Bibel entwickelt, aber erst in der Neuzeit kombiniert wurden: Im AT entstand der politische Friedenstraum einer durch Gott herbeigeführten gewaltfreien Welt mit einer verlässlichen Rechtsordnung. Der Friede kommt ohne militärische Siege. Offen bleibt, was Menschen zu ihm beitragen können. Im NT wird dagegen eine Ethik der Gewaltfreiheit für Menschen entwickelt. Offen bleibt, wie sie politisch wirksam werden kann.

Diese Ethik der Gewaltfreiheit ist Vorschein einer neuen Welt; die Tätigkeit von Soldaten widerspricht ihr nicht, solange die alte Welt besteht. Das AT formuliert somit das politische Ziel jeder Friedensethik: eine von Kriegen freie Welt; das NT konkretisiert einen möglichen Weg dorthin, lässt aber kein politisch realisierbares Ziel erkennen. Es akzeptiert Soldaten in der Gegenwart und hofft auf ein gewaltfreies Reich Gottes in einer schon jetzt beginnenden Zukunft. Beide Ansätze wurden erst in der Gegenwart kombiniert, als der gewaltfreie Weg zum Frieden Teil einer komplementären Friedensethik wurde. Diese bejaht zur Erhaltung des Friedens eine defensive militärische Abschreckung, aber ebenso den Pazifismus. Erst die Gefahr eines atomaren Kriegs hat beide Seiten zusammengeführt.

Friedensethik bei Jesus und Paulus

Das NT entstand in der vergleichsweise friedlichen Zeit der pax romana, ist aber durch politische Spannungen und besonders den Jüdisch-Römischen Krieg geprägt. Jesu Ethik des demonstrativen Gewaltverzichts hat eine politische Dimension: Gewaltverzicht wurde zu seiner Zeit erfolgreich von Juden gegen Pilatus (ca. 26 n.Chr.) eingesetzt und kurze Zeit nach Jesus gegen den syrischen Statthalter Petronius (39/40 n.Chr.). Im zweiten Fall wurde ein Krieg verhindert. Ebenso verwarf Jesus eine Kampagne zur Steuerverweigerung, die zu einem Aufstand gegen Rom anstachelte. Wir finden schon bei ihm eine komplementäre Friedensethik. Sie erkennt den Staat an, auch dessen Recht auf Steuern als „Zwangsabgaben“. Aber sie ist demonstrativ gewaltfrei. Jesu Verkündigung hatte politische Relevanz. Das Lukasevangelium sagt: Hätte man auf sie gehört, wäre der Jüdische Krieg vermieden worden (Lk 19,41–44).

Jesu Ethik erkennt den Staat an, ist aber demonstrativ gewaltfrei.

Paulus formuliert seine Gedanken zu Gewalt und Frieden im Brief an die römische Gemeinde, in dem er von allen Menschen fordert, dass sie sich „übergeordneten Instanzen“ (Röm 13,1) unterordnen, die legitim Gewalt ausüben. Er schweigt unüberhörbarer vom Kaiser, der in Rom residierte. Die „übergeordneten Instanzen“ sind republikanische Ämter, das Kaiseramt war eine Kombination dieser Ämter. Legitim ist für Paulus die Gewalt, die republikanisch kontrolliert ist. Sie wurde in Rom durch Prätorianer ausgeübt, deren Polizeiaufgaben in Rom von den militärischen Aufgaben der Legionen in den Provinzen getrennt wurden. Wer sich der Ordnung in Rom widersetzt (hier denkt Paulus auch an Kaiser wie Gaius Caligula, der die republikanische Ordnung verletzte), zieht sich selbst das Gericht zu: Gaius wurde durch einen Präfekten der Prätorianer getötet. Mit Röm 13 kann man rechtsdurchsetzende Gewalt der Polizei legitimieren, nicht aber Kriege.

Staatsethos der Macht und Gemeindeethos der Liebe

Das NT kennt neben dieser staatlichen Gewalt, die es akzeptiert, auch staatliche Gewalt, die es ablehnt: In der Johannesapokalypse ist der Staat ein widergöttliches Tier, das sich von einem zweiten Tier im Kaiserkult propagandistisch legitimieren lässt (Apk 13). Hier wird staatliche Gewalt nur von einer einzigen Person kontrolliert. Daher gibt uns das NT indirekt ein Kriterium zur Beurteilung staatlicher Gewalt: Sofern sie durch mehrere Instanzen kontrolliert und an das Recht gebunden bleibt, kann sie legitim sein. Sofern sie absolutistisch von Einzelherrschern ausgeübt wird, ist sie verwerflich.

Auch bei Paulus finden wir im Übrigen eine komplementäre Ethik: Er umgibt die Staatsparänese mit Mahnungen zur Liebe. Christen sollen auf „Rache“ verzichten, da sie allein Gott vorbehalten sei (Röm 12,19–21). Der Staat muss dagegen „Rache“ an Übeltätern üben (Röm 13,4). Das Staatsethos der Macht und das Gemeindeethos der Liebe stehen in Spannung zueinander. Beide arbeiten komplementär. Gewaltverzicht wirkt nur dort als Botschaft, wo das Gute durch Gewalt durchgesetzt werden könnte, aber auf diese Möglichkeit demonstrativ verzichtet wird.

Verteidigungsbereitschaft und Pazifismus – zwei Seiten der Medaille Frieden

Das biblische Nebeneinander von kontrollierter Gewaltausübung und demonstrativem Gewaltverzicht blieb in der Kirchengeschichte erhalten. Hin und wieder begegnet sogar die Erkenntnis, dass beide komplementär aufeinander angewiesen sind. Gewaltverzicht wurde freilich nur in kleinen Gruppen praktiziert, in katholischen Mönchsorden und protestantischen Freikirchen. Vorübergehend errichteten die Quäker in Pennsylvanien 1681–1756 eine staatliche Ordnung, die pazifistisch den Krieg ablehnte. In der Gegenwart aber wurde dieses gewaltfreie Ethos Teil der komplementären Friedensethik des Protestantismus und die militärische Verteidigungs- und Einsatzbereitschaft der ergänzende Teil, weil man nur so die Gefahr eines atomaren Kriegs reduzieren konnte.

Die Gefahr ist, dass sich Befürworter und Gegner des Militärdienstes gegeneinander verbarrikadieren.

Der gegenwärtige Protestantismus sollte dieser biblisch inspirierten komplementären Friedensethik in einer veränderten Situation treu bleiben. Die Gefahr ist heute, dass sich die beiden „Lager“ im Protestantismus in ihren Überzeugungen gegeneinander verbarrikadieren: Die Militärseelsorge ist schon jetzt eine ecclesiola in ecclesia, steht aber in Gefahr, eine ecclesiola extra ecclesiam zu werden – mit z.T. wenig Verständnis für Pazifisten. Ein „Radikalpazifismus“ ohne komplementäre Bejahung der Bundeswehr ist derzeit auch keine Lösung. Denn wir können in unserer Welt auf rechtsdurchsetzende Gewalt – bis auf Weiteres auch in Form militärischer Einsätze – leider nicht verzichten.

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Thonak/G. Theißen: Militärseelsorge – das ungeliebte Kind protestantischer Friedensethik. Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 25, Münster: LIT 2020, 261 S.

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