Tiere als Mitgeschöpfe Die wachsende Bedeutung von Tierethik in der Theologie

Obwohl der Gedanke der Mitgeschöpflichkeit zum Kern des christlichen Glaubens zählt, blieb das Potenzial für eine christliche Tierethik lange Zeit unausgeschöpft. Wird es Zeit, das Verhältnis zwischen Mensch und Tier neu zu denken und zu gestalten?

Tiere sind unsere Mitgeschöpfe, wir sind Geschöpfe wie sie – das scheint theologisch evident. Was das aber genauer theologisch und ethisch bedeutet, ist durchaus nicht evident. Lange Zeit bestand in der Theologie allerdings auch wenig Interesse daran, die damit verbundenen Fragen genauer zu untersuchen und zu diskutieren. Erst seit einigen Jahren ändert sich dies und es entwickelt sich ein theologisch-tierethischer Diskurs.

Theologie als Nachzüglerin

Die Theologie ist damit eine Nachzüglerin in der Beschäftigung mit Tieren. Das zeigt sich nicht nur im Vergleich zur Philosophie mit ihrem breiten tierethischen Diskurs, sondern auch zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen, in denen die Untersuchung des Mensch-Tier-Verhältnisses schon seit Längerem etabliert ist.

Dabei gab es in der christlichen Tradition durchaus früh und immer wieder Bestrebungen, die Rolle von Tieren in Kirche und Gesellschaft und den Umgang mit ihnen stärker in den Fokus zu rücken. So wurde etwa im Pietismus Kritik an Grausamkeit gegenüber Tieren formuliert und auf ihre Mitgeschöpflichkeit hingewiesen. Mehr noch spielte der Pietismus eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Tierschutzbewegungen – der erste Tierschutzverein in Deutschland wurde im 19. Jahrhundert auf Initiative des pietistischen Pfarrers Albert Knapp gegründet. Bis heute einflussreich für den Tierschutz ist zudem Albert Schweitzers Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben, die er ab Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Schweitzers Ansatz mag gewisse Schwierigkeiten mit Blick auf seinen Lebensbegriff oder die ethische Konkretion haben, als Plädoyer für eine andere Grundhaltung gegenüber der nicht-menschlichen Schöpfung hat er aber wichtige Impulse gegeben. Nicht zuletzt unter dem Einfluss Schweitzers haben sich auch später im vergangenen Jahrhundert wiederholt Stimmen aus Kirche und Theologie für einen besseren Umgang mit Tieren als unseren Mitgeschöpfen eingesetzt, z.B. Gotthard Teutsch oder Erich Gräßer.

Allerdings wurden derlei Bestrebungen in den christlichen Kirchen und Theologien (evangelisch ebenso wie katholisch oder orthodox) immer wieder an den Rand gedrängt und marginalisiert. Tieren wurde insgesamt wenig Bedeutung zugemessen. Entsprechend ist in vielen Tierschutz- und Tierrechtsbewegungen wie auch in der nicht-theologischen Tierforschung über längere Zeit der Eindruck entstanden, dass Theologien und Kirchen vor allem problematische Akteure im Hinblick auf den Tierschutz sind: Sie scheinen vor allem für die Legitimation gewaltvoller Herrschaft von Menschen über Tiere und für das Festhalten an tierfeindlichen Verhaltensweisen und Praktiken zu stehen. Verwiesen wird dabei beispielsweise auf die Wirkungsgeschichte des sogenannten biblischen Herrschaftsauftrags (Genesis 1,28).

Entstehung eines theologisch-tierethischen Diskurses

Seit einigen Jahren findet nun aber auch in den Theologien eine breitere Auseinandersetzung mit Tieren und Tierethik statt. Immer mehr Theolog*innen (auch hier: sowohl evangelisch als auch katholisch oder orthodox) halten es für relevant, Stellung zum Mensch-Tier-Verhältnis zu beziehen. Das betrifft zum einen grundlegende Fragen dieses Verhältnisses und ist mehr oder weniger stark mit einer Kritik an christlichen Traditionen und theologischen Konzepten verknüpft. Zum anderen werden Antworten auf konkrete Herausforderungen wie (Massen-)Nutztierhaltung, Tierversuche oder Artensterben gesucht.

Dabei unterscheiden sich die vertretenen Positionen zum Teil erheblich, so dass mittlerweile bereits von einem recht ausdifferenzierten und kontroversen tierethischen Diskurs in den Theologien gesprochen werden kann. Einen gemeinsamen Ausgangspunkt vieler Beiträge stellt auch heute der Gedanke der Mitgeschöpflichkeit dar: Tiere sind von Gott geliebte Geschöpfe, die in diesem Sinn einen Wert in sich oder eine Würde haben (wobei Letzteres schon nicht mehr zum Common Sense gehört und teilweise hinterfragt wird). Deswegen sollten Menschen Tiere als in sich wertvolle Mitgeschöpfe achten, was die Forderung eines verantwortungsvollen Umgangs mit ihnen zur Folge hat. Weitgehende Einigkeit besteht auch darin, dass dies erfordert, unnötige Gewalt gegenüber Tieren zu vermeiden. Daher wenden sich viele Theolog*innen kritisch gegen aktuelle gesellschaftliche Praktiken der Tierausbeutung wie Massentierhaltung oder Tierversuche für kosmetische Produkte. Und auch die EKD hat sich 2019 in einem Impulspapier ausgehend vom Gedanken der Mitgeschöpflichkeit für eine stärkere Berücksichtigung des Tierwohls in der Landwirtschaft ausgesprochen.

Tiere sind von Gott geliebte Geschöpfe, die in diesem Sinn einen Wert in sich oder eine Würde haben.

Viele gehen nun davon aus, dass aus theologisch-ethischer Perspektive nicht mehr als dies gefordert werden kann, nicht mehr also als eine relative Verbesserung des Tierwohls. Dies liege u.a. daran, dass das Leben in der präeschatischen Welt (d.h. in der unerlösten Welt vor dem Eschaton) nicht ohne Gewalt und Vernichtung anderen Lebens auskommt und dass Menschen sich trotz mitgeschöpflicher Gemeinschaft in kategorialer Weise von allen anderen Geschöpfen unterscheiden und diese daher in jeder von ihnen als vernünftig erachteten Weise nutzen dürfen. Dagegen plädieren einige andere dafür, tierethisch weiter zu gehen. Sie formulieren eine grundlegendere Kritik an theologischen Konzepten und Argumentationsmustern, die Gewalt gegenüber Tieren rechtfertigen. So wird etwa die angesprochene, oft mit der Gottebenbildlichkeit verknüpfte Vorstellung kritisiert, dass der Mensch sich kategorial von Tieren unterscheidet und seine Interessen daher in moralischen Fragen grundsätzlich mehr Gewicht haben. Und konkret wird deshalb jede Nutzung von Tieren, die Schmerzen und Schäden verursacht, in Frage gestellt. Demgegenüber werden Ideen etwa von einer solidarischen „Multispeziesgesellschaft“ stark gemacht, in der die Verbundenheit von Menschen und Tieren stärker gewichtet und Gemeinschaft speziesübergreifend gestaltet wird.

Wie ›radikal‹ darf theologische Ethik sein?

Solche weitergehenden Positionen werden mitunter als radikal kritisiert und geraten schnell in den Verdacht, zu moralisieren. Tatsächlich drängt sich eine in diesem Sinn ›radikale‹ Sichtweise jedoch vielen Menschen auf, wenn sie beginnen, sich intensiver mit der Situation von Tieren in unserer Gesellschaft auseinanderzusetzen – insbesondere, wenn sie mit Empathie auf das Leiden einzelner Individuen blicken (z.B. von Mutterkuh und Kalb bei der frühen Trennung in der Milchproduktion) und sich mit den rasant wachsenden Erkenntnissen der Tierforschung beschäftigen. So können Tiere nicht nur Angst haben und leiden, sie empfinden auch Freude, können empathisch sein, einige verhalten sich altruistisch und haben einen Sinn für Fairness.

Wenn man dazu den Gedanken der Mitgeschöpflichkeit so versteht, dass nicht-menschliche Geschöpfe ebenso wie Menschen von Gott gewollt und geliebt werden, erscheint eine ›radikale‹ theologische Position durchaus folgerichtig. Ob sie moralisierend wird, hängt von der konkreten Form der Kommunikation ab, per se ist sie es aber nicht: Es geht nicht darum, vormals moralisch indifferente Fragen moralisch aufzuladen, sondern darum, für eine immer schon vorhandene moralische Dimension zu sensibilisieren und das Wegschauen von (menschlich verursachtem) tierlichem Leiden kritisch zu hinterfragen. Und sicherlich geht es auch darum, daran zu erinnern, dass ein zentrales Anliegen des Christentums war und ist, sich an die Seite der Schwächsten zu stellen.

Ein zentrales Anliegen des Christentums war und ist, sich an die Seite der Schwächsten zu stellen.

In diesem Sinn haben die ›radikalen‹ Perspektiven eine wichtige Funktion: Sie zeigen auf, wo wir uns an vermeidbarer Gewalt beteiligen, und weisen darauf hin, dass es anders sein könnte und Veränderungen nicht unmöglich sind. Damit setzen sie Prozesse des Nachdenkens über Gewohnheiten und deren Veränderbarkeit in Gang.

Ausblick

Tiere als Mitgeschöpfe theologisch und ethisch anzuerkennen, bedeutet nicht nur, Stellung zu spezifischen gesellschaftlichen Fragen des Umgangs mit ihnen zu beziehen, sondern auch theologische Grundannahmen neu zu durchdenken. Dabei scheint es durchaus wichtig, auch gewissermaßen ›radikal‹ über Visionen bzw. Utopien für ein anderes Mensch-Tier-Zusammenleben unter dem Vorzeichen der Mitgeschöpflichkeit nachzudenken. Denn oftmals fehlt die Vorstellungskraft, wie es tatsächlich anders sein könnte, und damit auch die Motivation, Veränderungen in Gang zu setzen. Visionen und Utopien (wie z.B. der philosophische Entwurf Zoopolis von Will Kymlicka und Sue Donaldson) können hier nützlich sein – nicht, weil sie eine klare ethische oder politische Vorgabe machen würden, sondern weil sie Denkhorizonte eröffnen und helfen, sich vorzustellen, wie eine Mensch-Tier-Gemeinschaft auch aussehen könnte.

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