Der andere Luther-Boom Ein vorauseilender Rückblick auf 500 Jahre Reformation

Luther wirkt: Eine Analyse zum Reformationsjahr 2017 und zu den anlaufenden Vorbereitungen auf 500 Jahre Wormser Reichstag 2021.

Luther wirkt. Die Rechtfertigung des Gottlosen durch Gott allein aus Gnade hat der Leistungs- und Konsumgesellschaft viel zu sagen (Margot Käßmann). Die umwälzende bedingungslose Zusage an das um sich selbst kreisende Ich, das „Turbo-Ich“ (Juli Zeh), also den homo incurvatus in se ipsum – den in sich eingekrümmten Mensch, der unter dem tödlichen Zwang und Bann zur Selbstverwirklichung steht: „Brauchst keine Angst zu haben, es gibt, ich gebe Dir genug“, wirkt auch heute noch befreiend. Dass Dein Leben von Gott her einen guten Sinn erhalten kann… All das sind Aussagen, die zeigen: Luther wirkt.

500 Jahre Reformation wurden 2017 vielseitig begangen. Ein halbes Jahr nach Ende des Reformationsjahres könnte ein guter Zeitpunkt sein, um eine Art Zwischenbilanz zu ziehen. Dabei ist klar: 1517 war ein vielschichtiger Umbruch. Doch die geschichtlich bedeutsameren Jubiläen stehen jetzt erst an. Es sind die theologie- und ereignisgeschichtlichen Daten, in denen der Augustinermönch Martin Luther zu der (mindestens vierfachen) Ikone wurde, die er für Jahrhunderte blieb. Die Ikone für begründete Gewissensentscheidungen. Eine Ikone für Gottvertrauen, Zuversicht und Mut. Ikone der Bibel(übersetzung), der Sprache und des Wortes. Eine Ikone der Freiheit und des freien Worts. Von Wittenberg 1517 führt – über einige Stationen – ein gerader Weg nach Worms (1521).

Das Interesse

Das Interesse am Jubiläum 2017 war immens. Luther und die Reformation gab es in allen Größen… Als überdimensionales 360°-Panorama von Yadegar Asisi in Wittenberg, als 1m mittelgroße Kunstfigur des Aktionskünstlers Ottmar Hörl, gerade noch unter den Arm zu klemmen. Als leitendes Ampelmännchen (jetzt neu) in Worms. Als exklusives, aktuelles Postwertzeichen des Vatikan! Nicht unerwähnt bleiben kann natürlich der kleine Playmobil Luther in über 1,3 Millionen Exemplaren. Echt groß.

Besucherströme beschränkten sich 2017 nicht auf Wittenberg. Weitere Reformationsstätten wie Torgau oder Eisleben verzeichneten ebenso kräftigen Zustrom wie Augsburg, Erfurt oder Worms. Im Bundesland Brandenburg besuchten knapp 500.000 Gäste die Veranstaltungen von „WORT UND WIRKUNG. Luther und die Reformation in Brandenburg“. 400.000 Gäste waren es im 360°-Panorama in Wittenberg. Von 800.000 Besuchern berichteten die evangelischen Kirchen Niedersachsens. Als Hörls mobile Plastik stand Luther in Bad Hersfeld – und in Hongkong.

Einführungen zu Luther verkauften sich prächtig. Nur drei Beispiele: Petra Gerster, Christian Nürnberger: Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten. Gabriel-Verlag, 8 Auflagen; Fabian Vogt: Luther für Neugierige. Ev. Verlagsanstalt, 7 Auflagen; Schlag nach bei Luther, chrismon, 6 Auflagen. Uneinholbar war aber wieder die neu aufgelegte Lutherbibel 2017, inzwischen 720.000 Exemplare. 7,3 Millionen schalteten das ARD Biopic über Luther und Katharina von Bora ein.

Das Potenzial

Natürlich kann ein Rückblick auf ein einjähriges Gedenkjahr nur Weniges herausgreifen. Deutlich wird aber allemal das riesige Potenzial: Es gab und gibt beträchtliche Bereitschaft, sich mit dieser kirchen- und allgemeingeschichtlich bedeutsamen Epoche zu befassen.

31. Oktober 2017: Bundesweit sind am 500. Reformationstag die Kirchen proppenvoll. Teilweise werden wegen Überfüllung Festgottesdienste am selben Tag spontan „wiederholt“, weil nicht alle Besucher in das Kirchengebäude passten (z.B. Göttingen). Vielerorts bilden sich Warteschlangen vor der Kirche.

Dauerhafter Feiertag: Inzwischen haben vier weitere Bundesländer, Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen, den Reformationsfeiertag eingeführt. Damit ist der 31.10. jetzt in neun von sechzehn Bundesländern arbeitsfreier Feiertag. Initiativen zur Einführung in weiteren Ländern sind im Gange.

Bundesweit: Für den Reformationstag spricht sich in Umfragen regelmäßig eine Mehrheit von 70–80 Prozent der Befragten aus (z. B. Hessen, Niedersachsen, Bayern, … und bundesweit). Bei einer Online-Umfrage der Nordwestzeitung antworteten so 81 Prozent: „Sollte der Reformationstag immer ein Feiertag sein?“ – 9 % Unentschieden; 10 % „Nein, diesen Feiertag braucht kein Mensch“; 81 % „Ja, wir sollten uns wieder mehr mit unserer Glaubensgeschichte auseinandersetzen“ (Quelle: nwzonline.de).

Die Zwischenbilanz

Schaut man auf diese beeindruckenden Zahlen, fragt sich andererseits, warum es 2017 bei der EKD und in manchen Medien zu einer kleinen Flaute kam. Der Deutsche Kulturrat beklagt z.B. rückblickend, dass versäumt wurde, Themen wirksam zuzuspitzen. Das Reformationsjubiläum sei noch hinter seinen Möglichkeiten zurückgeblieben. Und der frühere Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen und Programmdirektor des Sender Freies Berlin, Norbert Schneider, kritisierte, dass – trotz interessanter Einzelstücke – insbesondere die Öffentlich-Rechtlichen kein Gesamtbild vermittelt hätten, das dem „Rang dieses Ereignisses für die Gesellschaft“ gerecht geworden wäre. Auch die Bedeutung für die deutsche Sprache sei weithin unterbelichtet geblieben.

Beide Kritikpunkte lassen sich fraglos auf weitere Medien und Institutionen ausweiten. Viele Stimmen sind sich darin einig, dass vom Potenzial „2017“ viel uneingelöst geblieben ist. Hier gibt es für die nächsten Jahre, z.B. im Zugehen auf Worms 2021, noch Nachholbedarf und „Spielräume“.

Im Blick auf die Landeskirchen lässt sich sicherlich von einer ungeheuren Bandbreite an Themen, nicht zuletzt in den jeweiligen Einzelgemeinden, sprechen. Weil jede Einzelgruppe mit ihrem eigenen Zugang auf das Jubiläum schaute, kristallisierte sich auch nicht das eine Großthema heraus. Vielmehr kann das Reformationsgedenken 2017 als ein Event der Multiperspektivität und der Vielseitigkeit der Zugänge resümiert werden.

Die Verwurzelung in der Gesellschaft

Das muss nicht schlecht sein. Die Reformation hat so gut wie alle Lebensbereiche erfasst (Rechtswesen, Anti-Magie…). Daher sind auch ihre Folgewirkungen ausgesprochen vielseitig. Das zeigt sich nicht zuletzt in der tiefen Verwurzelung in der Gesellschaft, die sich dann in der breiten Beteiligung niederschlug.

Das Reformationsjahr ist in der Mitte, in der Breite und in der Spitze der Gesellschaft angekommen.

Prominente zu finden, die sich ein Stück weit öffentlichkeitswirksam für den Gedenkmarathon einspannen ließen, fiel den Veranstaltern vorab offenbar nicht schwer. Ob Trainer Jürgen Klopp, Nachrichtensprecherin Gundula Gause, Filmstar Armin Mueller-Stahl oder ESA Generaldirektor Johann-Dietrich Wörner. Die Liste der ReformationsbotschafterInnen, Lutherbibel-Freunde und -UnterstützerInnen war eindrucksvoll und lang.

Unübersehbar die Veranstaltungs- und die Ausstellungsvielfalt. Das Thema bot Stoff für mindestens ein halbes Dutzend überregionale Sonderschauen noch neben den vier nationalen Sonderausstellungen, z. B. in Düsseldorf, Coburg und – nebenbei auch in New York. „Gefühlt wurde auf jedem Quadratmeter, der in Deutschland Ausstellungsfläche bot, eine Reformationsausstellung durchgeführt“, meinte ein Museumsmacher. Gerade von den vielen kleinen und mittleren Schauen sollen wenigstens drei erwähnt sein: Die filigrane Dioramen-Wanderausstellung aus Halberstadt (100.000 Besucher), Michael Triegel, Logos und Bild, Leipzig (40.000 Besucher), Lutherhaus Eisenach (70.000 Besucher). Das Pop-Oratorium Luther spielte in 14 Städten vor ausverkauften Hallen (inklusive ZDF-Übertragung spätabends knapp 2 Millionen Teilnehmer).

Das Reformationsjahr ist in der Mitte, in der Breite und in der Spitze der Gesellschaft angekommen. Veranstaltungen fanden im Europaparlament in Brüssel genauso statt wie im Freizeit- und Europapark Rust.

Angesichts der breiten Verwurzelung fragen nicht wenige erst recht, wie sich die planerischen Defizite (notwendiger „Nachtragshaushalt“) in der EKD erklären lassen. Es gibt ein Raunen, das vom Vorwurf eines defizitären Managements der Synoden bis zu einer EKD-eigenen „Defizit-Theologie“ reicht. (Eine gewisse spirituelle Verarmung der EKD hat etwa der jetzige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble moniert.)

Deutlich wurden Defizite beim Kirchentag 2017. Als Höhepunkt des Lutherjahres angekündigt, blieb die Reformation im Programmheft noch seltsam unentwickelt. Wenn man zum 500. Jubiläum seine Wurzeln so lausig verschämt verschmäht, darf einen gar nichts wundern… Dabei lautet die Regel: Ohne Luther – kein Evangelischer Kirchentag! Als Laienbewegung fußt dessen innerkirchliche Akzeptanz und Wirkmöglichkeit schließlich schlicht auf dem alten lutherischen Grundsatz vom Priestertum aller Christenmenschen. Und schon physisch zählt der Satz. Denn ohne Luther wäre wohl selbst der Kirchentag – noch ganz katholisch.

Ohne Luther – kein Kirchentag

Im April 1518 formuliert Luther in der Heidelberger Disputation programmatisch: Gott findet das Liebenswerte nicht vor, er schafft es erst… Damit nennt er in der Wende- und Sattelzeit seiner theologischen Entwicklung eine seiner wichtigen Grundeinsichten: Nicht der Mensch soll, sondern Gott selbst will der Hauptakteur in Reformations-Angelegenheiten sein. Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man es (selbst macht oder) beobachtet, aber es kommt.

Auf dem Weg von Heidelberg nach Augsburg, wo Luther sich im Herbst 1518 erstmals auf Augenhöhe oder doch „Aug‘ in Aug’“ vor der damaligen Hierarchie verantwortet, fällt auch die zentrale Einsicht in die promissionale solo-verbo-Struktur der göttlichen Gnadenzusage: „Das Wort, das Wort, das Wort, das tut‘s“. Und zwar bedingungslos. Denn „die conditio richtet alles Unheil an“. Im Herbst 1518, also jetzt vor 500 Jahren, geschehen wichtige Weichenstellungen in der Begegnung zwischen Cajetan und Luther, die den Gang der Geschichte für Jahrhunderte bestimmen. – Luther muss nachts zu Pferde fliehen.

Weiter in der Ökumene

2017 war ein großes Jahr für die Ökumene. Beginnend mit dem Papstbesuch in Lund beim Lutherischen Weltbund, bei ev.-kath. Versöhnungsgottesdiensten, bei einer Israel-Reise von 18 ev. und kath. Bischöfen und Repräsentanten, mit einem offiziellen Briefwechsel zwischen dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz und dem EKD-Ratsvorsitzenden.

Wie vor 500 Jahren gibt es die ausgestreckte Hand von evangelischer Seite. Daher wird es (damals wie heute) darauf ankommen, dass die Anfragen der Reformation katholischerseits ernstgenommen und mehr als unter „ferner liefen“ behandelt werden. Die Chancen auch dafür stehen gar nicht schlecht. Jedes Jahr kann man am 31.10. die erfreulichen Annäherungen in der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE) von 1999 thematisieren. Auch für die Katholische Kirche ein guter Grund für diesen Feiertag! Gaudete et exsultate, ein Anlass zur Freude: 2018 ist man sich beiderseits in der Ablehnung von Semi-Pelagianismus und Krypto-Gnostizismus (antike Selbsterlösungs-Lehren) wieder ganz einig.

Das Reformationsjubiläum 2017 war auch ein Erfolg für die Ökumene (Foto: Wikipedia, Ikar.us, CC-BY-SA).

Doch 2017 gab es leider auch wieder manch reflexhaften Rückfall in längst überholt geglaubte Abwertungsmuster und Pauschalverurteilungen z. B. der Person Martin Luthers. Dabei müsste jedem röm.-kath. Ökumeniker viel an Luther gelegen sein. Oder wollte man stattdessen lieber versuchen, auf Basis der Lehren eines N.N. (hier bitte beliebig den Namen eines Reformationstheologen einfügen, den Sie kennen, Karlstadt, Müntzer…), eine Einigung zu erzielen? Und auch evangelischerseits dürfte jedem, der den rund 70-jährigen Ökumene-Dialog rekapituliert, mehr als deutlich sein, dass man ohne die solide lutherische Theologie kaum zu Fortschritten in der Lage gewesen wäre oder zukünftig wäre.

Und ist nicht bei genauem Zusehen die Ausgangsfrage Luthers – wie bekomme ich Zugang zu Gottes Gnade, Zugang zu einem gnädigen Gott? – eine urkatholische Frage. Ganz sicher! Und ist es nicht die Gottesfrage, die auch heute wieder ganz unvermittelt in den Fokus rückt? Denn was heißt einen Gott haben? Ein Gott oder Götze ist alles das, worauf sich letztverbindlich ein Mensch verlässt, sagt Luther.

Das kann ganz bieder das volle Bankkonto und der pralle Geldbeutel sein, also der Götze Mammon (Mt 6), was recht verbreitet ist. Es kann ebenso das Spekulieren auf Ansehen, Erfolg und Ruhm, die zeitliche Existenz überdauernden Nachhall sein. Das Turbo-Ich kreist und rotiert um Selbsterhalt, Selbstoptimierung, Selbsttranszendenz, oft gnadenlos und gierig. Die Zusage und Rede von einem gnädigen Gott, der alles Nötige ganz freigiebig und reichlich gibt, zu-sichert und erfüllt, kann da echt heilsam sein.

Dass „Trauen und Glauben“ (Luther) fundamentalanthropologisch zusammengehört und auf diese Weise Götter und Götzen entstehen, leuchtet ein. Oft muss man nur wenige Worte austauschen und die Luthertexte sprechen unmittelbar in heutige Zeiten. Wie für Luther ja generell gilt, omnia vocabula in Christo novam significationem accipere: In Christus werden alle Worte, wird alle Sprache, wird alles Reden von Gott und der Welt noch einmal ganz neu und anders.

Ein neues Reden

Dieses neue Reden gilt es (wieder) neu zu lernen. Gewissermaßen die göttliche Grammatik, die sich von einer sonst üblichen Grammatik doch etwas unterscheidet. Es ist zugleich die Sprache der biblischen Geschichten. Die oft auch für sich selbst sprechen, wie die Gleichnisse Jesu – die Alltagsbilder verwenden und doch Grundstürzendes erzählen, neue Welten erschließen, zusagen und konstituieren – für sich selbst sprechen (können).

Eben darin besteht das reformatorische Lehr- und Bildungsprogramm! Christsein und Theologiestudium sind gleichermaßen als eine Einübung ins Bibelstudium gefasst. Das hält es frisch und aktuell. Hier steht eine Wiedergewinnung an, ein neues In-den-Alltag-hinein-Auslegen. Dabei dürften sich auch manche konfessionell überkommene Vexierfragen des Mittelalters auf ganz subtile Weise in der Zuwendung zur Gegenwart auflösen.

Die Reformation ist eben nicht nur Pionier der Schulpflicht für Mädchen und Jungen. Dass Philipp Melanchthon (Ehrentitel: Praeceptor Germaniae – Lehrer Deutschlands) in Nürnberg die Schulordnung für das erste Gymnasium, einen wegweisenden Schultyp, konzipierte, darf man ja einmal erwähnen. Und die Wittenberger Universitätsreform in ihrer Hochschätzung von Philologie und Sprachen (Hebräisch-Lehrer werden angestellt; Sprachen als Schlüssel zu den Quellen) machte Wittenberg zum progressiven Studienort und sorgte für einen Studenten-Boom aus ganz Europa, und wieder hinaus.

Internationale Perspektiven

Der Europäische Stationenweg von Edinburgh bis Wien führte im Winterhalbjahr 2016/17 denn auch durch 67 Städte, in der Tat eine schöne Erinnerung, dass die Reformation längst Weltbürgerin ist. Die Weltwirkung der Reformation ist deutlich auch etwa in Japan, Finnland, Dänemark. Ebenso USA und Großbritannien, die ohne Einflüsse und Abstammung von der protestantischen Familie eine andere Entwicklung genommen hätten. Spannend ist Brasilien. In diesen und vielen anderen Ländern wirkt das Erbe der Reformation, teilweise direkt, teilweise gebrochen, teilweise einer aktualisierenden Neubelebung entgegengehend, bis heute: Luther wirkt.

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