Veganismus Vorübergehender Hype oder gesellschaftliche Umorientierung

Die Zahl der Menschen in Deutschland, die sich selbst als Veganer*innen bezeichnen oder weitgehend auf Fleisch verzichten, wächst. Welche Gründe bei der Entscheidung für eine vegane Ernährungsweise leitend sind, erklärt Matthias Rohra, der Geschäftsführer von ProVeg e.V (proveg.com/de).

Warum ist die pflanzliche Ernährung aus Ihrer Sicht „gut für alle Menschen, Tiere und unseren Planeten“, wie Sie auf Ihrer Homepage schreiben?

M.R.: In der aktuellen globalen Krise ist eine Ernährung, die Klima und Umwelt schont, eine gute Entscheidung. Problematisch sind zum Beispiel die Emissionen von Methan, einem besonders klimaschädlichen Treibhausgas, aus der Haltung von Wiederkäuern. Problematisch ist zudem die Nitratbelastung unseres Grundwassers durch die Überdüngung mit Gülle. Und problematisch ist der hohe Bedarf an landwirtschaftlichen Flächen für die Produktion von Futtermitteln. Unser Planet kann bestenfalls eine flexitarische Ernährung verkraften, hat die internationale EAT-Lancet-Kommission ermittelt, die die Planetary Health Diet entwickelt hat.

Eine gute Entscheidung ist außerdem eine Ernährung ohne Qualen für nicht-menschliche Lebewesen. Als Gesellschaft halten wir es für wichtig, unseren Kindern einen verantwortungsvollen Umgang mit Tieren beizubringen. Haustiere betrachten viele als Familienmitglieder. Aber wie erging es dem Schwein, das nun auf dem Teller liegt? Wie ist das Frühstücksei entstanden? Hier kommen harte Prinzipien der Massenproduktion zum Tragen. Viele, vor allem jüngere Menschen, wollen das händeringend ändern.

Eine Ernährung, die häufigen Zivilisationskrankheiten vorbeugt, ist ebenfalls eine gute Entscheidung. Diabetes Typ 2, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Adipositas haben allesamt einen nachweisbaren Ernährungsbezug. Und wer hat im Familien- und Freundeskreis nicht eine Person, die an einer dieser Krankheiten leidet? Eine pflanzenbetonte Ernährung mit vielen Ballaststoffen kann dagegen eine Form der Prophylaxe bieten.

Eine gute Entscheidung ist schließlich eine sichere Ernährung. Allein in Deutschland werden etwa 60% der Agrarflächen für den Anbau von Futtermitteln genutzt – zumeist in Monokulturen, die die Böden auslaugen. Wir verfüttern also, was wir weltweit für die menschliche Ernährung brauchen, und bauen zu wenig Hülsenfrüchte an, die unsere Böden über ihre Wurzeln langfristig fruchtbar halten können. Kurzum: Pflanzen auf dem Teller schaffen Zukunft – für alle.

Warum ist es aus Ihrer Sicht für Veganer*innen wichtig, gar keine tierischen Produkte zu konsumieren, statt „nur“ auf Produkte zu verzichten, für die Tiere leiden und sterben müssen?

M.R.: ProVeg ist eine Ernährungsorganisation, die Alternativen zu Nahrungsmitteln aus der Tierhaltung fördert und unser Ernährungssystem für die Zukunft aufstellen will – mit und in großen Teilen durch die Flexitarier*innen. Statt Vorschriften brauchen die Menschen praktische Unterstützung auf dem Weg: ein gut zugängliches Angebot in Kantinen und Restaurants, Transparenz beim Einkauf im Supermarkt, die unser Lebensmittelrecht mit den aktuellen Kennzeichnungspflichten allein nicht bietet, zielgerichtete Förderungen für Landwirt*innen. Dabei zählt jeder Schritt.

Die systemischen Zusammenhänge sind komplex und schwer durchschaubar: Auch für Käse leiden Milchkühe und sterben Kälber, auch einige Säfte werden mit Gelatine aus Knochen geklärt. Strenge Anforderungen stellt deshalb das V-Label, damit möglichst viele Menschen bewusst wählen können, wenn es um ihr Essen geht. Tierethik kann dabei leitend sein, muss es aus der Sicht von ProVeg aber nicht.

Wie ist Ihr Eindruck, warum entscheiden sich Menschen dafür, sich vegan zu ernähren? Sind es eher gesundheitliche Gründe, tierethische Überlegungen oder noch andere Aspekte, die eine Rolle spielen?

M.R.: Pflanzliche Gerichte und Produkte sind für alle da. Auch Flexitarier*innen greifen gern zu pflanzlichen Alternativen. Laut dem aktuellen Smart-Protein-Bericht bezeichnen mittlerweile 4 von 10 Menschen in Deutschland ihre Ernährung als flexitarisch. Die von Forsa durchgeführte Umfrage ergab, dass sogar 6 von 10 Menschen ihren Fleischkonsum reduziert haben. Hierfür sind in Deutschland drei Gründe entscheidend: Rund 50% der Befragten gaben an, dass gesundheitliche Erwägungen ausschlaggebend seien. Rund 40% nannten den Tierschutz als entscheidendes Motiv. 30% verwiesen auf Umwelt und Klima. Allerdings probieren die Menschen neue Gerichte und Produkte vor allem aus Neugierde, bestätigt der Ernährungsbericht des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft.

Ist die Frage nach einer veganen Ernährungsform auch eine Kostenfrage?

M.R.: Wer auf Hülsenfrüchte, Nüsse und Saaten als Proteinquellen setzt, kann mit einer pflanzlichen Ernährung sogar günstiger wegkommen. Linsen und Leinsamen, um nur zwei Beispiele zu nennen, belasten den Geldbeutel bekanntlich kaum. Wer gern Alternativprodukte verwendet, zahlt an der Kasse unter Umständen mehr.

Der Aufpreis für pflanzliche Alternativen im Vergleich zu tierischen Produkten ist aber deutlich gesunken. Unsere Preisstudie ermittelte im Herbst 2023 für einen sortimentsübergreifenden Warenkorb einen Aufpreis von 25%. Ein Jahr zuvor waren es noch 53% gewesen.

Bei den Alternativen tut sich eine Menge. Das sind gute Nachrichten, weil diese Produkte vielen Menschen ein gewohntes Geschmackserlebnis und die Vorteile einer pflanzlichen Ernährung bieten.

Sind vegane Ernährungsformen in bestimmten gesellschaftlichen Schichten und Milieus besonders verbreitet?

M.R.: Der Fleischatlas 2021 der Heinrich-Böll-Stiftung hat junge Menschen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren befragt und nur geringe soziodemografische Unterschiede zwischen Veganer*innen und Vegetarier*innen und anderen Ernährungsformen festgestellt. Auch zwischen Stadt und Land gab es kein Gefälle. Ebenso zeigte sich der Fleischkonsum weder als Ost-West- noch als Nord-Süd-Thema.

Sind es eher jüngere oder ältere Menschen, die sich dafür entscheiden, sich vegan zu ernähren?

M.R.: Im Vergleich zur Gesamtbevölkerung in Deutschland ernähren sich laut dem Fleischatlas doppelt so viele 15- bis 29-Jährige pflanzlich oder vegetarisch. Europaweit bezeichnen sich dem Smart-Protein-Bericht zufolge aber 29% der Babyboomer, 27% der Generation X, 28% der Millennials und 26% der Generation Z als Flexitarier*innen. Reduzierter Fleischkonsum ist somit ein generationenübergreifendes Phänomen.

Inwiefern kann man aus Ihrer Sicht bei Veganismus von einem gesellschaftlichen Trend sprechen und warum bzw. warum nicht? Wer sind die „Trendsetter“ bzw. die größten Treiber dieses Trends?

M.R.: Trends kennen wir aus der Mode, sie kommen und gehen. Wir aber gestalten gerade gemeinsam unser Ernährungssystem um. Das ist eine weltweite Transformation: Die diesjährige Weltklimakonferenz hat endlich das Ernährungssystem zu einem ihrer Themen gemacht, die EU verfolgt den Green Deal und Länder wie die Niederlande, Dänemark und Deutschland beginnen, die Proteinwende voranzutreiben.

Leider stellt die Politik noch viel zu selten die Weichen. Schneller sind Nahrungsmittelhersteller wie die Rügenwalder Mühle, die 2021 erstmals mehr Umsatz mit Veggie-Produkten als mit Wurstwaren gemacht hat. Oder Einzelhandelsketten wie Lidl, die ihre pflanzlichen Alternativprodukte zum Preis von tierischen Produkten anbieten. Oder die deutschen Mensen, die sich um die Auszeichnung als Planetary-Health-Mensa reißen.

Wir alle lernen gemeinsam, Ernährung neu zu denken. Ich könnte mir kaum etwas Spannenderes vorstellen.

Inwiefern unterscheidet sich die Situation in Deutschland von anderen Ländern, in denen Sie sich auch engagieren?

M.R.: Deutschland steht als größter europäischer Veggie-Markt im Zentrum dieser Entwicklung. Während die Nachfrage nach pflanzlichen Alternativen in anderen europäischen Ländern in den letzten zwei Jahren stagniert hat, ist sie hierzulande stetig gestiegen – trotz Inflation. Mit 40% hat die Bevölkerung außerdem einen besonders hohen Anteil an Flexitarier*innen – der europäische Durchschnitt liegt bei 27%. Nicht zuletzt hat der Pro-Kopf-Verzehr von Fleisch in Deutschland 2022 einen Tiefstand seit Beginn der Berechnungen im Jahr 1989 erreicht.

Das einstige Land der Würstchen und Braten – wer hätte uns das zugetraut? Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Im Moment ist Deutschland in Sachen pflanzenbetonte Ernährung aber ein klares Leuchtturm-Beispiel.

Man hat den Eindruck, dass die Bewegung die Fair-Trade-Bewegung, die ja aus anderen Gründen auf bewussten Konsum setzt, inzwischen deutlich überholt hat. Woran liegt aus Ihrer Sicht der Erfolg?

M.R.: Die Fair-Trade-Bewegung leistet wichtige Arbeit und steht keineswegs in Konkurrenz zur pflanzenbetonten Ernährung. Gerade mit Blick auf die Ernährungssicherheit sehe ich manche Schnittstellen. Der größte Unterschied ist sicherlich, dass sich der faire Handel auf ein Problem konzentriert, nämlich Gerechtigkeit für Erzeuger*innen im globalen Süden. Der reduzierte tierische Konsum kommt hingegen dem Klima und der Umwelt, der Gesundheit und den Tieren zugute und sichert die Ernährung weltweit. Da ziehen viele Bewegungen gemeinsam an einem Strang.

Das Interview führte Laura Brand auf schriftlichem Weg.

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